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Große Werke der Literatur XIV


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– Schatten von Bäumen, wie man hinzudenken kann – übergehen. Das wäre „süß“ – ein Adjektiv aus der Welt der Idylle,10 aber auch aus der Welt des Kindlichen. Der süße Schlummer unter Schatten: Ein harmloses, weinseliges, idyllisches Bild, würde die Formulierung „unter Schatten“ für die Zeitgenossen nicht auch die Vorstellung aus der antiken Mythologie und Literatur aufrufen, wonach die Verstorbenen als umbrae oder simulacra, als „Schatten“11 in der Unterwelt leben. Es heißt auch „unter Schatten“, nicht ‚im Schatten‘ oder ‚unter dem Schatten‘. Das „Reich der Schatten“ war im 18. Jahrhundert ein gängiger Ausdruck für die antike Unterwelt. In Hölderlins Gedicht An die Parzen wird die Unterwelt, der „Orkus“, als „Schattenwelt“ (V. 9) imaginiert.12 Daher verbirgt sich im Wunsch, unter Schatten zu schlummern, ein Todeswunsch. Dafür spricht auch die Wendung vom „duftenden Becher“, die auf den Becher des Sokrates anspielt, aus dem er das tödliche Gift zu trinken hatte.13 Schließlich ist Dionysos als Vegetationsgott nicht nur der Gott des Weines, der Feier, des Rausches, der Befreiung, der Wanderung über Kontinente hin, sondern auch der Gott des Todes. So geht aus der dionysischen Landschaft von Bordeaux, den goldenen Träumen, den einwiegenden Lüften, dem duftenden Becher, den Schatten die Welt der Griechen hervor, die Welt des dionysisch dunklen Lichts. Es ist eine Welt des Todes, in die sich das Subjekt zu verlieren droht.

      Der „Wunderwelt“14 der Griechen galt die lebenslange Liebe Hölderlins. Griechenland war ihm das Land der Demokratie, der Menschlichkeit und der Kunst. Wie wohl keiner sonst der europäischen Griechenlandverehrer hat er das solcherart verklärte antike Griechenland geliebt. Gleichzeitig hat Hölderlin in dieser Liebe zum antiken Griechenland etwas Pathologisches wahrgenommen, eine Liebe zu Toten. Eine „Todeslust“ hat er auch den Griechen selbst zugeschrieben.15 Die frühe Hymne Griechenland endet mit der Strophe

      Mich verlangt ins ferne Land hinüber

      Nach Alcäus und Anakreon,

      Und ich schlief’ im engen Hause lieber,

      Bei den Heiligen in Marathon;

      Ach! Es sei die letzte meiner Tränen,

      Die dem lieben Griechenlande rann,

      Lasst, o Parzen, lasst die Schere tönen,

      Denn mein Herz gehört den Toten an.16

      In ihrer Tiefenanalyse eine, soweit ich sehe, im europäischen Klassizismus singuläre Position!17

      Der Konjunktiv II von „süß/Wär‘ unter Schatten der Schlummer“ drückt eine Sehnsucht, eine Versuchung, sich aufzugeben, aus, aber auch schon eine Distanzierung. Von dieser Versuchung löst sich das lyrische Subjekt dann abrupt:

      Nicht ist es gut

      Seellos von sterblichen Gedanken zu sein. Doch gut

      Ist ein Gespräch und zu sagen

      Des Herzens Meinung, zu hören viel

      Von Tagen der Lieb,

      Und Taten, welche geschehen.

      Die Negationspartikel steht, wie abwehrend, in der syntaktischen Spitzenstellung: Nicht! Dieser Vers steht in der Mitte des Gedichts. „Sterbliche Gedanken“ sind Gedanken an Sterbliches, Gedanken an den Tod und an Tote. Das Attribut in Linksstellung hat die Funktion eines präpositionalen Attributs in Rechtsstellung.18 In rhetorischer Terminologie liegt wieder eine Metonymie vor, analog zu „langsamen Stegen“. Diese „sterblichen Gedanken“ bewirken eine ,Seellosigkeit‘. Was könnte „seellos“ bedeuten? Implizit geht diese Bedeutung aus dem Kontext hervor. Gut wird der Austausch im Gespräch genannt, das Sagen des „Herzens Meinung“, das Hören von „Tagen der Lieb‘“ und „Taten, welche geschehen“. „Meinung“ bedeutet auch noch ‚Glaube‘ und ‚Liebe‘. „Freiheit, die ich meine, / Die mein Herz erfüllt“, dichtete 1812 Max von Schenkendorf. Sacht werden die Liebe und die Taten auch als Vorgänge der Natur und der Geschichte vorgestellt, „Tage“ der Liebe, Taten, „welche geschehen“.19 „Seellos“ bedeutet dann die Verlorenheit in den Gedanken an den Tod, das Nur-auf-sich-Bezogene, das Sich-Abschließen vom Gespräch, vom Austausch mit anderen und von den Geschehnissen der Gegenwart – Eine Art lebendiger Tod. In der Ode Ermunterung verwendet Hölderlin den Ausdruck „seelenvolle“, einen Gegenausdruck zu „seellos“. Der „Otem“ der Natur wird der „Alleserheiternde, seelenvolle“ genannt (V. 11–12). Er ist seelenvoll, da er empathisch alles ‚erheitert‘, d.h. klärt und freudig stimmt, auch das „du“, das zuvor mit einem „kahl Gefild“ (V. 10) verglichen wird.

      Nun hat man schon länger darauf aufmerksam gemacht, dass der Ausdruck „sterblichen Gedanken“ dieselben Anfangsbuchstaben enthält wie ‚Susette Gontard‘.20 Ist diese Übereinstimmung intendiert, dann läge hier der geheime Impuls für die auffallenden Paarbildungen im Gedicht, dann läge darin auch eine Mahnung Hölderlins an sich selbst, sich nicht in den Gedanken an den Tod Susettes zu verlieren.

      Die Reflexion des lyrischen Subjekts darüber, was nicht gut ist und was gut ist, führt zur Wendung auf die eigene Situation:

      Wo aber sind die Freunde? Bellarmin

      Mit dem Gefährten? Mancher

      Trägt Scheue, an die Quelle zu gehen;

      Es beginnet nämlich der Reichtum

      Im Meere. Sie,

      Wie Maler, bringen zusammen

      Das Schöne der Erd’ und verschmähn

      Den geflügelten Krieg nicht, und

      Zu wohnen einsam, jahrlang, unter

      Dem entlaubten Mast, wo nicht die Nacht durchglänzen

      Die Feiertage der Stadt,

      Und Saitenspiel und eingeborener Tanz nicht.

      Gefragt wird nach einem besonderen Paar von Freunden: Bellarmin und sein Gefährte. Hölderlin hat seinen Freund Isaak von Sinclair als Bellarmin angedichtet, wie aus den Entwürfen zum Gedicht An Eduard hervorgeht.21 Dann wäre der Gefährte, da wir einen anderen Freund Sinclairs nicht kennen, Hölderlin selbst. Dies ergibt keinen Sinn. Der Leser von Hölderlins Roman Hyperion oder Der Eremit in Griechenland wird an das Paar Hyperion und Bellarmin denken. Der Roman besteht hauptsächlich aus Briefen dieses Hyperion, dessen Name Griechisches konnotiert, an Bellarmin, dessen Name Französisches (bel, von beau: schön), Kriegerisches (lat. bellum: Krieg) und Germanisches (Arminius/Hermann der Cherusker) konnotiert. Was bedeutete es aber, wenn literarische Figuren als Freunde apostrophiert werden? Das lyrische Subjekt wäre dann ein einsames Subjekt, ohne reale Freunde. Aber vielleicht kommt es nicht auf diese Verbindung zum Roman an, sondern einfach darauf, dass das lyrische Subjekt von Freunden redet, und den durch die erläuterungslose Einführung von „Bellarmin/mit dem Gefährten“22 erzeugten Effekt einer authentischen, unmittelbaren Redesituation.

      Die Freunde und, unbestimmt, „mancher“ sind offenbar aufgebrochen zu einer Meerfahrt. Es sind Schiffer, die mit ihren Waren, vergleichbar den Ausstellungen von Malern, das „Schöne der Erd“ zusammenbringen. – eine Handlung wie das Gespräch, das ja auch zusammenbringt. Im 18. Jahrhundert wurde nicht nur die ökonomische, sondern auch die kulturelle Leistung des Handels hervorgehoben. In Hölderlins Elegie Der Archipelagus (V. 72–75) wird der Kaufmann sogar mit dem Dichter verglichen:

      Siehe! Da löste sein Schiff der fernhinsinnende Kaufmann,

      Froh, denn es wehet’ auch ihm die beflügelnde Luft und die Götter

      Liebten so, wie den Dichter, auch ihn, dieweil er die guten

      Gaben der Erd ausglich und Nahes und Fernes vereinte.

      Diese Freunde „verschmähn“ auch den Seekrieg nicht. Zu dieser Zeile konnte angemerkt werden: „Die emphatische Auszeichnung der Händler als Welt-Künstler genügt offenbar nicht. Handelgeist ohne Heroismus käme in den Verdacht der schlauen Geschäftstüchtigkeit.“23 Immerhin, das Leben dieser Kaufleute war nicht ungefährlich. Ihre Lebensform, „zu wohnen einsam, jahrlang,