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Große Werke der Literatur XIV


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auf das von ihr angeregte und ermöglichte Handeln der Schiffer bezieht sich das Subjekt, emotional, beobachtend, reflektiert und reflektierend zugleich. Diesen Wind fordert das Subjekt „nun“ auf, zu gehen und die Schiffer zu grüßen.

      Stilistisch fällt die Vokalfüllung in „wehet“ und „verheißet“ auf. Später dann: „hingehet“, „hinschauet“, „denket“, „ Hofe“, „wächset“, „beginnet“, „ausgehet“, „nehmet“, „bleibet“. Dies entspricht einem Gebrauch in der Literatursprache Ende des 18. Jahrhunderts, z.B. bei Klopstock oder in den Homer-Übersetzungen von Voß.4 Darin kann man aber auch, wie der Augsburger Brecht am Beispiel von Hölderlins Übersetzung der Antigone, einen schwäbischen Tonfall erkennen.5 Bei Klopstock finden sich auch Formen wie „ein edel Paar“ statt ‚ein edles Paar‘. Die apokopierten Ausdrücke „edel“, „Mühl“, „Erd“, „Spitz“, „Lieb“ sind Formen sowohl der dialektalen Umgangssprache wie der Literatursprache. Der umgangssprachlichen Syntax nähern sich auffällig die Verse „wo nicht die Nacht durchglänzen / Die Feiertage der Stadt, / Und Saitenspiel und eingeborener Tanz nicht.“ Eine antikische Aura umgibt in der vierten Strophe die Ausdrücke ‚der geflügelte Krieg‘, also, die Segel metaphorisch als Flügel verstanden, der Seekrieg mit Segelschiffen, und der ‚entlaubte Mast‘, ein Pleonasmus, der das Auf-sich-Bezogene, Asketische dieser Situation auf dem Meer herausstellt. Insofern blenden diese Stilmittel zwei sprachliche Register ineinander, ein ‚hohes‘ mit antiken Konnotationen und ein umgangssprachliches, ‚niedriges‘ Register.

      Der Nordost ist der Wind, der von Nordosten nach Südwesten weht. Dieser Südwesten wird nun in den folgenden Zeilen lokalisiert. Es ist Bordeaux und die Landschaft um Bordeaux. Es fällt auf, dass die Erinnerung sich nicht auf das Großstädtische oder den Hafen von Bordeaux richtet, sondern auf eine eher ländliche Szenerie: die Gärten, das scharfe, d.h. steil abfallende Ufer, der Bach, der Ulmwald, die Mühle, der Hof, der seidne Boden, die Stege, die Weinberge. Nach Jean-Pierre Lefebvre beziehen sich diese Angaben auf Lormont, damals ein Dorf am anderen, östlichen Ufer der Garonne.6

      Geh aber nun und grüße

      Die schöne Garonne

      Und die Gärten von Bourdeaux

      Dort, wo am scharfen Ufer

      Hingehet der Steg und in den Strom

      Tief fällt der Bach, darüber aber

      Hinschauet ein edel Paar

      Von Eichen und Silberpappeln.

      Das lyrische Subjekt fordert den Nordost auf „nun“ zu gehen und die „schöne Garonne“ und die „Gärten von Bourdeaux“ zu grüßen. Mit den „Gärten“ sind die Parks, die jardins publiques, in Bordeaux und wohl auch die Weingärten um Bordeaux gemeint. Die Konjunktion „aber“ in „Geh aber nun“ hat keine oder nur eine schwache adversative Bedeutung, markiert vielmehr, wie häufig in der Umgangssprache und bei Hölderlin, den Beginn einer neuen Sprechsequenz.

      Ein besonderer Ort wird im Andenken evoziert, ein scharfes Ufer, an dem ein Steg hingeht, ein Bach, der tief in den Strom fällt, darüber ein Paar von Eichen und Silberpappeln. Eichen, Pappeln und Ulmen, sie werden in der nächsten Strophe genannt, werden auch in der Beschreibung einer Reise erwähnt, die der Bruder von Hölderlins Patron in Bordeaux, der hamburgische Domherr Friedrich Johann Lorenz Meyer, 1801 nach Bordeaux machte.7 Das lyrische Subjekt verfügt über eine genaue Ortskenntnis, besagen diese Angaben, es kennt Bordeaux aus eigener Anschauung, aus eigenem Erleben. Es war einmal da. Auf diesen ‚autobiographischen‘ Effekt kommt es auch an. Hier, im Gedicht, wird die Stadt auch mit dem älteren Namen Bourdeaux genannt (abgeleitet von lat. Burdigala), der Ende des 18. Jahrhunderts auch sonst noch verwendet werden konnte. Durch diesen Namen erhält die Stadt eine Aura des Alten, zugleich deutet das Subjekt ein vertieftes Wissen an, eine besondere Kenntnis der Stadt (in den Briefen schreibt Hölderlin ‚Bordeaux‘).

      Als Leser schließt man, dass dieses Subjekt identisch ist mit dem Verfasser, dass dieser Verfasser Bordeaux aus eigenem Erleben kennt. Man muss zu seinem Verständnis nicht wissen, was sein Verfasser, Friedrich Hölderlin, in Bordeaux alles erlebt hat. Doch kann dieses Wissen natürlich heuristisch genutzt werden, um Bedeutungen im Gedicht zu finden, die man sonst vielleicht übersehen hätte. Also werde ich kurz den biographischen Hintergrund skizzieren. Er ist auch für sich interessant.8

       II.

      Bordeaux! Die Stadt liegt im Südwesten Frankreichs, an der Garonne, die sich wenige Kilometer flussabwärts mit der Dordogne zur Gironde vereinigt. Bordeaux, das ist die Stadt des Handels, die Stadt Montaignes und Montesquieus und, während der Revolution, die Stadt der Girondisten, so genannt nach der Gironde. Die Girondisten bildeten in der französischen Nationalversammlung eine gemäßigte demokratische Fraktion. Sie verfolgten liberale, föderale, reformistische und kosmopolitische Ziele und favorisierten eine repräsentative Demokratie. Sie setzten sich für die Gleichberechtigung der Frauen und die Aufhebung der Sklaverei ein. Die meisten deutschen Anhänger der französischen Revolution, auch Hölderlin, waren Sympathisanten der Gironde. Die Guillotinierung der Girondisten durch die Jakobiner in Paris war ein Schock für diese deutschen Revolutionssympathisanten.1 In Bordeaux selbst wurden 1793–1794 fast 600 Anhänger der Gironde guillotiniert.

      Bordeaux war eine große, bedeutende und reiche Handelsstadt. 1801 wurden 91000 Einwohner gezählt. Gehandelt wurde mit Wein – natürlich dem roten Bordeaux – und Kolonialprodukten aus den westindischen Inseln: mit Kaffee, Zucker, Indigo und nicht zu vergessen mit Sklaven. Ein Großteil des Handels ging in die Hansestädte und nach Preußen, getragen von einer colonie allemande protestantischer Kaufleute, unter ihnen Daniel Christoph Meyer, ein Kaufmann aus Hamburg. Er lebte seit 1770 in Bordeaux. Meyer war der offizielle Repräsentant der Hamburger Handelshäuser in Bordeaux. Mitte der 1790er Jahre hatte er sich an einer zentralen Allee ein prächtiges, klassizistisches, heute noch existierendes Palais errichten lassen.2

      Dieser Meyer hatte einen „Hauslehrer und Privatprediger“ (461) für seine Kinder und seine Familie gesucht. Zugesagt wurde für die Stelle ein stattliches Gehalt und Geld für die Reise. Die Stelle war im Herbst 1801 Hölderlin durch einen Bekannten und entfernt Verwandten, den Professor für klassische Sprachen am Gymnasium in Stuttgart, Friedrich Jakob Ströhlin (und wohl auch durch Hölderlins Freund Christian Landauer, einem Stuttgarter Kaufmann) vermittelt worden. Ströhlin war selbst längere Zeit Hofmeister bzw. protestantischer Prediger in Bordeaux gewesen. Hölderlin nahm das Angebot an. Vermutlich auf eigenen Wunsch sollte er vorläufig vom Predigen dispensiert sein.

      Die Stadt Bordeaux konnte Hölderlin gegenwärtig sein durch die Nachrichten über das Schicksal der Girondisten, aber auch durch Informationen, die er in Frankfurt, wo er als Hauslehrer im Hause des Bankiers Gontard lebte, gewinnen konnte. Die Ehefrau seines Arbeitgebers, Susette Gontard, die Frau, die er liebte und die er als Verkörperung antiker Schönheit verklärte, entstammte einer Hamburger hugenottischen Kaufmannsfamilie mit geschäftlichen und verwandtschaftlichen Beziehungen zu Bordeaux. Ihr Mann gehörte ebenfalls der französisch-reformierten Kirche an. Auch andere bedeutende Frankfurter Bankiersfamilien, wie die Familien Bethmann oder Metzler, hatten Beziehungen zu Bordeaux.

      Nicht zuletzt konnte ihm Bordeaux präsent sein durch Karl Friedrich Reinhard, einen Studenten des Tübinger Stifts wie wenige Jahre später er selbst. Befreundet war Reinhard mit Carl Philipp Conz und den Brüdern Gotthold Friedrich und Karl Friedrich Stäudlin, die später Lehrer und Förderer Hölderlins wurden. 1787 nahm Reinhard eine Hauslehrerstelle in Bordeaux an, wo er sich bald der girondistischen Société des Amis de la Constitution anschloss. Er ging dann nach Paris und engagierte sich publizistisch für die Girondisten. 1791 veröffentlichte er in Schillers Zeitschrift Thalia einen Artikel unter dem Titel Übersicht einiger vorbereitender Ursachen der französischen Staatsveränderung von einem in Bordeaux sich aufhaltenden Deutschen. Später machte er dann auf verschiedenen Stationen in ganz Europa diplomatische Karriere.3 Für diesen Reinhard und seinen Weg in der Revolution hatte sich Hölderlin sicher interessiert.

      Das deutsche Publikum war über Bordeaux auch informiert durch Reisebeschreibungen, z.B. von Sophie von La Roches