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Große Werke der Literatur XIV


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von Bedeutung ist.

      Die Reise nach Bordeaux und zurück war strapaziös und, wegen der vagabundierenden Räuberbanden, auch lebensgefährlich. Was immer der Grund für die Abreise aus Bordeaux war, sie widersprach den Hoffnungen und Erwartungen, mit denen Hölderlin nach Bordeaux aufgebrochen war. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung ist es erstaunlich, in welcher Souveränität und Gelöstheit Andenken verfasst ist.

       III.

      Die am Ende der ersten Strophe durch das Andenken evozierte Szenerie ist offenbar mit dem scharfen Ufer und dem tief herabfallenden Bach unwegsam und nicht ungefährlich, deswegen der menschengemachte Steg. Er gibt Sicherheit und schafft eine Verbindung. Das Baumpaar schaut darüber hin, als würde es darüber wachen. Die Eiche, die Silberpappel und, in der folgenden Strophe, der Ulmwald werden wohl nicht nur aus geographischen Gründen erwähnt. Hölderlin kannte natürlich die Freiheitssymbolik der Eiche, wie ihre Verwendung im Gedicht Die Eichbäume belegt. Wie der knorrige Wuchs der Eiche Unbeugsamkeit, Widerstandsfähigkeit und Freiheit symbolisiert, so konnte auch der aufrechte Wuchs der Silberpappel und der Ulme Freiheit symbolisieren. Daher wurden während der Revolutionszeit in Frankreich überall Eichen, Pappeln oder Ulmen als Freiheitsbäume gepflanzt. Auch ‚republikanische‘ Haine, Wälder und öffentliche Gärten wurden angelegt.1 Diese politische Bedeutung von Pappeln, Ulmen, Wäldern und Gärten kannte Hölderlin gewiss. Insofern soll wohl mit der Erwähnung der Gärten, des Paars aus einer Eiche und einer Silberpappel und des Ulmwaldes eine politische Bedeutung assoziiert werden. Da die Eiche traditionell eher mit Deutschland verbunden wird, die Silberpappel eher mit Frankreich, vereinigt dieses Baumpaar synekdochisch Deutsches und Französisches.2

      Überblickt man das ganze Gedicht, fällt auf, dass es neben dem Baumpaar zu weiteren Paarbildungen kommt: Strom und Bach, Ulmwald und Mühle, Hof und Feigenbaum, Nacht und Tag, Bellarmin und der Gefährte, implizit die Dordogne und Garonne, die sich zur Gironde vereinigen. Ganz sacht wird in dieser Szenerie das Natürliche und das Menschengemachte personifiziert und einander angenähert: Der Steg geht hin, das Baumpaar schaut darüber hin, in der Folge ist von ‚langsamen‘ Stegen, eine metonymische Bildung, die Rede, dann von einwiegenden Lüften.

      Noch denket das mir wohl und wie

      Die breiten Gipfel neiget

      Der Ulmwald, über der Mühl,

      Im Hofe aber wächset ein Feigenbaum.

      Die zweite Strophe beginnt mit einem Innehalten: „Noch denket das mir wohl“. Eine Formulierung, die in Mundarten, auch in der schwäbischen, verbreitet ist. Sie bedeutet soviel wie ‚Noch erinnere ich mich wohl/gut daran‘. Aber so heißt es nicht, vielmehr: „Noch denket das mir wohl“. Ausgedrückt wird das Geschehen eines Andenkens, das nicht vom Subjekt, sondern von diesen erinnerten Orten seinen Ursprung nimmt, ausgedrückt wird ein An-das-Subjekt-heran-Denken. Eine Alltagswendung wird hier wegen ihrer immanenten Einsicht verwendet. Wir reden ja auch davon, dass eine Erinnerung kommt oder nicht kommt. So erhält Andenken im Gedicht eine doppelte Bedeutung, etwas, was das Subjekt tut, und etwas, was ihm ‚noch‘, wie es heißt, geschieht. In der ersten Strophe geht es um eine Bewegung vom Subjekt weg und hinaus in einen Aufbruch, hier nun umgekehrt um eine Bewegung auf das Subjekt zu. Diese beiden Bewegungen werden aufgenommen im ‚Sagen‘ und ‚Hören‘ in der dritten Strophe und im ‚Nehmen‘ und ‚Geben‘ des Gedächtnisses in der letzten Strophe. Das „Noch“ impliziert das Wissen, dass Erinnern, dass Andenken vergehen kann.

      Dem Subjekt „denket“ nun eine weitere Szene, in ihr eine fast zärtliche Verbindung von Natur, Kultur und Arbeit. Der Ulmwald neigt sich über die Mühle. Wie beiläufig kommt es dabei zu einer Verbindung von Abendländischem und Morgenländischem. Die Ulme ist ein abendländischer Baum, der Feigenbaum, der im Hof „aber“ – jetzt wohl mehr adversativ zu verstehen – wächst, ein morgenländischer. Er kam aus Indien nach Europa und wurde in der Antike seiner Fruchtbarkeit wegen den Göttern Ceres und Dionysos zugeordnet.3 Er ist in den Hof integriert. Seine Frucht, die Feige, hat schon in der Antike eine erotische Bedeutung. Dieser Feigenbaum leitet, auch lautlich alliterativ, zu den Feiertagen über, an denen die braunen Frauen auf einen Tanzboden gehen, der wie aus Seide glänzt. Von Feiertagen und Tanz ist auch in der übernächsten Strophe die Rede.

      An Feiertagen gehen

      Die braunen Frauen daselbst

      Auf seidnen Boden,

      Zur Märzenzeit,

      Wenn gleich ist Nacht und Tag,

      Und über langsamen Stegen,

      Von goldenen Träumen schwer,

      Einwiegende Lüfte ziehen.

      Der Ausdruck „braune Frauen“ konnotiert etwas Südliches, Vitales, Erotisches, Faszinierendes, das ‚Braune‘ auch Arbeit, ein Leben in der Sonne, nicht ‚unter Schatten‘, eine Selbstbehauptung also. Daselbst, wie es zur Bekräftigung der Ortsangabe heißt, ist der seidne Boden; ‚daselbst‘ kann sich aber auch auf die erinnerte Bordelaiser Örtlichkeit insgesamt beziehen.4 Diese Feiertage finden zur „Märzenzeit“ statt, zur Zeit der Tag- und Nachtgleiche, also am 20. bzw. 21. März, dem Frühlingsanfang. Hölderlin stellt um und schreibt „Nacht und Tag“. Die Nacht und die Erinnerung an die „langsamen Stege“, über die, schwer von „goldenen Träumen“, einwiegende Lüfte ziehen, bereiten das Verlangen zu ruhen vor, von dem in der folgenden Strophe die Rede ist. Einwiegende Lüfte: ‚eingewiegt‘ wird in den Schlaf, ‚eingewiegt‘ wird ein Kind. Das Subjekt überlässt sich seinen Erinnerungen bis zum Schwinden der Distanz zum Erinnerten, bis zum Versinken in einer ‚goldenen‘ kindlichen Traumwelt. Diese Passage hat eine Parallele in der Hymne Mnemosyne. Auch dort findet sich, formuliert in einer sermocinatio,5 das regressive Verlangen in einen kindlichen, geschichtslosen Zustand. Der Vergleich mit dem ‚schwanken Kahne‘ offenbart aber schon das Illusorische dieses Verlangens:

      Vorwärts aber und rückwärts wollen wir

      Nicht sehn. Uns wiegen lassen, wie

      Auf schwankem Kahne der See (V. 15–17).

      Von was träumt das Subjekt in „Andenken“, wenn es sich solchen „goldenen Träumen“ überlässt?

      Es reiche aber,

      Des dunkeln Lichtes voll,

      Mir einer den duftenden Becher,

      damit ich ruhen möge; denn süß

      wär’ unter Schatten der Schlummer.

      Mit großer Gebärde6 verlangt das lyrische Subjekt, das sich hier in eine Trinkgesellschaft imaginiert, einen „duftenden Becher“, voll „dunkeln Lichtes“, damit es ruhen möge. Natürlich liegt es nahe, beim wunderbaren Oxymoron ‚dunkles Licht‘ an den Rotwein zu denken, für den die Gegend von Bordeaux berühmt ist. Von „Traubenbergen“ ist ja auch die Rede. Hält man ein Glas Rotwein ins Licht, ist er dunkeln Lichtes voll. Die große Gebärde ist schon eine wie in der Trunkenheit.

      Nun sind der Wein, der Rausch, wie der Feigenbaum, die Nacht, das Feiern und der Tanz mit dem Gott Dionysos verbunden7 Diesem Gott kommt in Hölderlins geschichtspoetischer Welt eine zentrale Bedeutung zu.8 In diesem Kontext des Dionysischen wird das Oxymoron ,dunkles Licht‘ auch als ein Bild verständlich, mit dem die Erfahrung einer göttlichen Macht zu fassen versucht wird. In mittelalterlicher und neuzeitlicher Theologie, von Dionysos Areopagita über Nikolaus von Kues, Giordano Bruno bis zu Grimmelshausen wird das Oxymoron ,dunkles Licht‘ oder ,lichte Finsternis‘ gewählt, um die übermächtige Wirkung Gottes zu treffen.9 Die Überfülle des göttlichen Lichts blendet den Menschen, so dass er sie als Dunkelheit wahrnimmt. Das Oxymoron geht wohl zurück auf die biblische Apostelgeschichte, auf die Erzählung von der Bekehrung des Paulus. Paulus wird von einem großen Licht umleuchtet und hört die Aufforderung von Jesus, nach Damaskus zu gehen. Dann heißt es: „Als ich aber vor Klarheit dieses Lichtes nicht sehen konnte, ward ich an der Hand geleitet von denen, die mit mir waren, und kam nach Damaskus.“ (Apg. 22, 11) Hier, in Hölderlins Gedicht, im Kontext des