Ralos Znarf

Zapfenstreich für Österreich


Скачать книгу

dass er auf alles eine Antwort wusste; mit langen Argumentationsketten selbst die widersinnigst scheinenden Behauptungen als ‚richtig‘ klassifizieren konnte.

      Ausführlich schilderte er seine persönliche - und die somit objektiv wahre - Vorstellung von der Bedeutung des Theaterwissenschaftlers im Kunstgewerbe, speziell im Theaterbetrieb: Theater sei eine Wissenschaft und die ganzen Regisseure und Schauspieler hätten die Aufgabe, die Erkenntnisse dieser Wissenschaft zu respektieren und die daraus resultierenden Erwartungshaltungen der Rezensenten zu erfüllen. Das eigentliche Kunstwerk entstehe erst durch die Diskussionen im Feuilleton, getragen vom subjektiven Empfinden der Rezensenten; diese seien die eigentlichen Boten der Kunst; Geistesmenschen, die – im Gegensatz zum infantilen Traumtänzertum und weltfremden Gehabe der Künstler - durch ihre praktische Verbundenheit einen klaren Blick auf die Welt haben und mit der damit einhergehenden 'moralischen Überlegenheit' die 'Avantgarde' der Gesellschaft repräsentieren. Und diese 'Sehenden' (zu denen er sich auch zählte) bildeten durch ihre 'Übersicht' ein 'seismographisches Regulativ', um 'sozialen Katastrophen vorzubeugen'. Der Künstler habe nur dann eine Daseinsberechtigung, wenn er die Erkenntnisse dieser 'Sehenden' als Grundlage seines Schaffens respektiere.

      Er lud sie auf eine 'Spritztour' in seinem Auto ein, einem bejahrten VW Käfer.

      Genauso wie Bruno, hatte auch er Probleme damit, aus einer wirklich großzügigen Parklücke herauszukommen.

      Als sie von der Neben- in die Hauptfahrbahn einmünden wollten, dauerte dies Stunden! War die Straße nämlich frei, so vergewisserte er sich durch unzählige prüfende Blicke so lange davon, bis schließlich doch wieder Fahrzeuge daherkamen.

      Oder: wenn er sich 50 Meter vor einer grünen Ampel befand und diese zu blinken begann, stieg er nicht aufs Gas um die Flüssigkeit der Bewegung aufrecht zu erhalten, nein, er machte eine Notbremsung....die Gegebenheit der Situation vollkommen ignorierend; noch mehr: er brachte seine Umwelt in Gefahr!

      Allein bei der Spritztour mit Sonja verursachte er durch sein unsituatives Verhalten zwei Auffahrunfälle, die wiederum gewaltige Staus nach sich zogen. Er selber bemerkte gar nichts davon, da nur die hinter ihm Fahrenden ineinander krachten. Und nach hinten blickte er nie, die Spiegel blieben unbeachtet.

      Und auch der Existenz eines Blinkers schien er sich nicht bewusst zu sein. Seine unangekündigten Richtungswechsel zwangen die Straßenbahn zu einer Notbremsung (die bei mehreren Fahrgästen schwere Verletzungen verursachte), sie brachten die Pferde eines Fiakers zum Scheuen (was zur Folge hatte, dass die hochschwangere englische Touristin, die sich mit ihrem Mann in der Kutsche befand, so heftig erschrak, dass es zu einer Frühgeburt im Fiaker kam) und er bemerkte nicht, dass minutenlang eine Rettung mit Blaulicht und Folgetonhorn hinter ihm herfuhr und durch ihn wertvolle Zeit verlor. Der transportierte Herzinfarktpatient kam dann zu spät im Krankenhaus an und starb.

      Von all diesen Einflüssen die er ausübte, merkte er nichts. Wenn sie ihm bewusst gewesen wären, hätte sich möglicherweise Jahre später seine große Lebenskrise nicht so zermürbend gestaltet, als er, ein gescheiterter Dramaturg, einsehen musste, dass er den großen Weltenlauf nicht verändern konnte; und zwar deshalb, weil keiner auf ihn hörte.

      Also wurde er Kritiker.

      Jetzt allerdings erkannte er, dass es ihm zwar noch immer nicht möglich war, die makrokosmische Struktur in seinem Sinne zu beeinflussen, er aber Macht auf einer ganz anderen Ebene hatte: er verfügte nämlich in seinem nunmehrigen Beruf über eine mikrokosmische Zerstörungskraft; durch das vernichtende Hinaustrompeten angeblicher Schwächen und Unzulänglichkeiten, die er bei den künstlerischen Unternehmungen anderer zu konstatieren nie müde wurde, erwarb er sich großen Respekt in der Branche. Vor allem in der notorisch unterdotierten 'Freien Szene'; dort hörte man auf ihn, dort wurde er ernst genommen....er durfte bei Proben anwesend sein......man hofierte ihn.....setzte seine schlechten (und dann nie wieder nachgespielten) Stücke auf den Spielplan.....und es soll sogar zur Opferdarreichung kunstwilliger Jungschauspielerinnen auf den Altären verschwiegener Hotelbetten gekommen sein.

      Und als er in Frühpension ging, fiel es ihm nicht schwer sich einzureden, dass er auf ein erfülltes Leben zurückblicken konnte.

      Beim Tête à Tête mit Sonja auf der Aussichtsterrasse eines romantischen Ausflugslokals, dozierte er im schon beschriebenen Sinne weiter.

      So sehr er aber auch bemüht war, sich bei Sonja als Liebhaber zu empfehlen.....er hatte nach seinem jämmerlichen Auftritt im Verkehr jeden Bonus verspielt. Außerdem trank er zu viel und verhielt sich arrogant gegenüber dem Personal.

      Als sie dann zum Auto zurückgingen und er in einem Anflug von Humor darlegte, dass er nun über den nötigen Kurvengeist verfüge - und gleichzeitig einen ungeschickten Versuch unternahm, Sonja zu küssen, da bestand sie darauf, selbst zu fahren. Nach anfänglicher Skepsis willigte er ein, im Bemühen vorurteilsfrei und großzügig zu erscheinen. Er sollte allerdings sein blaues Wunder erleben. Er konnte ja nicht wissen, dass Sonja auf den Wald- und Feldwegen, die das Anwesen ihres Großvaters durchkreuzten, schon mit 12 Jahren auf einem alten VW Käfer das Fahren erlernt hatte....den Fahrersitz ganz nach vorne geschoben und auf zwei Pölstern sitzend. Gemeinsam mit ihren älteren Cousins erwarb sie sich alle praktischen Kenntnisse des Rally-Fahrens, des Gegenlenkens in gedrifteten Kurven, des Springens über Bodenwellen, des Antizipierens von Situationen und als lustvolle Krönung - die Beherrschung des ‚J-Turns' (sprich: Dschäi-Turn), zu Deutsch: Flucht-Drehung. Man kennt dies Kunstfigur aus Verfolgungsjagden in Actionfilmen: der Fahrer beschleunigt das Kfz im Rückwärtsgang auf eine hohe Geschwindigkeit und durch ein (genau aufeinander abgestimmtes) Verreißen des Lenkrades bei gleichzeitiger kurzer Betätigung der Bremsen, vollzieht der Wagen eine 180° Drehung. Während dieser legt man den Vorwärtsgang ein, lässt im richtigen Moment die Kupplung schnalzen und fährt, ohne nennenswerten Geschwindigkeitsverlust, in einer Vorwärtsbewegung weiter.

      Und mit eben so einem ‚J-Turn‘, startete Sonja auf dem leeren und weitläufigen Parkplatz des Ausflugsrestaurants die Heimfahrt, die in einer engen Parklücke nahe der Universität ihr Ende fand.

      Der Assistent, dessen Mageninhalt – Gulaschsuppe und drei Viertel Zweigelt - neben einem innerstädtischen Alleebaum wieder den Weg in die Freiheit fand, vermied hinfort den Kontakt zu Sonja.

      Ihr war das egal.

      Jetzt aber saß Bruno am Steuer und behauptete stur seine Wichtigkeit, indem er unerschütterlich auf der linken Überholspur blieb, den ersten Gang eingelegt hatte und mit 40 km/h dort fuhr, wo 70 erlaubt waren.

      Er bemerkte nicht den Stau, der sich hinter ihm bildete; auch die ihn rechts Überholenden, die laut hupten und ihn mit unschönen Gesten auf sein Fehlverhalten hinwiesen, ignorierte er.

      Das Schalten verweigernd, quälte er den Motor im roten Drehzahlbereich.

      Sonja wunderte sich, dass das Auto noch keinen Kolbenreiber hatte.

      Und es packt einen schon ein unheimliches Grausen, wenn man sieht, mit welch mephistophelischer Sensibilität jetzt Bruno seinen Hörigkeits-Hebel dort ansetzte, wo Sonjas Abwehrschicht durch die Spätwirkung irgend eines fatalen Lindenblattes porös war.

      Nach ein paar Minuten sagte er nämlich: „Sonja, es ist mir fast peinlich, aber ich fühle mich irgendwie nicht gut. Kannst Du Autofahren? Magst Du das Steuer übernehmen?“

      Er gab also eine Schwäche zu und machte Sonja d a s Angebot, das sie längst – schon auf der Hinfahrt – herbeigesehnt hatte.

      Falls Sie jetzt denken: „Was heißt hier 'Schwäche zugeben’? Was bleibt ihm denn bitte anderes übrig! Der Typ ist doch stehend k.o.! Wie dumm ist die Sonja eigentlich?“

      - dann übersehen Sie, dass Sonja im Empfinden ihrer eigenen Situation eben nicht über den Vorteil der kühlenden Distanz verfügt, wie Sie jetzt!

      Dass S i e möglicherweise das zweifelhafte Glück haben, nie in das stromschnellige Gewässer der Leidenschaft gelangt zu sein; oder Sie haben es vergessen!

      Und, dass die Liebe halt eben dumm macht.

      Und wenn Sie sich auf diese Dummheit nie eingelassen haben, dann haben Sie auch nie wirklich g e l e b t!