Giovanna Lombardo

Galan


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      Brasne erhob sich und schaute Casper direkt in die Augen; seine Stimme klang sanftmütig. „Du brauchst niemanden etwas zu beweisen, Casper. Du hast doch absolut keine Ahnung, was dich im Krieg erwartet. Überlege doch bitte, bevor du eine Entscheidung triffst. Du bestrafst nicht nur deine Familie damit, sondern könntest auch mit deinem Leben bezahlen.“

      „Ich brauche euren Schutz nicht. Ich gehe und stelle mich der Gefahr. Spare dir dein Mitleid, Brasne“, raunzte Casper trotzig. Er stand jetzt direkt vor Brasne und seine Augen funkelten vor Zorn.

      Ich suchte Caspers Nähe, berührte vorsichtig seinen Arm und flehte ihn an. „Bitte Casper, tu mir das nicht an. Ich brauche dich hier bei mir. Bitte bleib.“ Mehr als ein Flüstern kam nicht über meine Lippen. Ich hätte alles gegeben, damit er bliebe. Er musste niemanden etwas beweisen und das wusste er. Warum er plötzlich aus Trotz diesen Entschluss fasste, konnte und wollte ich nicht verstehen. ‚Lass ihn ziehen.’ Eine schwache Stimme in meinem Kopf versuchte mich zu erreichen.

      „Dann kommen wir auch mit“, riefen Theran und Talon wie aus einem Mund.

      „Und wer hilft Zuhause das Land zu bewirtschaften?“, wollte ich wissen.

      „Das Land ist zu groß und wir können es nicht alleine schaffen“, erklärte Aaron frustriert. „Gerade jetzt hat Jazem einen Vertrag mit Herrn Valisi abgeschlossen. Ich weiß, der Krieg steht bevor und wir könnten alles verlieren, aber vielleicht trifft es Salin gar nicht. Wir müssen doch weiterleben.“ Aaron war verzweifelt.

      „Lass sie gehen“, bat mein Vater. „Dieser Krieg geht uns alle etwas an, und damit wir überleben können, muss es Freiwillige geben. Ich würde auch gehen, wenn ich nicht so alt wäre. Ich weiß, dass ich keinen Kampftag überstehen könnte.“

      Mutter schaute ihn ungläubig und wütend an. „Wie kannst du nur so etwas sagen! Du schickst gerade unsere Söhne in den sicheren Tod!“, schrie sie aufgebracht mit zittriger Stimme. Sie war aufgesprungen und wollte zu meinem Vater.

      Vater erhob sich ebenfalls, kam Mutter entgegen und nahm sie in die Arme. In diesem Moment brach sie zusammen. Beide fielen auf die Knie, wobei Vater Mutter stützte.

      „Bitte Keleb, lass es nicht zu. Ich würde das nicht überleben. Lass nicht meine Söhne fortgehen. Bitte Keleb!“ Dann schluchzte sie verzweifelt und verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter.

      Ihr Verzweiflungsruf füllte den Raum und meine Augen mit Tränen. Ich wollte sie nicht gehen lassen. Ich wollte diesen Krieg nicht, aber er war da.

      Warum ließen das die Götter zu?

      Meine Familie würde nicht mehr die sein, die sie bis heute gewesen war. Etwas zerbrach in mir. Ich stand mitten im Raum und sah, wie meine Brüder sich hinknieten, um meine Eltern zu umarmen. Ich beobachtete die Szene, als wäre das alles nicht wirklich. Ich fühlte mich leer. Ich war starr vor Angst. Meine Beine wollten sich einfach nicht bewegen, um zu ihnen zu gehen. Also blieb ich dort stehen und schaute auf meine Familie. Ich weiß nicht, wie lange ich so da stand, bis sie sich langsam voneinander lösten. Ich weiß nur, dass es draußen schon dunkel geworden war.

      Vater stützte immer noch Mutter. Ihr Kopf lehnte an seiner Schulter und ihr Gesicht hatte eine aschgraue Farbe angenommen. Sie stand unter Schock.

      „Ich werde jetzt eure Mutter zu Bett bringen, damit sie sich erholen kann. Es ist spät. Geht ins Bett. Wir besprechen uns morgen.“

      „Aber wir müssen packen“, setzte mein Bruder Talon an, doch mein Vater brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen.

      Nachdem meine Eltern das Wohnzimmer verlassen hatten, setzten wir anderen uns alle noch einmal hin. Über das, was passiert war, brachte keiner mehr ein Wort hervor.

      Als erster fand Theran seine Stimme wieder. „Na kleiner Bruder, wer hätte das gedacht. Nie sagst du etwas und dann so was.“ Er klopfte Casper auf die Schulter. „Ich bin beeindruckt, aber es versteht sich von selbst, dass wir auf dem Schlachtfeld auf dich aufpassen werden“, meinte er grinsend. Casper schaute ihn nur empört an.

      „Ich komme nicht mit und bleibe hier. Für unsere Eltern, Isma und Calena“, räumte Brasne mit fester Stimme ein. „Falls der Krieg bis Salin durchdringt, sollen sie hier nicht alleine sein. Ich werde sie beschützen.“

      „Ich auch“, stimmte Aaron stirnrunzelnd mit ein. „Ich denke, dass nicht alle gehen sollten. Wir werden auf euch warten und währenddessen das Land bewirtschaften.“

      „Also lasst uns schon mal packen gehen“, schlug Theran vor. Casper, Jazem, Theran und Talon gingen auf ihre Zimmer.

      Brasne verließ das Haus, um Calena zu besuchen und ihr die Neuigkeiten zu überbringen.

      Aaron blieb bei mir sitzen. Wir lauschten, wie sie alle fortgingen, dann wandte sich Aaron mir zu, damit er mir ins Gesicht schauen konnte. „Ja, es stimmt. Ich denke, es könnte sein, dass du wirklich eine Seelenwanderin bist“, gab er zu.

      „Ich bin eine, dass weiß ich jetzt.“

      „Woher nimmst du diese Sicherheit?“, zuckte er die Achseln.

      Ich plapperte drauf los. „Eigentlich wollten wir es euch heute sagen. Leider lief der Abend nicht so, wie wir es uns vorgestellt haben, so dass wir nicht mehr dazu gekommen sind. Ich bin eine Seelenwanderin, weil Mama auch eine ist.“

      Ungläubig zog er seine Augenbrauen hoch. „Das glaube ich jetzt nicht“, kam es aus ihm raus.

      „Es ist aber so. Gestern, nachdem du mit Mama gesprochen hattest, kam sie zu mir. Du dachtest, sie hätte mich getröstet, was sie auch vorhatte, aber nicht so wie du denkst. Sie hat mir ihr Geheimnis verraten. Ihre Mutter war ebenso eine, wie auch ihre Oma. Die Gabe liegt in der Familie. Sie hatte gehofft, es würde mich überspringen, aber nachdem du ihr von meinen Träumen erzählt hast, hat sie es mir gebeichtet. Vati weiß es schon. Wir wollten es euch heute Abend sagen, aber dazu ist es nicht gekommen. Du bist nun der Erste, der es erfährt. Es sollte ein Familiengeheimnis bleiben, denn wir wissen nicht, was uns die Zukunft bringt.“

      „Selbstverständlich, aber fürchtest du dich nicht vor den Auswirkungen?“, wollte er von mir wissen.

      „Ja, aber ich lerne damit umzugehen. Ich kann durchschlafen, wenn ich es will. Außerdem hat Mama mir versprochen, dass sie mir alles Wichtige beibringen wird. Ich weiß nur nicht, was es bedeuten soll, dass ich gerade jetzt diese Gabe entwickle, wo der Krieg ausgebrochen ist.“ Ich kräuselte meine Lippen. „Und ich frage mich, ob es eine Erklärung gibt, warum ich im Traum immer zu Jeremia gehe.“, sagte ich mehr zu mir als zu ihm.

      „Lass uns jetzt zu Bett gehen. Wir müssen morgen früh aufstehen.“ Aaron nahm meine Hand und zog mich mit einem Ruck hoch. Nebeneinander stiegen wir die Treppe hinauf. Vor meiner Zimmertür kurz verharrend wünschte mir Aaron eine gute Nacht und küsste mich auf die Stirn.

      Ich wünschte ihm ebenfalls eine gute Nacht und betrat mein Zimmer. Während ich die Kerze anzündete, wurde ich von Trauer und Einsamkeit überwältigt. Ich weinte bitterlich, denn ich begriff, dass dies für lange Zeit die letzte Nacht sein würde, in der wir alle zusammen waren. Diese Erkenntnis traf mich, wie ein Schlag ins Gesicht, mit voller Wucht. Ich hätte am liebsten laut aufgeschrien, wollte aber nicht, dass mich jetzt jemand hörte. Ich musste einen klaren Kopf bekommen. Ich durfte keine Angst zeigen; ich wollte stark sein. Wie würde ich meine Traurigkeit los?

      Ich setzte mich an meinem Schreibtisch, holte mein Tagebuch heraus und schrieb mir meine Sorgen von der Seele. Ab und zu benetzte eine Träne die Seiten, sodass die Tinte verschmierte. Es war mir egal.

      Danach blies ich die Kerze aus und krabbelte unter meine kuschelige Daunenbettdecke. Ich fühlte mich erschöpft und kraftlos und fand keine Ruhe. Mir ging so vieles durch den Kopf und der Schlaf ließ auf sich warten. Gedämpfte Stimmen hallten durch die Wände, die ohne Zweifel von Casper und Jazem stammten, da ihr Zimmer direkt neben meinem lag. Dass Casper uns verlassen würde, gefiel mir gar nicht. Ich würde ihn fürchterlich vermissen, aber ich beschloss, dass ich ihn mit meiner neuen Gabe bewachen würde. Erleichterung machte sich in mir breit.

      Schon