Giovanna Lombardo

Galan


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aus dem Haus schleichen müsste, um den Weg alleine nach Kanas zu nehmen.

      Der Hahn krähte draußen und Mutter kam aus dem Schlafzimmer. Ihre Augen waren geschwollen. Sie hatte kaum geschlafen, das sah man ihr an. Ich erhob mich und näherte mich. Sie stand im Türrahmen und hielt sich mit ihren Armen fest umschlungen. Wie egoistisch ich war. Ich dachte nur noch an Jeremia und wie ich ihn treffen könnte, und dabei hatte ich meine eigenen Brüder ganz vergessen. Das schlechte Gewissen quälte mich. Ich nahm meine Mutter in die Arme und schweigend kullerten uns Tränen über das Gesicht. Schmerz und Hoffnungslosigkeit überrollte uns wie eine Flut. Lange standen wir so da.

      Oben in den Schlafzimmern hörten wir Schritte, die Männer waren wach. Sie packten sicherlich ihre Reisesäcke. Der traurige Abschied nahte wie ein böser heranschleichender Feind.

      Ich führte meine Mutter zum Tisch, reichte ihr eine Tasse Kaffee und setzte mich zu ihr. „Mama, ich weiß, dass es dir nicht gut geht, aber ich muss dich dringend um etwas bitten. Du musst Papa überreden, dass wir die Jungs nach Kanas begleiten.“

      Mutters trauriger Blick war verflogen, doch bevor sie etwas sagen konnte, fuhr ich fort.

      „Ich bin heute Nacht wieder zu Jeremia gewandert. Er wird heute in Kanas eintreffen und mit größter Wahrscheinlichkeit auf den Marktplatz kommen, um die Freiwilligen zu mustern. Dort müssen wir sein, es ist wichtig. Es ist mein Schicksal. Ich muss gehen, das spüre ich. Ich weiß, dass nur du das verstehen kannst. Mama, ich brauche deine Hilfe.“

      Meine Mutter blieb ruhig. Sie dachte darüber nach, was ich meinte. Dass sie nicht direkt nein gesagt hatte, war schon mal ein Grund zu hoffen. Endlich sprach sie mit einem aufkeimenden Hoffnungsschimmer. „Ich glaube an unsere Gabe, und ich glaube auch an dich. Ich denke, du könntest wirklich ein Teil der Geschichte Galans sein, und wie schmerzhaft es auch ist, meine Kinder ziehen lassen zu müssen, so hoffe ich, dass du etwas Gutes bewirken kannst, damit deine Brüder wieder heil nach Hause kommen. Ich weiß nicht, welche Rolle du in diesem Krieg spielen wirst, aber wir werden nach Kanas gehen. Ich spreche mit Keleb. Aaron und Brasne bleiben auf dem Hof. Dein Vater, du und ich, wir werden zwei Tage Lana besuchen. Mögen die Götter mit uns sein“, verkündete sie andächtig und verließ sie die Küche.

      Zur gleichen Zeit hörte ich Schritte auf der Treppe und Türen, die sich zum letzten Mal für lange Zeit schlossen. Meine Brüder kamen herunter. Casper, Jazem, Theran und Talon stellten ihr Gepäck an die Haustür, betraten die Küche und nahmen wie gewohnt am Tisch Platz. Ich begann, ihnen das Frühstück zu servieren. Es herrschte Schweigen. Während sie aßen, lief ich nach oben, um schnell zu packen. Ich war voller Zuversicht, dass Mutter Vater überreden würde. Nachdem ich Kleidung für zwei Tage und mein Tagebuch in meine große Reisetasche gestopft hatte, legte ich meinen Reiseumhang über das Gepäck.

      Aus der Küche vernahm ich eine rege Unterhaltsamkeit. Mein Vater teilte gerade meinen Brüdern mit, dass wir sie nach Kanas begleiten würden. Er wies Aaron und Brasne an, solange den Hof zu leiten und verließ die Küche, um seine Sachen zusammenzusuchen. Meine Brüder redeten alle durcheinander.

      „Versteht ihr, warum er mitkommen will?“, fragte Talon.

      „Mama und Papa wollen miterleben, wenn ihr euren Dienst antretet“, mischte ich mich in die Unterhaltung ein.

      „Das verstehe ich, aber warum nehmen sie dich mit? Du könntest doch Aaron und Brasne auf dem Hof helfen?“, wandte Theran ein. Aaron starrte mich an, er schien es zu begreifen.

      „Vielleicht wollen sie, dass sie hier mal rauskommt. Isma war bisher so selten in Kanas“, kommentierte Aaron die Situation.

      „Nun ja, dann soll sie eben mitkommen. Vater will es ja unbedingt. Ich spanne die Pferde vor die Kutsche. Sorgt dafür, dass alle in einer Stunde abreisefertig sind“, pflichtete Jazem bei. Alle bis auf Aaron folgten ihm nach draußen, in Richtung Stall. Die anderen würden die Pferde satteln.

      „Deine Seele hat heute Nacht deinen Körper verlassen und du hast Informationen erhalten, stimmt‘s?“, wollte Aaron unbedingt wissen.

      „So ungefähr. Jeremia wird heute Abend in Kanas sein, und es ist unser Schicksal, dass ich ihm begegne“, erklärte ich ihm und er schien zu verstehen. Ich hoffte, meine Prophezeiung würde eintreffen. Ich wollte uns allen helfen, denn wahrscheinlich waren es nicht nur meine Gefühle zu Jeremia, die ich falsch auffasste und somit vielleicht einen schweren Fehler beging.

      Nach einer Stunde standen wir abreisebereit auf dem Hof. Als Aaron mich zum Abschied umarmte, flüsterte er mir ins Ohr, dass ich auf mich aufpassen solle. Ich drückte ihn noch fester und versprach es ihm.

      „Kommt bald wieder“, brüllte Brasne.

      Als die Kutsche mit Vater, Mutter und mir anfuhr, winkten uns Aaron und Brasne mit Tränen in den Augen zu.

      Jazem, Theran, Talon und Casper folgten auf ihren Pferden, hoben kurz jeder eine Hand zu einem stummen Gruß, um so ihre beiden daheimbleibenden Brüder zu verabschieden.

      Ich schaute noch lange zurück. Unser Wohngebäude wurde immer kleiner, bis es ganz hinter einem Hügel verschwand. Erst dann drehte ich mich um.

      Meine Reise hatte begonnen.

      Kapitel 7

      Wir kamen am späten Nachmittag in Kanas an. Die Hauptstadt war überfüllt mit Menschen, die aus allen Himmelsrichtungen strömten. Die Straßen waren geschmückt mit Fahnen unserer Landesfarben, Königsblau und Gelb. Alle waren in heller Aufregung, da sie die Gesandten erwarteten. Wenn wir nicht gewusst hätten, dass der Krieg bevorstünde, hätte man denken können, dass in der Stadt ein riesiges Fest vorbereitet wurde. Bei genauerem Hinsehen bemerkte ich jedoch die Unruhe, die die Menschen beherrschte. Ich schaute beim Vorbeifahren in die mir entgegenkommenden Gesichter und sah kein einziges Lächeln. Ihre Mienen spiegelten Furcht und Anspannung wider.

      In der Mitte des Marktplatzes war ein riesiges Podest aufgestellt, auf dem die Gesandten ihre Ansprache halten würden. Um den Marktplatz herum befanden sich provisorische Hütten; davor warteten Neuankömmlinge, die sich als Rekruten registrieren lassen wollten. Junge Männer unterhielten sich mit alten erfahrenen Kriegern; andere trainierten bereits Kampfübungen. Wir fuhren weiter und hielten kurz darauf vor dem Haus meiner Tante Lana.

      Als wir ausstiegen, kam sie schon aus der Haustür geeilt. Überrascht schaute sie uns an, sie hatte nur Jazem erwartet. Stürmisch umarmte sie erst meinen Vater und dann meine Mutter. Tante Lana ähnelte meinem Vater sehr; sie war jünger als er, eine Frau im mittleren Alter, an ihren Schläfen hatte sie schon silberne Strähnchen. Ihr dunkles Haar trug sie offen. Eine sehr imposante Frau und im Herzen jung geblieben. Sie trug ein Kleid in königsblau und gelb, die Farben von Kalander, es reichte ihr bis zu den Waden, mit darüber gebundener Küchenschürze. Wahrscheinlich hatte sie wieder den halben Tag in der Küche gestanden. Sie kochte leidenschaftlich gerne und gut, so war halt meine Tante.

      Nachdem sie meine Brüder herzlich umarmt hatte, trat sie vor mich. Sie schaute mich von oben bis unten an. „Das ist ja eine Überraschung, Isma! Du bist so schön geworden, eine richtige Frau bist du nun. Ich habe dich seit Jahren nicht mehr gesehen. Richtig bezaubernd.“ Dann umarmte auch sie mich.

      Während wir das Haus betraten, erläuterte Keleb seiner Schwester Lana, was es mit unserem Besuch auf sich hatte.

      Lanas Haus war freundlich eingerichtet, große Fenster ließen viel Licht in die Räume und die Inneneinrichtung bestand aus hellen Holzmöbeln. Überall standen Vasen mit frischen Wiesenblumen. Das Haus spiegelte die Seele meiner Tante wider. Wir durchquerten den engen, mit Familiengemälden behangenen Flur. Auf einigen Bildern waren auch mein Vater und meine Tante als kleine Kinder zu sehen. Ich erinnerte mich an die Geschichten, die mir Vater aus seiner Kindheit erzählt hatte. Tante Lana und Vater hingen sehr aneinander.

      Der sonnendurchflutete Wohnbereich war gefüllt mit Bücherregalen. Lanas stolze Büchersammlung hatte sie von ihrem Vater geerbt. Immer wenn ich zu Besuch kam, ließ mich meine Tante darin lesen. Ich beneidete sie um diese Bücher. Leider hatte ich diesmal keine Zeit, um zu