Giovanna Lombardo

Galan


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neben Fisius. Seine Arme waren hinter seinem Rücken verschränkt. Hinter ihm sah ich Gerrit. Links von Fisius befanden sich die Gesandten der anderen Territorien. Ich kannte keinen von ihnen.

      Fast vergaß ich zu atmen, denn er stand dort oben, wahrhaftig vor mir. Ich wäre ihm so gerne noch näher gewesen.

      Während Fisius zu seinen Bürgern und den Angereisten sprach, sah ich, wie Jeremia die Menge inspizierte, als würde er jemanden suchen. „Meine lieben Mitbürger von Galan. Heute haben wir uns hier versammelt, um etwas Schreckliches kundzutun. Wir befinden uns im Krieg und ich muss Ihnen leider mitteilen, dass die Lage sich noch mehr verschlechtert hat, als wir bisher angenommen haben. Wir erhielten soeben die Nachricht, dass es Netans Armee gelungen ist, das Territorium Trianda anzugreifen. Die Capitaner überraschten die Bewohner im Morgengrauen. Die Dörfer und Städte in der Nähe der Brücke wurden komplett eingenommen und alle Männer, Frauen und Kinder getötet.“

      Ein Aufschrei ging durch die Menge. Die Menschen waren fassungslos, so wie ich. Das Blutvergießen hatte begonnen. Nun graute allen Schreckliches.

      „Wir haben leider nicht mehr viel Zeit. Trana, die Hauptstadt von Trianda, bereitet sich auf das Schlimmste vor. Wenn es Netans Armee schafft, die Hauptstadt einzunehmen, haben wir ein Territorium verloren. Nun liegt es an unseren Männern und denen der anderen Territorien, Galan zu retten. Jeremia Nahal, Sohn des Herrschers von Cavalan, steht nun hier und wird Ihnen alles Weitere erklären. Ich bitte um volle Aufmerksamkeit und Ruhe, es geht um unser aller Leben.“ Fisius trat einen Schritt zurück.

      Jeremia ergriff das Wort. „Volk von Kalander! Ich, Jeremia Nahal, Sohn des Cavalan-Herrschers, stehe hier vor Ihnen in Vertretung für meinen Vater, des Vorsitzenden des Galan-Bundes. Nach einer 70-jährigen Friedensperiode müssen wir unsere Armeen erstmals aufstocken, um uns gegen einen sehr aggressiven Feind, den Capitanern, zur Wehr zu setzten. Die Capitaner wollen unser Land, unsere Bodenschätze und vieles mehr. Wie wir soeben erfahren haben, schrecken sie vor nichts zurück und überfallen mit mörderischer Gewalt friedliche Regionen, um sie an sich zu reißen. Dabei ermorden sie unschuldige Zivilisten. Wir wurden quasi über Nacht davon überrascht. Jeder Mann, jeder Junge über 13 Jahre, all diejenigen, die ein Schwert halten können und Zuhause entbehrlich sind, sollen sich freiwillig melden und sich für die Armee registrieren lassen“, sprach er mit fester, entschlossener Stimme und fuhr fort. „Sollten sich nicht genügend Freiwillige finden, sehen wir uns gezwungen, die Wehrpflicht für jeden männlichen Galaner ab 14 Jahren ausrufen zu müssen. Die frischen Rekruten werden binnen drei Tagen in die wichtigsten Kampftechniken unterwiesen. Danach setzen sich die Truppen in Marsch zu den Kriegsfronten. Ich bin ihr Obermaster, der höchste Befehlshaber der Streitkräfte, und mein Wort ist Gesetz. Wir erwarten absoluten Gehorsam von den Kriegern und dass sie ihr Leben für Galan geben. Befehlsverweigerung steht unter Strafe!“ Abrupt beendete er seine Ansprache.

      Die Frauen und Männer um mich herum sahen sich entgeistert an und lagen sich plötzlich in den Armen, viele weinten, andere sprachen tröstende Worte zu ihren Liebsten. Ich stand wie versteinert da. Ich nahm, wie in weiter Ferne wahr, wie meine Mutter bitterlich weinte und jeden einzelnen meiner Brüder in die Arme schloss. Mein Vater versuchte, ihr Halt zu geben. Nur ich konnte mich einfach nicht rühren; mein ganzer Körper war wie gelähmt.

      Jeremia. Er wirkte so kalt und berechnend.

      Hatte ich mich vielleicht in ihm getäuscht?

      Fassungslos schüttelte ich leicht den Kopf, bevor ich mich von ihm abwandte. Ich musste ihn für einen Moment vergessen. Meine Brüder würden bald in die Schlacht ziehen, sie würden uns verlassen, ich musste mich von ihnen verabschieden.

      Abschied! Die grausame Realität traf mich mit voller Wucht. Ich war so egoistisch. Die ganze Zeit dachte ich immerzu an Jeremia, aber die Menschen, die mir wirklich nahe standen, gerieten ins Hintertreffen. Nun würden vier von ihnen in den Krieg ziehen und vielleicht würde ich sie für lange Zeit nicht mehr … oder vielleicht sogar niemals wiedersehen. Nein, daran durfte ich gar nicht denken. Ich dachte, es sei meine Bestimmung gewesen, den Krieg aufzuhalten, meine Brüder und alle Menschen zu retten. Wie naiv, so etwas zu denken.

      Plötzlich riss mich jemand aus meiner Erstarrung und aus meinen Gedanken. Jemand nahm mich in den Arm und sagte etwas zu mir, aber ich verstand erst nichts. „Isma, was ist los? Bitte sag doch etwas. Du bist kreidebleich. Hast du ein Gespenst gesehen?“ Jazem hielt mich und machte ein besorgtes Gesicht.

      Ich versuchte, mich zu konzentrieren. Langsam klärte sich mein Blick. Ich sah in die erschrockenen Gesichter meiner Familie, die um mich herumstanden.

      „Isma, bitte, was hast du?“, fragte meine Mutter besorgt.

      Meine Beine wollten mir nicht mehr gehorchen, und mein Blickfeld verdunkelte sich, dann brach ich zusammen. Jazem ging mit mir zu Boden. Dann wurde alles schwarz.

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      Während Fisius sprach, stand Jeremia nur da. Den Schmerz, den er gerade spürte, wuchs zur Unerträglichkeit. Gleich müsste er den Männern sagen, dass sie alles zurücklassen würden. Ihr bisheriges Leben, ihre Frauen und Kinder. Wie sollte er es ihnen erklären, dass sie vielleicht nie wieder zurückkommen würden? Der Anschlag auf Trianda hatte ihn schwer getroffen. Seine Hoffnung, die Capitaner zu stoppen, schwand allmählich dahin. Er war nun hier, um die Männer in den Tod zu führen. Übelkeit stieg in ihm auf. Was konnte er sagen? Wie sollte er es sagen? Es gab nichts, was er hätte sagen können, damit es für die Leute einfacher werden würde.

      Fisius übergab ihm das Wort. Er suchte verzweifelt tröstende Worte in seinen Gedanken, fand sie aber nicht. Er entschied sich, es schnell hinter sich zu bringen. Als er sprach, tat er dies schnell und gefühllos. Er konnte niemanden ins Gesicht sehen. Zu Ende gesprochen, machte er zwei Schritte zurück und stellte sich neben Gerrit. Warum nur hatte er darauf bestanden, hierher zu reisen? Am liebsten hätte er alles rausgeschrien, seinen ganzen Frust, seine verzweifelte Wut.

      Er schaute suchend in die Menge.

      Das Gefühl, das er manchmal hatte, wie in der gestrigen Nacht am Lagerfeuer. Ein Gefühl von Geborgenheit, von Liebe. Er dachte, es hier in Kanas finden zu können. Wie konnte er denn wissen, was Liebe war? Er hatte nie jemand wirklich geliebt, außer natürlich seine Familie und sein Volk. Er sehnte sich schon lange nach einer Frau, die er wirklich lieben konnte. In diesem Moment brauchte er Liebe, Liebe die er niemals kennen lernen würde, da ihm bald die Vermählung mit Narissa bevorstand. Narissa hatte darauf gedrängt, so schnell wie möglich zu heiraten. Der Krieg war ihr egal, ihr Volk war ihr egal. Sie wollte nur ihn, um als Herrschergemahlin zu glänzen und für diese Rücksichtslosigkeit verabscheute er sie aus tiefstem Herzen.

      Plötzlich, ganz unerwartet überfiel ihn ein heftiger Schauder, der ihm wie ein Eiswürfel über den Rücken lief. Da war es wieder, diese Gegenwart, die nur er bemerkte. Er schaute nochmals in die Menge und fragte sich gleichzeitig, nach was er eigentlich Ausschau hielt? Aber es war wieder da, das Gefühl von Sicherheit. So unerwartet die Anspannung von ihm Besitz ergriffen hatte, so plötzlich ließ sie von ihm ab. Sein ganzer Körper beruhigte sich. Ein schwaches Lächeln huschte über sein Gesicht. Er dachte, es hätte ihn verlassen, aber da war es wieder. Er fasste neuen Mut und besann sich auf seine bevorstehenden Aufgaben. Die ersten Männer verließen bereits das Podest. Ihn überkam plötzlich Zweifel, ob die Worte, die er zu den Menschen gesprochen hatte, nicht vielleicht zu hart gewesen waren. Nein, sie waren mehr als hart gewesen, das wusste er.

      Er wandte sich an Herrscher Fisius und teilte ihm mit, dass er noch hier bleiben wolle, um die Männer kennen zu lernen. Er würde helfen, ihnen ihre Waffen und Kleidung auszugeben. Gerrit sollte ihn nicht begleiten. Fisius und Gerrit akzeptierten seine Bitte und stolzierten weiter zu den Pferden. Kurze Zeit später ritten sie davon.

      Er schritt durch die Massen und steuerte die erste Hütte an, in der immer mehr Freiwillige sich gerade registrieren ließen. In der Hütte stand ein langer alter Holztisch. Auf einer Seite des Tisches wurden Waffen und Uniformen ausgegeben, auf der anderen fand das Aufnahmeritual statt. Er wies einen Krieger an, aufzustehen, weil er nun das Prozedere übernehmen wollte. Der Krieger stand auf, so wie ihm befohlen wurde. Jeremia schüttelte jedem