J.P. Conrad

Frischfleisch


Скачать книгу

zur Badezimmertür. Dahinter waren Schritte zu vernehmen; ganz deutlich. Sie hörte die Dielen knarren. Hannahs Puls beschleunigte sich. Sie lauschte gebannt. Nein, sie irrte sich nicht. Da waren Schritte direkt hinter der…

      Die Badezimmertür ging auf.

      Hannah taumelte erschrocken rückwärts und stieß gegen das Regal, in dem ihre Parfums und Pflegeprodukte standen. Einige davon fielen um und schepperten auf die Glasböden. Im selben Augenblick stürzte eine schwarze Gestalt auf sie zu.

      Hannah hatte keine Zeit mehr, zu schreien.

      Jessie

      Es waren beunruhigende Zeiten. In Ealing, im gleichnamigen Londoner Borough, trieb ein sadistischer Mörder sein Unwesen. Er hatte bereits drei junge Frauen vergewaltigt und erdrosselt. Die Polizei stellte alles auf den Kopf, fand aber keine brauchbaren Spuren. Die Angst in der Nachbarschaft der Blaneystreet wuchs gleichermaßen, wie ihr Vertrauen in die Behörden schwand.

      Ausgerechnet während dieser Zeit zog Jessie in ein möbliertes Apartment in der Nummer neunundsiebzig. Sie hatte den Mietvertrag bereits unterschrieben, als die erste Leiche gefunden wurde; aber ihr Vertrag sah keine Klausel vor, nach der sie aufgrund eines Nachbarn tötenden Irren aus ihm wieder aussteigen konnte. Außerdem war die Wohnung genau das, was Jessie gesucht hatte: Nicht zu weit vom Stadtzentrum entfernt, aber auch nicht zu nah. Nicht zu klein und nicht zu groß. Mit Möbeln, die weder alt und spießig, noch hypermodern und kalt waren. Und mit einer tollen Aussicht über die Dächer der Nachbarhäuser, die alle etwas niedriger zu sein schienen, als die Nummer neunundsiebzig.

      In ihrem Haus wohnten insgesamt sieben Parteien; zwei auf jeder Etage, und eine unter dem Dach. Diese Partei war sie, Jessie Walsh. Sie stammte aus Loughton, einem kleinen Ort, etwa eine halbe Stunde von London entfernt. Eine Stadt der Pendler. Eine Stadt der Langweiler. Die größte Errungenschaft, die Loughton zu bieten hatte, war eine eigene Tageszeitung; der Loughton Courier. Ansonsten gab es dort nichts, das vierundzwanzigjährige Frauen wie Jessie Walsh dort hielt. Sie wollte nahe am pulsierenden Leben der großartigen Stadt sein, in der sie nun endlich eine feste Stelle als Fitnesstrainerin in einem kleinen, aber feinen Club ergattert hatte.

      »Bist du sicher, dass du das wirklich tun willst?«, fragte Thomas Walsh seine Tochter, während er die nächste Zimmerpflanze aus dem Kofferraum seines Vans hievte.

      Eine überflüssige Frage. Sie waren bereits seit fast einer Stunde dabei, Jessies Habseligkeiten in den vierten Stock zu schleppen und jetzt kam ihr Vater wieder mit Grundsatzentscheidungen.

      »Dad!«, zischte sie gespielt wütend.

      »Sorry, Liebes. Aber nach alledem, was in der Zeitung stand…«

      »Wir hatten das doch jetzt schon die ganze letzte Woche besprochen. Ich bleibe hier und fertig!«

      »Du sitzt hier auf dem Präsentierteller für diesen Perversen«, raunte ihr Vater und versuchte, die Erde, die er gerade versehentlich auf den Gehweg gekippt hatte, mit den Händen aufzufegen.

      »Ich kann ganz gut auf mich selbst aufpassen. Und wenn du mir erst das tolle, supersichere Vorhängeschloss eingebaut hast, das du ja unbedingt noch im Baumarkt kaufen musstest, kann mir gar nichts mehr passieren.«

      Sie liefen erneut hintereinander die breiten Stufen der alten Holztreppe nach oben. Sie knarrten leise bei jedem Schritt.

      Die neunundsiebzig war zwar schon in die Jahre gekommen, aber gut in Schuss gehalten worden. Die rotbraune Fassade mit ihren verzierten, weiß getünchten Steinsimsen und den kleinen Rundbögen über den Fenstern, zeugte stolz von einer Zeit, in der Architektur nicht nur zweckmäßig, sondern auch ästhetisch ansprechend war. Die Flure und das Treppenhaus waren in hellen, warmen Farben gestrichen, die schwarzweißen Fliesen im Eingangsbereich strahlten einen von stetiger Pflege erhaltenen Glanz aus. Die wuchtige Treppe aus Eichenholz mit ihren breiten Stufen und dem schweren bordeauxroten Läufer gab dem einfachen Mietshaus einen ehrwürdigen Touch. Die Zargen der Wohnungstüren waren mit geschwungenen Intarsien verziert; etwas, für das sich heute niemand mehr die Zeit nehmen, geschweige denn Geld ausgeben würde. Die messingfarbenen Klingelschilder waren penibel mit den Namen des jeweiligen Mieters oder der Mieter graviert.

      Man hätte die Atmosphäre durchaus als spießig bezeichnen können; aber der Eindruck täuschte, das wusste Jessie bereits von der Maklerin. Neben alteingesessenen Mietern wohnten auch mehrere junge Leute im Haus.

      Aber Jessie hatte auch nichts gegen ein bisschen Spießigkeit. Sie würde ihr vielleicht etwas bei dem von ihr geplanten Lebenswandel von der jungen Partygöre zur erwachsenen Arbeitnehmerin helfen. Und wenn sie sich richtig ins Zeug legte, würde sie bald die Miete alleine durch ihren Job finanzieren können; ohne Zuschuss ihrer Eltern.

      Die Wohnung im Dachgeschoss der Nummer neunundsiebzig, in der sie nun einzog, war schließlich auch kein hypermodernes Loft. Auf ihren knapp fünfzig Quadratmetern herrschte ebenso die altbackene Spießigkeit in Form alter Holzböden, klobiger Rippenheizungen und überhoher Decken vor, wie im Rest des Hauses.

      Jessie trug einen Wäschekorb mit Bettzeug vor sich und ihr Vater den Ficus, der nun mit weniger Erde auskommen musste, als noch in ihrem Zimmer in Loughton. Jessies Blick fiel im Vorbeigehen auf die Briefkästen. Ihr eigener war inzwischen repariert und ein neues Schloss eingebaut worden, wie sie feststellte. Die Maklerin hatte ihr während der Besichtigung erzählt, dass er von einem unbekannten Rowdy aufgebrochen worden war.

      »Das Schloss baue ich dir auf jeden Fall heute noch ein. Sonst hat deine Mutter keine ruhige Nacht«, sagte Thomas Walsh.

      »Ja, klar. Mum hat keine ruhige Nacht. Lügner.« »Okay, von mir aus.«

      Sie waren wieder vor ihrer Wohnung angekommen und Jessie hörte ihren Vater stöhnen. Sie selbst war absolut fit; auch noch, nachdem sie nun bereits neunmal diesen Weg gegangen war.

      »Willst du dich nicht vielleicht mal einen Moment hinsetzen?«, bot sie an, doch ihr Vater schüttelte, sich den Schweiß von der Stirn wischend, den Kopf.

      »Erst machen wir das hier fertig. Ich will das Auto nicht offen stehen lassen.«

      »Wie du willst, Dad.« Sie machte sich wirklich Sorgen um ihren Vater. Er war zwar erst zweiundfünfzig, hatte aber schon einen recht ordentlichen Bauchansatz von zu wenig Sport und zu viel gutem Essen. Seine Kondition hätte in jedem Fall viel besser sein können. Jessie hatte ihm sogar mehrfach angeboten, mit ihm zu trainieren. Aber die Trägheit hatte hämisch lachend über Thomas Walsh triumphiert. Das einzig Positive, das ihr Vater für seinen Körper tat, waren die langen Spaziergänge und Wanderungen mit ihrer Mum an den Wochenenden.

      Sie liefen den Weg durchs Treppenhaus noch zweimal, dann war, nach dem Anhänger, die große Ladefläche des Vans ebenfalls leergeräumt.

      »Hast du einen Kaffee für deinen alten Herren?«, fragte Thomas Walsh, nachdem er sich erschöpft auf das noch mit Folie stramm umwickelte Sofa hatte fallen lassen.

      Jessie verzog peinlich berührt das Gesicht. »Oh, die Maschine ist hier noch irgendwo in einer der Kisten.« Sie sah sich im Wohnzimmer um, wo ein Dutzend Pappkartons darauf wartete, von ihrem Inhalt befreit zu werden.

      »Und ich glaube, Pulver und Filtertüten muss ich erst noch besorgen.«

      Ihr Vater nahm die Flasche Mineralwasser vom Couchtisch und trank einen großen Schluck daraus. Dann sagte er:

      »Mum und ich schenken dir so eine Kapselmaschine.«

      »Oh, cool. Danke.«

      Thomas Walsh klopfte sich voller Tatendrang auf die Schenkel. »So. Dann wollen wir uns mal um das Schloss kümmern!«

      Er befreite das fabrikneue Vorhängeschloss aus seiner transparenten Plastikverpackung und faltete den kleinen Zettel mit der Einbaueinleitung auseinander.

      »Aha. So wollen die das haben. Naja.«

      Er