J.P. Conrad

Frischfleisch


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wirkenden Sachen, wie noch vor ein paar Stunden: eine verwaschene, viel zu weite Jeans und ein schwarzes T-Shirt, das eine weiße Hand mit erhobenem Mittelfinger zierte und einen deutlich sichtbaren Riss in der Schulternaht hatte. Nur seine rotweißen Marken-Sneakers schienen nagelneu zu sein.

      »Spontane Partys sind die besten!«, sagte Kenneth und drückte Jessie zwei Flaschen Bier in die Hand.

      »Danke! Und schön kühl. Besser als das, was ich anzubieten habe.«

      »Die hab ich ja auch für mich mitgebracht«, sagte Kenneth trocken und erntete einen verdutzten Blick von Jessie. Dann lachte er. »War ein Scherz.«

      Jessie stellte das Bier auf die improvisierte Bar. »Ist ja ein Haus voller Komiker, die Nummer neunundsiebzig.«

      Kenneth entdeckte Mila auf dem Sofa. »Hi, Mila.«

      »Hi, Kenny.«

      Ohne Vorwarnung ließ er sich mit Schwung neben ihr auf das Möbel fallen.

      »Neue Uhr?«, fragte Mila und zog direkt Kennys Arm zu sich heran. »Schick. Sieht teuer aus. Und ich kenne mich aus, wie du weißt.«

      Kenny schien das unangenehm zu sein, er zog brummend seinen Arm weg.

      »Ein Bier, Kenneth?«, fragte Jessie, um die Situation zu bereinigen.

      »Klar, immer. Ein kühles, wenn du hast.« Er zwinkerte ihr zu.

      Jessie fand Kenny für ihren Geschmack etwas zu aufgedreht, aber zumindest schien er harmlos zu sein. Sie reichte ihm eine Flache, nahm ihre eigene und zog sich dann einen Stuhl zu den beiden heran.

      »Also, wer wohnt auf der zweiten Etage?«, fragte sie an Mila gewandt.

      »In Nummer drei, wie gesagt, Mister Forsythe.«

      Kenneth verzog das Gesicht. »Der absolute Freak, wenn ihr mich fragt.«

      Mila schien nicht überrascht von dieser Aussage, denn sie pflichtete ihm kopfnickend bei.

      Das interessierte Jessie. »Warum? Was ist mit ihm?«

      Kenneth und Mila wechselten einen stummen Blick, dann sagte Kenneth:

      »Naja, es ist nur so ein Gerücht. Aber er soll mal eine vergewaltigt haben.«

      Jessies Augen weiteten sich. »Was, echt?«

      Mila machte eine herunterspielende Handbewegung. »Das hab ich auch gehört, aber das ist wirklich nur ein Gerücht.«

      »In jedem Gerücht steckt auch ein Funken Wahrheit!«, entgegnete Kenneth mit erhobenem Zeigefinger. »Hat mir Wanda höchstpersönlich erzählt. Und wenn die das sagt, ist das so gut wie verbürgt.«

      »Wanda?« Jessie sah die beiden fragend an.

      »Mrs Brixton«, antwortete Mila.

      »Ihr kennt sie wohl beide ganz gut, wie?«

      »Ja, sie ist okay. Zumindest hat sie immer interessante Geschichten aus der Gegend auf Lager«, sagte Kenneth und Mila ergänzte:

      »Sie kommt ja auch in ihrem Maklerjob ziemlich viel rum.«

      »Was ist jetzt mit diesem Forsythe? Denkt ihr, er hat wirklich eine Frau vergewaltigt?«

      Kenneth nickte sofort. »Da bin ich mir sicher. Wisst ihr was?« Er rutschte auf seinem Platz etwas nach vorne und unwillkürlich kamen auch Mila und Jessie näher.

      »Die Polizei war neulich bei ihm und hat ihn mitgenommen.«

      Mila schaute verdutzt. »Was? Warum weiß ich davon nichts?«

      »Wanda war im Urlaub.«

      Jessie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

      »Jedenfalls soll er wohl routinemäßig befragt worden sein. Wegen der Morde hier in Ealing.«

      »Du meinst die vergewaltigten Frauen?«, fragte Jessie und schluckte. Sie wollte sich eigentlich nicht mit diesem Thema befassen; es hatte ihr vor ihrem Umzug lange genug schwer im Magen gelegen.

      Kenneth nickte. »Ja. Und ich wette, dass er es war.«

      »Kenny!« Mila gab ihm einen Stoß in die Rippen. »Hör auf, so was zu sagen. Das kann ganz schnell nach hinten losgehen.«

      »Hey, wir können doch untereinander offen reden, oder?«, fragte er verschwörerisch und sah die beiden Frauen abwechselnd an. »Ich sag nur, was ich gehört habe. Auf jeden Fall kann er nicht so unschuldig sein, wenn nach diesen Morden plötzlich die Polizei ausgerechnet bei ihm auf der Matte steht.«

      Es klingelte erneut und Jessie stand auf und lief zur Tür.

      »Guten Abend. Wow!«, sagte der junge, blasse Asiate mit den wild umherstehenden, pechschwarzen Haaren und musterte Jessie von oben bis unten. »Definitiv keine alte Oma!«

      »Was?«

      Ein weiterer Mann, Jessie erkannte ihn von ihrer vorabendlichen Einladungsrunde wieder, lugte nun hinter dem Asiaten hervor.

      »Sie müssen Dean entschuldigen, er ist immer so. Aber ansonsten harmlos.«

      Das Benehmen seines Freundes war dem Mann, Jessie erinnerte sich, dass er Robin hieß, ganz offensichtlich peinlich.

      »Dean Yeun. Schönen guten Abend«, sagte der junge Mann nun und streckte ihr die Hand entgegen.

      »Hi«, entgegnete Jessie etwas perplex, erwiderte seine Geste und trat dann zur Seite. »Kommt doch rein.«

      »Ach, die üblichen Verdächtigen«, sagte Kenneth und sprang vom Sofa auf. »Hi, Rob. Hi, Dean.«

      »Hi Kenny, alles klar, Mann?«

      Dean und Kenneth begrüßten sich mit einer Ghettofaust. Sie schienen intellektuell auf einer Welle zu liegen.

      »Wow, ihr kennt euch ja echt alle hier, oder?«, fragte Jessie etwas unsicher in die Runde.

      »Kleines Haus«, entgegnete Mila schulterzuckend.

      »Wir sprachen gerade über Forsythe«, sagte Kenneth und nippte an seinem Bier.

      Dean hockte sich auf die Sofalehne neben ihn.

      »Ach, unseren hauseigenen Vergewaltiger?«, fragte Robin amüsiert und verschränkte die Arme.

      Jessie verzog kritisch ihr Gesicht. »Na, der Kerl scheint ja wirklich seinen Ruf weg zu haben. Meine Güte. Was wollt ihr trinken?«

      »Für mich ein Bier!«, sagte Dean.

      »Wenn du ein Wasser hättest?«, fragte Robin und sah Jessie an.

      Sie mochte sein Gesicht, das stand für sie fest. Das wusste sie schon, seit sie ihn vor ein paar Stunden, an seiner Türschwelle stehend, eingeladen hatte. Und jetzt bestätigte sich ihr Gefühl. Er war von den anwesenden Männern zudem die gepflegteste Erscheinung mit seinen glänzenden Designerschuhen und einem blütenweißen Oberhemd, das er lässig über seiner Jeans trug.

      »Er hat keine weibliche Begleitung mitgebracht, hm«, dachte sie bei sich und es war keine wirklich wertfreie Beobachtung. Dann musterte sie kurz seinen Freund, der Dean hieß.

       »Schwul? Nein, glaube nicht.«

      »Auf jeden Fall ist dieser Forsythe ein übler Bursche«, bekräftige Kenny erneut seine Meinung von dem Nachbarn.

      Dean nickte bestätigend. »Bin ihm einmal im Treppenhaus begegnet. Der grüßt ja nicht mal.«

      »Hui, ein Vergewaltiger mit schlechten Manieren«, tat Kenneth übertrieben und fuchtelte unheilvoll mit den Händen, wobei das Bier leicht aus der Flasche schwappte.

      »Vergewaltiger? Nee, glaube ich nicht«, sagte Dean.

      »Können wir vielleicht jetzt mal das Thema wechseln?« Mila schien genervt.

      Jessie stimmte ihr zu. »Genau. Wir wollen doch hier meinen Einzug feiern!«

      Kenneth stand