J.P. Conrad

Frischfleisch


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Flur. Er war recht nüchtern eingerichtet: Es gab einen Garderobenständer, einen Spiegel und einen Schuhschrank; kein einziges Bild zierte die weißen Wände. Offenbar sollte das Entrée für etwaige Kundenbesuche nicht zu privat wirken. Anders sah es schon in dem Zimmer aus, in das Robin sie nun führte: Regale, die vollgestopft waren mit Büchern, CDs, DVDs und Videocassetten bedeckten die längste der vier Wände vollständig. An den anderen hingen Poster, gerahmte Bilder und Autogramme von den vier Pilzköpfen aus Liverpool; überwiegend aus ihrer frühen Schaffensphase.

      »Mach's dir ruhig bequem! Ich braue uns mal Kaffee«, sagte Robin und verschwand.

      Jessie sah sich weiter um: Der Raum diente Robin allem Anschein nach als Wohn- und Schlafzimmer. Es gab einen Kleiderschrank und an der hinteren Wand ein Klappsofa mit einem Nachttisch daneben. Robin hatte ihr erzählt, dass er das eigentliche Wohnzimmer als Büro nutzte.

      Sein Musikgeschmack schlug sich auch in seiner CD-Auswahl nieder, wie sie feststellte: Ein ungeordneter Stapel an Beatles-Tonträgern und sogar ein paar Schallplatten lagen neben dem Fernseher.

      »Du hast wohl alles, was die Pilzköpfe jemals veröffentlicht haben, oder?«, fragte Jessie, während sie ein Plattencover nach dem anderen in Augenschein nahm.

      »Das wage ich einfach mal zu behaupten, ja«, rief Robin ihr zu. Er hantierte gerade in der Küche hörbar an seiner Espressomaschine.

      »Für mich sind sie noch immer die größte Band aller Zeiten.«

      Jessie musste an etwas denken und grinste. »Dann lass das bloß nicht meinen Vater hören, der würde dich killen.«

      »Stones?«, fragte Robin. Er kam mit einem kleinen Tablett zurück, auf dem zwei Espressotassen standen.

      »Erraten.«

      Er stellte das Tablett auf dem niedrigen, quadratischen Holztisch in der Mitte des Raums ab und zog ihn dann an das Sofa heran.

      »Setz dich doch.«

      »Wir haben immer noch keine Musik«, sagte Jessie und entschied sich für das ›weiße Album‹. Nachdem sie es in den Player gelegt und ihren Wunschtrack ausgewählt hatte, ertönten kurz drauf in angenehmer Lautstärke die ersten Takte von ›While My Guitar Gently Weeps‹.

      »Gute Wahl«, sagte Robin anerkennend. Sie setzten sich nebeneinander. Das Schlafsofa war weich und kuschelig. Jessie streifte ihre Turnschuhe ab und winkelte die Beine auf dem Polster an.

      »Danke nochmal für das Essen.«

      »Keine Ursache.« Er reichte ihr eine der Espressotassen. »Ist zwar unüblich, mit Kaffee anzustoßen, aber…«

      Robin erhob seine Tasse und sie tat es ihm gleich. Es folgte ein kurzes Klingen des Geschirrs. Dann ein langer, leidenschaftlicher Kuss. Robin stellte seine Tasse auf den Tisch.

      »Wer braucht schon Kaffee?«

      Er nahm auch Jessie die Tasse ab und nachdem alle vier Hände befreit waren, gingen diese auf Erkundungstour; zuerst über den Textilien und dann auch etwas tiefer.

      Robin hatte Brusthaare, wie Jessie feststellte. Und er küsste perfekt. Zumindest perfekt genug für diesen einen Abend und das ›Etwas‹, das sie vor hatte.

      Wie auch immer sich die Dinge weiter zwischen ihnen entwickeln würden; wenn es schief ging und sie weiterhin in einem Haus so dicht beieinander wohnen würden; es war ihr in diesem Moment egal. Sie spürte seine warme Hand unter ihr Shirt und den Sport-BH gleiten. Geschickt wirbelte er mit Zeige- und Mittelfinger um ihre Brustwarze. Der Mann wusste, wie man es richtig machte.

      »Der Kaffee wird kalt«, sagte Jessie leise kichernd, nachdem ihre Lippen sich von Robins losreißen konnten.

      »Noch nie was von Eiskaffee gehört?«

      Sie lachte, laut und aus vollen Herzen. Robin drückte sie sanft in das Polster, bis sie auf dem Rücken lag. Zu ›I’m So Tired‹ schloss sie die Augen und ließ sich einfach treiben; auch wenn sie alles andere als müde war.

      Als Jessie erwachte, war sie splitternackt, erschöpft und überglücklich. Sie drehte sich zu ihrer rechten und beobachtete stumm, aber mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen, Robin, der dort lag und schlief.

      »Da hast du aber diesmal Vollgas gegeben, Jessie«, dachte sie bei sich.

      Sie hatte den Mann, mit dem sie fast eine Stunde lang leidenschaftlichen Sex gehabt hatte, vor nicht einmal zwei Tagen kennengelernt. Das war selbst für jemanden mit ihrer kontaktfreudigen Art ein absoluter Rekord.

       »Hihi, du hast mit Robin Gibb geschlafen.«

      Ein blöder Scherz; jetzt fing sie auch schon damit an! Ihre Blase meldete sich. Vorsichtig schälte sie sich aus der Decke. Ihre nackten Füße berührten den Boden, aber die Holzdielen waren gar nicht so kalt, wie sie zuerst befürchtet hatte. Auf Zehenspitzen schlich sie durch das Zwielicht des Raums, der nur wenig durch die Straßenbeleuchtung, die durchs Fenster fiel, erhellt wurde, über den Flur ins Badezimmer. Sie schloss vorsichtig die Tür hinter sich und schaltete dann das Licht ein.

      »Ein Männerbad«, stellte sie fest, als sie sich umsah.

      Neben der Toilette lag ein ganzer Stapel Zeitschriften; hauptsächlich über Grafikdesign und Programmierung. Der Toilettendeckel stand offen. Sie klappte die Brille herunter und setzte sich. Ihr Blick fiel auf eine Ausgabe der Sun, die auf der kleinen Ablage neben ihr lag; es war die vom vergangenen Tag. Sie nahm sie und las die fett gedruckte Überschrift der Schlagzeile:

      EALING ZITTERT WEITER:

      FRAUENMÖRDER SCHLÄGT WIEDER ZU!

      Jessie durchfuhr ein Frösteln. Ealing; das war genau hier, wo sie lebte. In unmittelbarer Nachbarschaft waren Frauen vergewaltigt und erdrosselt worden. Widerstrebend, aber doch von ihrer Neugier gepackt, las Jessie den Artikel. Er verriet ihr wenig neues; im Gegenteil. Ein wichtiger Punkt fand in der reißerisch geschriebenen Nachricht gar keine Erwähnung. Mister Forsythe hatte ihr doch erzählt, dass man den Frauen die rechte Hand abgetrennt hätte. Davon stand hier nichts.

      »Merkwürdig. Das wäre doch die Schocknachricht überhaupt. Die Sun Leser lieben doch so was.«

      Jessie gähnte. Sie überflog noch kurz den Artikel über eine Einbruchserie in Hounslow und warf die Zeitung dann wieder an ihren Platz zurück. Sie war zu müde, um jetzt einen klaren Gedanken fassen zu können. Außerdem wollte sie über diese schlimmen Dinge nicht nachdenken; sie wollte wieder zurück ins Bett. Zu Robin.

      Auf Zehenspitzen schlich sie über den Flur, als sie ein Durstgefühl überkam. Sie hatte seit mehreren Stunden nichts mehr getrunken; seit dem Lycheewein in dem kleinen Thai-Lokal.

      Sie versuchte sich im Dunkeln des Korridors zu orientieren und schlich in die Küche. Als sich ihre Augen an das schwache Licht gewöhnt hatten, das durch das schmale Fenster fiel, entdeckte sie den Kühlschrank. Es war so ein bauchiges Retromodell, wie sie es sich auch schon immer gewünscht hatte.

       »Sei schön fleißig, dann kannst du dir bald auch so einen leisten.«

      Sie öffnete die Tür und schaute hinein.

       »Wasser? Limonade?«

      Doch sie entdeckte nur zwei Flaschen Bier, die in der Tür standen. Ansonsten gab der Kühlschrank nicht viel her: Ein Glas mit Senf, eine Tüte mit einem Bagel und ein Stück in Frischhaltefolie gewickelte Pizza.

       »Männer!«

      Dann war da noch eine kleine Styroporbox.

      Jessie nahm sie vorsichtig heraus und öffnete den Deckel. Es befanden sich nur zwei Kühlakkus darin, wie sie enttäuscht feststellte.

       »Dann eben doch Wasser aus dem Hahn.«

      Während sie schon überlegte, wo sie nach einem Glas suchen sollte, schloss sie die Kühlschranktür; ein wenig zu schwungvoll. Etwas fiel zu Boden. Jessie glaubte, dass