J.P. Conrad

Frischfleisch


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hatte und der jetzt, beim Frühstück, noch immer da war.

      »Wollen wir Samstagabend ins Kino gehen?«, fragte er.

      »Klingt gut. Was läuft denn?«

      »Im Empire zeigen sie ›Frenzy‹.«

      Jessie überlegte, dann schüttelte sie den Kopf. »Kenn ich nicht.«

      »Ein Spätwerk von Hitchcock. Spielt hier in London.«

      »Aha.« Jessie hatte in ihrem Leben bisher nur einen Film von Alfred Hitchcock gesehen und das war ›Psycho‹.

       »Stimmt nicht mal. War ja das Remake mit dieser Lesbe. Wie hieß sie noch?«

      »Also, was meinst du?«, bohrte Robin nach. Seine nussbraunen Augen strahlten sie an.

      In diesem Moment hätte sie sich sogar zu einem Bungee-Sprung überreden lassen.

      »Bin dabei«, sagte sie und lächelte ihn mit diesem Ich-bin-verknallt-bis-über-beide-Ohren-Lächeln an, das sie selbst als peinlich empfand, es aber auch nicht verhindern konnte.

      Nachdem sie fertig waren, verließen sie den Laden. Draußen vor der Tür blieben sie stehen und sahen sich an.

      »So, ich muss dann jetzt mal Geld verdienen gehen. Was machst du?«, fragte Robin.

      Jessie trat von einem Fuß auf den anderen. Zu dem, was sie jetzt am liebsten gemacht hätte, hätte sie Robin gebraucht. Aber er hatte ihr ja gerade schon unbewusst eine Abfuhr erteilt.

      »Ich werde mir mal die Gegend hier anschauen«, sagte sie stattdessen. »Muss mich ja schließlich auskennen, wenn mich mal einer nach dem Weg fragt oder so.«

      Sie gaben sich einen Kuss. Erst zaghaft, dann doch recht ungezügelt. Ein Kribbeln wie von einem Stromschlag durchfuhr Jessies Körper.

      »Dann bis später.«

      »Ciao!« Er winkte ihr, bereits davon schlendernd, zu.

      Jessie entschied sich, in die entgegengesetzte Richtung zu gehen. Sie spazierte den Bürgersteig entlang, vorbei an allerlei geschäftigen Menschen, die anscheinend ganz schnell irgendwo hin mussten: Männer in Anzügen und mit Aktenkoffern; Frauen mit Kindern an der einen und Einkaufstüten in der anderen Hand; ein paar Kids, die wie Rowdies aussahen, laut rumalberten und auf den Gehweg spuckten. Sie kam an mehreren kleinen Geschäften vorbei: einem weiteren Coffeeshop, einer libanesischen Bäckerei, einer Schuhreparatur mit Schlüsseldienst und einem Kiosk. Vor letzterem blieb sie stehen und las die Schlagzeilen der dort im Ständer ausgestellten Tageszeitungen. Weltgeschehen bestimmte die meisten Nachrichten; Unruhen im Nahen Osten, Handelsabkommen mit den USA, eine Flutkatastrophe in Thailand. Die Sun hingegen schien an dem lokalen Phänomen des Frauenmörders zu kleben. Jessie nahm die Zeitung aus dem Ständer, um die Überschrift ganz lesen zu können:

      SCOTLAND YARD WEITER RATLOS –

      WER WIRD DAS NÄCHSTE OPFER DES EALING-STRANGLERS?

      Jetzt hatten ihm die Kreativen über Nacht also schon einen schmissigen Namen gegeben; Ealing Strangler. Jessie durchfuhr ein kalter Schauer. Sie stand hier gerade mitten in Ealing. Alleine und schutzlos.

       »So schutzlos nun auch wieder nicht. Dem Kerl trete ich schon in die Eier, wenn er es bei mir versucht.«

      Sie schlug die Zeitung auf und suchte den Rest des Artikels. Er nahm dieser ein Drittel von Seite zwei ein.

      Während sie die ersten Zeilen las, tippte ihr plötzlich jemand auf die Schulter. Erschrocken fuhr sie herum. Es war der indische Kioskbesitzer. Mit seinem recht starken Akzent sagte er, leicht entrüstet:

      »Wollen Sie lesen? Dann kaufen, ja?«

      Jessie kramte in ihrer Beuteltasche aus Jeans nach Kleingeld.

      »Hier.«

      »Gut«, war der einzige Kommentar des Mannes, als sie ihm die dreißig Pence in die Hand drückte; dann verschwand er in seinem Laden.

      Jessie rollte die Zeitung zusammen und steckte sie in ihre Tasche. Schräg gegenüber war ein kleiner Park, dort würde sie sie lesen.

      »Du entwickelst sehr interessante Züge für dein Alter«, dachte sie bei sich. Noch nie hatte sie eine Tageszeitung gekauft. Das, was sie interessierte, fand sie entweder im Internet oder in Modemagazinen. Das Weltgeschehen war ihr dagegen viel zu langweilig. Aber diese Sache mit dem Ealing Strangler interessierte sie; nicht nur wegen des merkwürdigen Gesprächs mit Mister Forsythe.

      ›Sie passen genau in sein Beuteschema‹, hatte er zu ihr gesagt. Sie wusste einfach noch zu wenig über das, was hier in der Gegend vor sich ging; wer die Opfer waren. Aber jetzt hatte sie die Sun und konnte sich zumindest auf den aktuellen Stand der Dinge bringen.

      Sie fand eine freie Parkbank, setzte sich und holte die Zeitung wieder hervor. Dann begann sie von neuem, den Artikel zu lesen. Demnach hatte Scotland Yard inzwischen eine Sonderkommission gebildet, die sich mit der Ergreifung des Ealing Stranglers befassen sollte. Es würden in ihrer Gegend Befragungen durch Beamte der MET durchgeführt.

      Die Beschreibung des letzten Opfers, dessen Name natürlich nicht genannt wurde, glich der von Jessie relativ genau. Ihr wurde flau im Magen. Wieder musste sie an die Worte des seltsamen Mister Forsythe denken. Die Tote war siebenundzwanzig, schlank, blond und lebte allein. Sie war Serviererin in einem Imbiss gewesen. Eine Kollegin hatte sie Zuhause aufgesucht, da sie sich Sorgen gemacht hatte, weil sie nicht zur Arbeit erschienen war. Der Hausmeister hatte ihr dann wohl die Tür der Wohnung aufgeschlossen, nachdem sie versucht hatte, sie per Handy zu erreichen, dieses aber in der Wohnung geklingelt hatte. Die Frau hatte einen Schock davon getragen, als sie die Tote gefunden hatte; erwürgt.

      Jessie runzelte die Stirn. Das waren so viele Einzelheiten. Aber die Sache mit der abgesägten Hand stand hier wieder nirgends. War das eine Maßnahme der Polizei? Oder hatte Mister Forsythe sich das nur ausgedacht? Aber wenn nicht, woher sollte er dieses Detail gekannt haben?

      Jessie erinnerte sich an die Einweihungsparty; wie Kenneth erzählt hatte, dass Forsythe einmal eine Frau vergewaltigt haben soll und dass die Polizei vor kurzem bei ihm gewesen war, um ihn mitzunehmen.

      Gedankenversunken ließ Jessie die Zeitung sinken. Eigentlich wollte sie sich ja nicht mit diesem Thema befassen, das hatte sie sich schon vor ihrem Einzug geschworen. Sie wollte sich auf ihren neuen Job konzentrieren und nicht in Panik geraten. Und seit gestern hatte sie auch noch Robin auf ihrer Liste; an ihn wollte sie denken. An seine strahlend blauen Augen, seinen tollen Körper, seinen Humor.

       Eigentlich.

      Kenny

       Mit reichlich spürbarer Anspannung drängte sich Dean stumm an Kenny vorbei in dessen Apartment. Dort war alles so wie immer: Unaufgeräumt, schmuddelig und es roch nach kaltem Zigarettenrauch.

      Kenny bemerkte sofort, dass Dean nicht so locker drauf war, wie sonst.

      »Hi, Mann. Was geht ab?«

      Nachdem er die Tür geschlossen hatte, schoss es aus Dean heraus:

      »Scheiße, die Bullen schnüffeln hier in der Gegend rum.«

      Kenny hielt kurz erschrocken inne, tat dann aber gelassen und ließ sich auf die Matratze sinken. Er griff sofort wieder nach dem Controller für seine Playstation.

      »Na und? Was hab ich damit zu tun?«

      »Diese Tussi, die ermordet worden ist…«

      »Welche von denen?«, fragte Kenny lachend. Seine Augen waren stur auf den Fernseher gerichtet.

      »Du weißt genau, wen ich meine. Die letzte. Hannah Wincott.« Dean stellte sich provokativ in Kennys Sichtfeld.

      »He, du Arsch! Was soll das?«

      Ihre Blicke lieferten sich ein kurzes, stummes Duell.

      Kenny