J.P. Conrad

Frischfleisch


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ging zur Tür und schaltete das Licht ein. Die Neonröhre flackerte kurz, dann war es hell in der Küche und Jessie kniff die Augen zusammen. Sie sah auf den Boden vor dem Kühlschrank. Es war tatsächlich einer der wie Dartpfeile aussehenden Magnete. Robin hatte mit ihnen verschiedene Zettel und Postkarten an der Kühlschranktür befestigt. Jessie hob ihn auf und auch das kleine Notizblatt, das unter dem Küchentisch lag. Als sie es wieder befestigte, las sie, was darauf stand.

      Es waren mehrere Zahlen mit Datum, die per Hand untereinander geschrieben waren. Alle waren durchgestrichen. Über den Zahlen stand ein einzelner Name. Jessie hatte ihn inzwischen schon mehrfach gehört. Es war ›Loomis‹.

      Mila

      Wie jeden Morgen betrachtete Mila sich nackt im Spiegel. Sie drehte sich, drückte ihren Bauch rein, ihre Brüste hoch und zupfte an ihren Schenkeln. Sie mochte nicht, was sie sah.

      Mila hatte ihr Spiegelbild immer gehasst. Schon als Kind hatte sie sich hässlich gefühlt und war deswegen sogar während ihrer Pubertät, nach einem gescheiterten Suizidversuch, in psychologischer Behandlung gewesen.

      Oft hatte sie darüber nachgedacht, wie es wäre, wenn sie ihren Körper mittels Schönheitsoperationen ihren Wunschvorstellungen näher bringen würde. Aber dafür hatte das Geld nie gereicht. Sie besaß eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau, hatte aber niemals einen lukrativen Job gehabt. Es hatte immer nur für das Nötigste gereicht, da waren keine großen Sprünge möglich gewesen. Auch jetzt noch nicht, obwohl sie seit mehr als drei Jahren beim Juwelier arbeitete. Der Job machte ihr Spaß, das war ja wenigstens was. Aber mehr als Miete, Essen und ab und zu ein Abend in geselliger Runde beim Spanier waren nicht drin.

      Sie würde also hässlich bleiben. Die Frage war nur, wie lange sie diesen nicht zu ändernden Zustand noch ertrug.

      Mila sah sich selbst in die Augen; die grässlichen, viel zu kleinen Augen mit den Falten darunter.

      Wut kochte in ihr hoch; wieder einmal. Wut über die Models, die Schauspielerinnen, die gertenschlanken Frauen mit perfekten Maßen, straffen Brüsten und nicht einer Spur von Orangenhaut.

      Und zu allem Überfluss war da jetzt noch Jessica Walsh. Sie war bildhübsch, sportlich und sie tanzte Mila buchstäblich auf dem Kopf herum in ihrer Dachwohnung. Sie hielt ihr, wie schon so viele andere vor ihr, den Spiegel der Hässlichkeit vor.

      Warum war die Welt nur so gemein zu Mila? Was hatte sie verbrochen? Sie wollte sich doch einfach nur schön fühlen.

      Zum Glück hatte sie jemanden an ihrer Seite; jemanden, der sie so liebte, wie sie war. Aber auch die regelmäßigen Beteuerungen, dass sie doch sehr hübsch sei und die mittlerweile äußerst überstrapazierte Phrase ›Ich liebe dich, so wie du bist‹, waren ihr kein Trost. Es waren nur die kleinen Aufmunterungen der letzten Wochen, die kleine Lichtblitzte in der ewigen Dunkelheit ihrer verkorksten Seele erzeugten.

      Mila beendete ihr Ritual der Selbstqual, schloss die Flügel ihres ganz persönlichen Folterinstruments und zog sich an. Sie verhüllte ihren hässlichen Körper. Wäre sie eine strenggläubige Muslimin, hätte sie wenigstens noch ihr Gesicht bedecken können. Doch stattdessen musste sie es jeden Tag, wie eine Jahrmarktsattraktion, zur Schau tragen. Während sie ihre Halskette mit dem Anhänger umlegte, der ihr so viel bedeutete und ihr die nötige Kraft für jeden neuen Tag gab, erhielt sie einen sanften Kuss in den Nacken. Ein kurzes Lächeln huschte über ihr Gesicht und sie schloss die Augen.

      Ein ›Ich liebe dich‹ wurde ihr ins Ohr gehaucht und dann spürte sie, wie sie von hinten umschlungen wurde. Sie ergriff die starken, beschützenden Arme und hielt sie ganz fest.

      »Danke«, sagte Mila nur.

      »Ich weiß doch genau, was in dir vorgeht. Ich sehe es in deinen Augen.«

      Mila fuhr herum. Tränen sammelten sich gerade in ihren Augenwinkeln, um gleich wie Sturzbäche über ihr Gesicht zu laufen.

      »Es tut mir so leid«, sagte sie kopfschüttelnd. »Ich bin so undankbar, oder?«

      Sie erhielt einen leidenschaftlichen Kuss.

      »Nein. Und es braucht dir nicht Leid zu tun. Du bist, wie du bist. Und so will ich dich. Ich liebe dich.«

      »Ich liebe dich auch.«

      Erneut küssten sie sich.

      Mila fühlte sich besser. Für heute. Morgen würde alles wieder von vorne beginnen.

      Zwei Bagels

      Der Coffeeshop war brechend voll, die Schlange an der Bestellannahme lang. Es waren überwiegend Leute im Businessdress, die hier vor Arbeitsantritt frühstückten oder sich nur eine der vielen Kaffeespezialitäten für unterwegs holten.

      »Oje, vielleicht suchen wir uns lieber einen anderen Laden?«, meine Jessie, deren Magen sich nach etwas zu Essen sehnte.

      Robin blieb gelassen. »Keine Angst, das geht immer recht schnell hier.«

      Er deutete ihr, einen Schritt nach vorne zu machen, um aufzuschließen.

      »Ich freue mich ja, dass du morgens auch zu faul bist, dir selbst Frühstück zu machen«, sagte Jessie und hakte sich bei ihm ein.

      Er lachte. »Dafür hat man ja diese Läden hier erfunden.« Dann sah er auf seine Armbanduhr.

      »Wann fangt ihr morgens an?«, wollte sie von ihm wissen und sah selbst auf ihre Uhr. Es war viertel vor acht.

      »Um halb neun. Naja, ich fange dann an. Dean schafft es meistens nicht, pünktlich zu sein.«

      Das wunderte Jessie nicht. »Dann haben wir ja wenigstens noch eine halbe Stunde.«

      Jetzt waren sie an der Reihe.

      »Einen normalen Bagel mit Schinken bitte und einen Vollkorn mit Frischkäse. Außerdem zwei Latte Macchiato. Alles für hier.«

      »Da hat aber einer gut aufgepasst«, dache Jessie.

      Sie nahmen ihre Bestellung auf einem Tablett entgegen und setzten sich an den letzten freien Tisch im Lokal. Das Wasser lief Jessie im Mund zusammen. Der erste Biss in den knackigen, frisch belegten Bagel kam einer Erlösung gleich. Sie gab ein leises, zufriedenes Brummen von sich.

      Einen Moment lang saßen sie schweigend da und aßen.

      »Sag mal, dieser Typ, Loomis«, sagte Jessie dann mit halb vollem Mund.

      Robin sah auf. »Was ist mit dem?«

      »Kanntest du ihn?«

      »Nicht sonderlich. War ein Eigenbrötler.«

      »Was hat er so gemacht?«

      Er zuckte mit den Schultern. »War IT-Spezialist, soweit ich weiß.«

      Jessie sah gedankenversunken aus dem Fenster. »Was wohl mit ihm passiert ist?«

      Robins Stirn legte sich in Falten. »Wie meinst du das?«

      »Mila hat mir erzählt, er wäre plötzlich einfach verschwunden.«

      »Wie verschwunden?«

      »Na, eben verschwunden. Er wäre einfach weg, hätte alles stehen und liegen lassen.«

      Robin verzog skeptisch das Gesicht. »Quatsch. Der ist ausgezogen.«

      »Hm.« Das hatte ihr die neue Nachbarin anders erzählt und es hatte eigentlich glaubhaft geklungen. Warum hätte sie auch lügen sollen? Oder waren es doch wieder nur Gerüchte um mehrere Ecken, insbesondere die um Mrs Brixton, gewesen?

      Aber warum stand dann der Name Loomis auf einem Zettel an Robins Kühlschrank?

      Eine Wolke am Himmel schob sich etwas nach links und befreite die Sonne. Ihre warmen Strahlen trafen durch das Fenster des Coffeeshops auf Jessies Gesicht. Sie schloss die Augen und genoss für einen Moment diese Wohltat. Über ihren Vormieter