Anita Florian

Die Ungeliebten


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      „Sie steigt schon wieder in den Keller“, meinte Franzine, als sie Ednas Schritte vom Stiegenhaus durch die Tür hörten. „ Hörst du sie wie sie aufstapft? Sie holt das Bier, ihre Männer haben immer Durst.“ Dorothea lachte, „Man will nicht glauben, wie manche Menschen arm an Verstand und Interessen sind.“ Und damit gab Franzine ihrer Schwester Recht.

      Kapitel 3, Vor 6 Jahren 1963…

      Langsam zog Ferry seine Beine in das Bett nach. Entsetzt kam Senta heran und betrachtete ihren ramponierten Sohn. Sie schlug die Hände vors Gesicht und atmete schwer ein. Zögernd versuchte Ferry die Augen zu öffnen, von völliger Mattigkeit geschwächt, gelang ihm nur ein vages Blinzeln.

      „Um Gottes Willen, was ist passiert Junge…“, Senta hielt sich am eisernen Bettgestell fest, ihr Atem kam pfeifend und gurgelnd aus ihrer Lunge.

      „Später Mutter“, sagte Ferry fast flüsternd, legte die vom Motoröl geschwärzten Hände an seinem Bauch und versuchte regelmäßig einzuatmen. Sein Atmen ging schnell, seine Brust hob sich ruckartig und sank auch rasch wieder ab. An seinen Händen war in der Schwärze Risswunden zu erkennen, rot leuchteten die Stellen durch die Schmiere hervor. Tränen traten in Sentas Augen, noch nie hatte sie ihren Sohn in derartig desolaten Zustand gesehen. Sorge erfüllte ihr von Krankheit gezeichnetes Gesicht.

      „Ich werde zu Doktor Mayer gehen, du brauchst sofort ärztliche Hilfe“, sagte sie mit aufsteigender Panik, „ich kann dich hier nicht so liegen lassen.“

      „Nein“, schrie Ferry, riss die Augen plötzlich weit auf und umklammerte zitternd die grauen Hände seiner Mutter. „Bitte, lass mich nur hier liegen, ich will keinen Doktor in meiner Nähe haben, ich werde mich nachher waschen, aber bitte bringe diesen Arzt nicht ins Haus!“ Senta respektierte seine Entscheidung nur widerwillig, strich über seine schwarzen Haare und nickte ihm beruhigend zu. Nach einer Weile schlief er ein, sein Atem beruhigte sich. Senta bereitete einen großen Topf Kamillentee zu und ließ ihn etwas auskühlen. Sie seihte die Brühe ab, goss sie in eine breite Waschschüssel, tauchte einen frischen Waschlappen in den Tee und begann Ferrys Wunden an den Händen zu säubern. Behutsam zog sie ihm die schmutzigen Socken von den Füßen die über und über mit entzündenden Blasen übersät waren, tupfte sie sachte ab und trocknete die Stellen mit einem sauberen Tuch ab. Danach holte sie frisches Wasser und Seife, sanft wusch sie ihrem schlafenden Sohn das Gesicht ab. Ferry schlief über 15 Stunden durch. Senta war froh, ihren Sohn wieder bei sich zu haben, wachte beständig an seinem Bett und strich ihm zwischendurch übers Haar. Sie saß die Nacht hindurch auf einem Küchensessel und ließ ihn keine Sekunde aus den Augen. Tanno wurde, als er von der Arbeit endlich nach Hause kam, in das Schlafzimmer geschickt, mit der Aufforderung sich still zu verhalten und keinen Laut von sich zu geben. Ein kleiner Blick auf seinen schlafenden Sohn genügte ihm. Er fütterte noch seine eigenhändig eingefangenen Vögel, die in der Speisekammer in fünf Käfigen aufgereiht platziert standen, gab ihnen frisches Wasser und verschwand ohne zu Murren im Schlafzimmer.

      Im Morgengrauen zuckte Senta auf, Ferry drehte sich im Bett um und stöhnte. Sie war über den Tisch eingenickt, hielt den Kopf auf ihre verschränkten Arme auf der Platte und war sich nicht bewusst, dass sie müde und abgekämpft und voller Sorge irgendwann in der Nacht eingeschlafen war. Das Schnarchen Tannos war aus dem Schlafzimmer zu vernehmen, es war noch im Bereich des Erträglichen, Ferry wachte davon nicht auf. Am frühen Morgen war Tanno längst zur Arbeit gegangen, leise erhob sich Senta von ihrem Stuhl. Ferry schlief ruhig, sein Atem war regelmäßig und normal. Beruhigt öffnete Senta die Holzkiste und schnitzte Holzscheite zum Feuerentfachen für den Herd. Bald würde sie den Ofen anmachen und ihrem Sohn eine stärkende Speise zubereiten. Noch immer hatte sie die schwarze Satinschürze umgebunden, die sie nur zum Waschen ablegte. Ihre Gedanken kreisten um ihren geliebten Sohn, der todunglücklich nach Hause gekommen war, die Illusionen zerstört und hilflos im Bett verwundet, schon seit Stunden schlief. Aus der Speisekammer tönte fröhliches Vogelgezwitscher, die kleinen Gefährten flatterten in ihrer Gefangenschaft den beginnenden Tag entgegen. Senta füllte einen großen Topf mit Wasser und stellte ihn auf die hinterste Ecke des Herdes. Im Laufe des Tages würde er für warmes Wasser sorgen, mit einem großen Schöpflöffel, der am Rand des Topfes hing, sorgte er für Tee, Kaffee und zur Körperreinigung. Ständig wurde nachgegossen um das Wasser wieder zu erwärmen. Mangel an Luftfeuchtigkeit litten sie nie.

      Die Sonne schien durch das Fenster und Ferry schlug die Augen auf. Es war gegen zehn Uhr vormittags, verwundert blickte er sich um.

      „Da bist du ja wieder“, Senta war über sein Bett gebeugt und blickte ihren Sohn in die blauen Augen. Er lächelte, betrachtete seine Finger und zog die Knie an.

      „Ich bin noch ganz, ich fühle mich ausgeruht….ja ich fühle mich frisch, ich muss ja tot gewesen sein. Nur die Knochen schmerzen, das ist aber auszuhalten.“ Er langte an den nebenstehenden Tisch und schaltete das Radio ein.

      „Bald ist das Wasser warm, Vater hat gestern die Blechwanne heraufgebracht, ich hab sogar ein gut riechendes Badesalz für dich besorgt. Aber davor kriegst du noch ein gutes Weinchadeau von mir.“ Zufrieden nickend holte Senta eine Weißweinflasche hervor die sie vor Tanno versteckt hielt, holte drei Eier aus der Kredenz und die aus echtem Porzellan schön verzierte Zuckerdose, gab die Zutaten in eine feuerfeste Rührschüssel, stellte sie in eine Kasserolle mit kochend heißem Wasser, zwinkerte Ferry zu und begann mit der Arbeit. Den Schneebesen schwingend in der Hand, schlug sie den köstlichen Weinschaum im Wasserbad cremig auf. Nichts könnte den Organismus besser stärken, als diese, von ihr geschlagene, flaumige Weincreme. Sie war sich sicher und rundum überzeugt, auch wenn ihr jemand einreden wollte, dass dies auch Hühnersuppe oder Rinderbrühe vermochten, winkte sie kopfschüttelnd ab. Sie füllte die gelbe Creme in eine Glasschüssel und reichte sie Ferry mit einem Löffel. Das Tigerauge am Radio zog sich zusammen, endlich war der Empfang hergestellt. Die letzten Sätze des Nachrichtensprechers verlautbarten Sommerwetter bis zu 32 Grad. Swingmusik erklang und Ferry drehte den Ton etwas lauter auf. Die Musik übertönte das Vogelgezwitscher das noch immer aus der Speisekammer drang. Der gespannte, gerippte Stoff der über das Schallloch gespannt war, vibrierte im Takt zur Musik.

      „Langsam, Junge, es ist nicht nötig, dass es dir gleich wieder aus deinem Mund fließt. Ich hol die alten Semmeln, einen duftenden Scheiterhaufen werde ich zaubern, mit einer Lage Äpfeln darin, und einen russischen Tee dazu, das müsste dich wieder auf die Beine bringen.“ Senta musste sorgvoll feststellen, dass Ferry innerhalb einer Stunde die Toilette mehrmals aufsuchen musste. Ferry aß mit wenig Appetit das Chadeau, als Senta die große alte Blechwanne aus dem Flur in die Küche zerrte. Dann schöpfte sie heißes Wasser aus dem Topf in einem Eimer und leerte ihn in die Wanne. Nach ein paar Eimern heißen, dampfenden Wassers füllte sie den Rest mit kaltem auf, streute nach Lavendel duftendes Badesalz hinein und deutete Ferry, dass er sich nun baden könne, die Semmeln könne sie auch im Schlafzimmer aufschneiden.

      „Rufe, wenn du fertig bist, ich werde dann deine Wunden mit Ringelblumensalbe einschmieren, morgen wird bestimmt alles verheilt sein. Ich muss ja noch in den Schuppen, wir brauchen ja die Äpfel. Halte deine Hände nicht ins Wasser, das könnte höllisch brennen.“ Er nickte und schien wieder guter Dinge zu sein. Senta begab sich ins Schlafzimmer. Er genoss sein ausgiebiges Bad, saß mit verschränkten Armen über Kopf im wohligen Wasser und dachte an Franzine. Wenn sie ihn in diesem Zustand sehen könnte, der Schock wäre unerträglich für sie. Auch gäbe es kein gutes Bild ab, wenn sie feststellen müsste, dass er versagt hatte, dass er anders als er es sich so sehr gewünscht hatte, mit schlechten Nachrichten aufwarten musste. Eigentlich kann von Nachrichten keine Rede sein, er kam mit leeren Händen zurück. Doch die Reise war spannend, abenteuerlich und gefährlich. Gut, dass Senta noch keine bohrenden Fragen gestellt hatte. Wo sollte er beginnen zu erzählen? Würden sie ihn danach noch lieben? Mutter und Braut? Ist es nicht so, dass nur der gute Wille zählen sollte? Ferry strich sich über die eingefallene Wange. Wie wird sie es aufnehmen wenn sie dann erführen, dass er bei seiner Reise knapp den Tod entronnen ist? Der Gewichtsverlust ist das geringste Problem, das lässt sich leicht wieder lösen. Sollte er die ganze Geschichte überhaupt seiner