Anita Florian

Die Ungeliebten


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      „Das kann nicht sein….“, heftig schüttelte er den Kopf, zu Freyas Überraschung sammelten sich Tränen in Ferrys Augen. Mitleid fühlte sie plötzlich für ihn, Senta röchelte, ihre Hand lag auf der Brust, vorsichtig versuchte sie das Geräusch abzuwehren, langsam atmete sie mühsam ein. Ihre Haut wurde fahl, das Gesicht auffallend bleich.

      „Um Himmels Willen, was haben Sie“, Freya sprang auf um Senta Hilfe zu leisten. Sofort wurde ihr bewusst, dass diese Frau an schwerem Asthma litt.

      „Nehmen Sie beide Hände in die Höhe, stehen Sie auf, ich zeige es Ihnen.“ Sie zögerte nicht lange, packte Senta unter den Schultern und hob sie vom Stuhl auf. Sentas Gesicht verfärbte sich bläulich, Freya nahm ihre Arme und zog sie weit hoch. Sogleich wurde ihr stertoröser Atem ruhiger, die Lunge weitete sich, sie bekam wieder Luft.

      „Legen Sie den Kopf an meine Schulter, bleiben sie noch ein bisschen in der Stellung.“ Senta befolgte Freyas Rat. Bald normalisierte sich wieder ihr Luftholen, dann ließ sie ein Glas Wasser ein und trank es leer.

      „Ich danke Ihnen“, stammelte Ferry unbeholfen, „wenn Sie ihr nicht geholfen hätten, wer weiß was nun passiert wäre. Frau Thalmann, ich werde alles erklären, ich habe Ihre Tochter nicht verlassen, ich war nur verreist, ich werde sie aufsuchen, ich mache alles wieder gut, ich habe viel zu erzählen. Eigentlich hätte alles anders kommen müssen, wenn ich nur geahnt hätte was dies bewirkt hat…..ich hätte mit ihr sprechen müssen, ihr alles sagen und erklären.“

      „Das meine ich auch“, sagte Freya streng, „sie liegt im Breicker Krankenhaus, medizinische Abteilung, erster Stock, Zimmer 12. Wollen wir hoffen, dass sie wieder Appetit bekommt und einmal ihren Teller wieder leer isst. Sie wurde total geschwächt eingeliefert, sie hatte jede Nahrung verweigert. Ich stattete ihr gestern einen Besuch ab, es geht dir den Umständen entsprechend, es scheint wieder aufwärts zu gehen. Wenn Sie sie besuchen, nehmen Sie ihr doch ein paar Bücher mit, sie liest gern, es wäre doch zu langweilig den ganzen Tag am Tropf zu hängen und nichts zu tun zu haben.“ Ihre Worte fruchteten, Mutter und Sohn waren voll des Entsetzens.

      „Sie können sich auf mich verlassen, ich werde alles wieder zurechtrücken. Ich muss mein Motorrad auftanken, dann fahre ich sofort zu ihr… ich habe eine Menge zu erzählen“ beschämt wandte er sich ab.

      „Gut“, meinte Freya, „ ich werde auch da sein.“ Sie verabschiedete sich, sie wollte so schnell wie möglich diese Wohnung verlassen.

      „Wahrscheinlich habe ich einen Fehler gemacht“, meinte Ferry „ich hätte sie darauf vorbereiten sollen, sie Sorgen beiderseits schlagen sich über uns zusammen, es ist meine Schuld.“

      „Wer hätte auch ahnen können, das deine Braut sogleich mit dem Leben spielt, jedenfalls bin ich dankbar dass mir ihre Mutter nun geholfen hat, es war mir mehr als peinlich, nun, ich denke, das renkt sich wieder ein, du wirst sehen wie sie sich freuen wird wenn du auftauchst. Ich habe diese Frau schon vorher gekannt, nicht persönlich, aber sie gibt stundenweise Gesangsstunden in der hiesigen und in der Nachbarsschule. Die Kinder sind begeistert von ihr, du hättest etwas freundlicher sein können….“ Senta wies ihren Sohn nur ungern zurecht.

      „Willst du mich nicht begleiten, auf dem Sozius binde ich dich eben an wenn du runterzufallen drohst, ich glaube, das wird eine Überraschung für Franzine werden. Ich wusste nicht, dass es mit ihr so weit bergab gehen kann….sie liebt mich eben.“ Ferry grinste.

      „Söhnchen, das ist keine schlechte Idee, irgendwo muss noch meine Blue Jean im Kasten liegen, meinst du, dass ich damit eine gute Figur mache?“

      „Die beste, es wird dir gefallen, du wirst schon sehen.“

      „Also abgemacht, gegen Abend muss ich zu Annelie und Pepp fahren, ich glaube Thorsten hat die Schafplattern bekommen. Pepp sagte etwas davon zu Tanno in der Arbeit. Werde mal Salbei und Lindenblütentee zusammenpacken, das hilft ihm bestimmt. Jetzt fangen die Kinderkrankheiten an, gut, dass er noch nicht in die Schule geht und andere Kinder ansteckt.“

      Sie wühlte in der Schublade nach geeigneten Tüten, fand sie und holte die alten Blechteedosen herunter, die aufgereiht auf der Kredenz ordentlich nach Größe aufgeschlichtet standen. Sie füllte die getrockneten Blätter getrennt in die kleinen Säckchen ab und schloss sie mit einem Gummiband zu.

      „Ich habe viel zu berichten“, sagte Ferry wieder und machte dabei ein bekümmertes Gesicht, „es ist keine angenehme Geschichte, ich hoffe, ihr drei Frauen könnt es dann verkraften.“

      „Du bist wieder hier, zwar ziemlich geschunden angekommen, aber ich bin glücklich, dass du alles überstanden hast, auch wenn es nichts gebracht und noch weniger genutzt hat.“ Senta umarmte ihren Sohn von hinten und wiegte ihn.

      „Es gibt noch eine Alternative liebe Mutter, oder hattest du geglaubt ich gebe so schnell auf? Eines Tages werde ich nach Lourdes fahren.“ Zuversichtlich betrachtete er seine Mutter, die sich kopfschüttelnd und seufzend ins Schlafzimmer begab um ihre Jeans zu suchen.

      Die Geschichte ließ Ferry keine Ruhe. Verzweifelt grübelte er auf dem Bett, mit flatternden Herzrasen versuchte er ruhig sitzen zu bleiben. Um sich abzulenken schaltete er wieder das Radio ein, wechselte laufend den Sender der nur klassische Musik anbot. Keine passende Musik war zu finden die ihn aufmuntern konnte, so beschloss er, sein Motorrad zur Tankstelle zu schieben um es voll tanken zu lassen. Doch das Geld fehlte, er besaß keine einzige Münze mehr. Von Papiergeld konnte schon gar keine Rede mehr sein. Ob Senta noch etwas für den Sprit übrig hätte? Schließlich musste er so schnell wie möglich ins Krankenhaus zu Franzine, das arme Ding hätte beinahe ihr Leben verloren, langsam, ohne dass es ihr bewusst gewesen wäre.

      Die unaufhaltbare Sehnsucht nach ihm hätte Franzine beinahe vernichtet. Was fühlt ein Mensch, der über alle Maßen liebt, das Gefühl dieser unsagbaren Liebe in sich trägt, die sie fast erdrückt, ja die Seele bis zum Ersticken zuschnürt? Jegliche Kraft aus dem Körper saugt und wie ein Betonklotz auf der Brust liegt, sich nicht bewegt und versucht bis zu ihrem Atem vorzudringen. Die Luft abschneidet, den Magen geschlossen hält und mehr Tränen erzeugt als je ein anderes Gefühl? Sämtliche Schleusen öffnet, den Organismus beschleunigt, sogar den Trakt des Verdauens auf raschere Weise ankurbelt, so, als ob es keine Zeit mehr gäbe. Die Schuld wäre bei ihm zu suchen gewesen, das wurde ihm schmerzlich bewusst, wie hätte er je damit umgehen können?

      Senta kam aus dem Schlafzimmer, schwenkte eine fast neue Blue Jeans hin und her und rief:

      „Wir können los, sieh mal, wie neu ist sie, einen Pullover noch darüber angezogen, und, Söhnchen, binde mir bitte das grüne Band noch in die Haare, es wird windig sein bei der Fahrt. Falls das Vehikel leer ist, hier hast du Geld für Benzin, nimm es…wir müssen uns beeilen wenn ich heute noch zu Annelie soll. Geh schon….lass auftanken.“ Sie legte die Schürze ab, entledigte sich den Kleidern, zog sich die Hose an und richtete sich auf.

      „Danke Mutter…ich danke dir“, Ferry nahm das Geld entgegen, dann legte er seiner Mutter das Band straff auf ihr weißes Geflecht, dass sie am Hinterkopf fest mit Haarnadeln festgesteckt hatte. Sie sah nun um Jahre jünger aus, die weißen Haare wirkten um ihr Gesicht beinahe wie Engelshaar, dass ihr nun mit dem grünen Band eine jugendliche Note verlieh.

      „Ich bin gleich zurück“, meinte Ferry und ging schnellen Schrittes nach unten zu seinem Motorrad, dass er eilig zur nächstgelegen nur 500 Meter entfernten Tankstelle schob.

      Gutgelaunt kam er nach 20 Minuten angebraust und pfiff nach seiner Mutter, die langsam aber zuversichtlich die Stufen hinunter schritt.

      Anstatt der fünf Tage die sich Franzine erhoffte, begann schon in zwei Tagen die dritte Woche, die sie im Breicker Krankenhaus zubringen musste. Ihr Arm wies ein riesiges Hämatom in der Armbeuge auf, die Infusionen, die sie täglich erhielt, spürte sie nicht mehr, sie fühlte keinen Schmerz an der Stelle, wo ihr die Nadel fast bis auf den Knochen hinein gestochen wurde. Die stärkende Lösung, die ihr in die Blutbahn floss, schien sie wieder kräftiger werden zu lassen. Sogar ihre flachen Wangen wiesen eine zart rosa Farbe auf, die Waden nahmen wieder Form an dank des täglichen Spazierganges nach dem Mittagessen im Krankenhauspark. Ihr Appetit hielt sich in Grenzen,