Anita Florian

Die Ungeliebten


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aufgewühlte Männerstimme, „aber sie sagte doch Zimmer Nummer 12.“ Senta, die dicht hinter Ferry den Raum betrat schaute sich um.

      „Aber da sind sie doch, sieh nur, das Bett neben dem Fenster, sieh nur hin.“ Senta erkannte Franzine sofort, die nun den Spiegel weglegte und endlich aufsah. Freya drehte sich um und erblickte Ferry mit einem Buch in der Hand, dahinter Senta, die ein Sträußchen blauer Glockenblumen hielt. Mit einem Mal erfüllte eine Stille den Raum, eine Stille für Augenblicke, die zum Durchschneiden gespannt war. Freya stand auf, ging auf den Gang hinaus um die beiden Liebenden in dieser Begrüßungsminute nicht im Wege zu sein. Senta legte das Sträußchen auf das Bett und folgte Freya nach.

      Starr stand Ferry vor Franzine, überwältigt von ihrer Schönheit, hingerissen von ihrem Haar, dass wallend die Bettdecke berührte, nun für ein paar ungewohnte Augenblicke offen ihren Körper bedeckte.

      „Ich…..“, begann er stockend zu sprechen, fand kaum Worte um sein Entzücken anzudeuten, die Sprache war ihm förmlich abhanden gekommen. Franzine, ebenso überrascht und überwältigt auf diesen unvorhergesehen Besuch, hätte am liebsten einen lauten Freudenschrei ausgestoßen. Ferry kam näher, beide sahen sich in die glücklichen, strahlenden Augen, dann folgte eine Umarmung die Franzine beinahe die Luft zum Atmen stahl. Das mitgebrachte Buch, Michael Kohlhaas von Heinrich von Kleist, fiel mit lautem Knall zu Boden. Die Anwesenden im Raume blickten freudig dem Paar entgegen, die Frauen bekamen Tränen in die Augen die Männer grinsten, die Kinder standen mit offenem Mund da. Eine rührende Szene, die nicht alle Tage geboten wird. Nur die leblose Frau schlief, kein Laut war aus ihrer Ecke zu hören. Die Schwester kam wieder herein um nach ihr zusehen, verfolgte lächelnd das Wiedersehen der beiden Liebenden und fühlte den Puls der schwerkranken Patientin. Leise schlich sie danach wieder hinaus, nach ein paar Minuten verabschiedeten sich auch die restlichen Besucher, wünschten ihnen viel Glück und schlossen die Tür kaum wahrnehmbar zu.

      „Ich hätte dich niemals verlassen können…niemals“, Ferry küsste ihr aufblühendes Gesicht, im seligen Taumel lehnte sich an ihm.

      „Ich dachte, ich werde dich nie wieder sehen“, stammelte sie unter Freudentränen und schmiegte sich wieder an seine Schulter.

      „Ich liebe dein Haar“, flüsterte er, knetete sie etwas durch, was ihm Wohlbehagen bereitete.

      „Du wirst alles erfahren, vielleicht war es eine unglückliche Zeit dich im Unklaren zu lassen, das wird sich ab nun ändern. Ich habe eine lange Reise hinter mir, eine Reise, die sich ins Ungewisse ergeben hat, die mich enttäuscht hat und die mir eine der wenigen Hoffnungen geraubt hat.“ Ernst setzte er sich zu ihr auf das Bett, streichelte ihre Wangen und strich ihr wieder über das offene Haar.

      „Ich weiß Bescheid“, erwiderte sie, „ Annelie hat es mir gesagt, ich suchte sie auf als ich nicht mehr weiterkonnte.“

      „Annelie…“, wiederholte er, fast schien es, als ob es ihm widerstrebte, dass sie Franzine eingeweiht hatte.

      „Was hätte ich machen sollen? Du hättest dir denken müssen, dass ich vor Sorge fast verrückt geworden wäre, deine Eltern suchte ich nicht auf, ich hatte Angst davor. Aber nun verstehe ich wenigstens, was dich bewogen hat, dir diese Reise aufzubürden, deinen Wunsch nach übersinnlicher Hilfe…“, sie stockte, dies ging bereits über ihre vernünftige Denkweise hinaus.

      „Das kannst du auch nicht verstehen, deshalb werde ich von Anfang an berichten, wir holen unsere Mütter herein, dann erzähle ich euch alles der Reihe nach. Senta tut so, als ob sie es verstünde, aber sie hat keine Ahnung davon. Natürlich wäre es das Beste gewesen, das Ganze zu lassen, aber ich gebe nicht auf, ich will meine Mutter geheilt sehen, lachend, mit rosigen Wangen, wieder einen gesunden, kräftigen Körper, sie still atmen zu hören, nicht immer Angst haben zu müssen, dass sie eines Tages, nur wenn sie auch nur ein Taschentuch vom Fußboden aufhebt, vor Atemnot die Besinnung verliert und nie wieder aufwacht.“ Seine Argumente waren zwar überzeugend, aber nicht kräftig genug um daran zu glauben.

      „Bitte hole sie herein, ich bin bereit alles anzuhören was du erlebt hast. Auch wenn es hart kommt, nimm dir bitte kein Blatt vor den Mund.“ Franzine war tapfer, sie brannte darauf alles zu erfahren, vielleicht auch zu verstehen. Nachdem er das Buch aufgehoben und es ihr in die Hand gedrückt hatte, holte er die beiden Frauen herein, zog zwei Besucherstühle an das Bett, sie setzten sich und warteten auf seinen Bericht. Und er begann von Anfang an, holte tief Luft, nahm noch einen großen Schluck Tee aus Franines Tasse.

      Im Alter von 14 Jahren erlebte er einen der schlimmsten Anfälle seiner Mutter, als er abgehetzt und hungrig aus der Schule gerannt kam. Nachdem er die Tür aufgerissen hatte, fand er Senta am Boden liegend, bläulich im Gesicht und stark röchelnd vor. Von Panik gepackt, lief er ins Freie, den Mund weit geöffnet, versuchte er zu schreien, doch kein Laut kam aus seinem Hals. Eine Nachbarin, die gerade ein Fenster geöffnet hatte um frische Luft einzulassen, bemerkte den völlig verstörten Jungen im Hof hin und her rennen. Sie rief seinen Namen, doch er reagierte nicht, lief wie von Bluthunden gehetzt, vor den Holzschuppen umher. Schnell lief sie zu ihm hinaus, packte seine Schultern und schüttelte ihn kräftig. Er konnte noch immer nicht sprechen, das Gesicht war zu einer erschreckenden Grimasse verzogen, Speichel floss aus seinem Mund, versuchte ständig Worte zu formulieren die aber in einem Würgelaut untergingen. Seine Augen, an das Fenster im ersten Stock gerichtet, ließen vermuten, das dort oben was Schlimmes geschehen sein musste. Die Nachbarin zog Ferry an der Hand in die Wohnung hinauf. Zitternd folgte er ihr nach, langsam öffnete sie die Küchentür, gefasst darauf etwas Grauenhaftes vorzufinden. Es war bekannt, dass Senta mit schlimmen Asthmaanfällen zu kämpfen hatte. Senta hatte sich wieder aufgerappelt, noch immer wies ihr Gesicht eine ungesunde, nun gelbliche Farbe auf, kraftlos hielt sie sich an der Sessellehne fest und keuchte furchterregend die gerade hereingestürmten Menschen an. Fast war sie wieder auf den Beinen, der Überlebenswille, der sie nun gepackt hatte, scheint auch diesmal wieder zu siegen. Ferry atmete durch, nach und nach fing er sich wieder, er stürmte zur Wasserleitung und spritzte seiner Mutter kaltes Wasser ins Gesicht und freute sich, dass sie sich wieder erholte. Die Nachbarin klopfte ihm auf die Schulter, lobte ihn, fragte Senta nach etwaigen Wünschen, sie verneinte jedoch und bedankte sich. Nachdem sie alleine waren, umarten sie sich, Ferry konnte wieder sprechen und war überaus erleichtert, dass alles wieder gut wurde. Als ob nichts geschehen war, aßen sie die köstliche Bratwurst mit leckeren Bratkartoffen, scharfen Senf und Krautsalat mit großem Appetit.

      Der Anlass für Sentas Anfall galt Tanno, er hatte sich in der Arbeit an der Schleifmaschine die linke Hand aufgeschürft ,mit blutüberströmtem Arm kam er nach Hause, wusch sich das Blut ab, legte Zugsalbe an, verband seine Hand dick mit Mull und verschwand in seinem geliebten Wald, an die Stelle, wo er sich sein Lager aus Moos gebaut hatte um dann Ruhe Frieden zu finden.

      Sentas Anfälle kamen in unregelmäßigen Abständen, manchmal waren sie so leicht, das sie nur hustete, nach Luft schnappte und nichts weiter geschah. Dann wieder waren sie so schlimm, dass sie am Boden liegend, mit weit aufgerissenem Mund den Tod in die Augen sah. Doch im letzten Moment schien er wieder von der Schippe zu springen, Senta rappelte sich dann langsam wieder auf und bekam wie durch ein Wunder wieder Luft.

      Damit lebten sie schon seit Jahren. Die Familie ängstigte sich fast zu Tode, doch Senta schien eine Natur aus Stahl zu haben.

      Als Ferry älter wurde begann er viel zu lesen, besorgte sich Romane von namhaften Autoren, berühmten Dichtern und angesagten Schriftstellern. Oft lag er im Bett in der Küche, in den Händen ein Buch, vertieft in den hoch interessanten Inhalt, ließ er sich von niemandem stören. Er verhielt so leise, dass man glauben mochte, er wäre gar nicht anwesend. Ganze Bücherstapel waren am Boden vor dem Bett aufgeschlichtet, einige davon lagen aufgeschlagen vor dem Radio.

      Als er sich die Einbände betrachtete, fiel ihm ein Band besonderer Art auf: Den Umschlag zierte ein in Gewändern gehüllter Pater, der Titel lautete, Pater Pio, der Stigmatisierte.

      Fast besessen begann er darin zu lesen, fasziniert von seinen Botschaften, Gebeten und wunderbaren Heilungen, die er nur mit der bloßen Hand durch auflegen erzielen konnte. Er legte das Buch nicht mehr aus der Hand. Gefangen von seiner Lehre, keimte in Ferrys Kopf ein Gedanke auf, ein Gedanke der unaufhörlich zu wachsen begann, den er