Anita Florian

Die Ungeliebten


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den Patienten, Freya ließ sich jeden zweiten Tag nach den Gesangsstunden blicken, brachte ihr kleine Blumensträuße, oder sprudelnde Frucade Limonade mit. Doch auch hier, - die Schwestern hatten kaum Zeit Franzine die Haare zu machen – bemühte sich Freya ihr die Zöpfe wieder straff zu flechten und sie für zwei Tage so zu lassen.

      Franzine langweilte sich. Ausgestreckt lag sie auf dem Bett und hielt die Augen geschlossen. Es war Nachmittag, die Luft war lau an diesem Junitag, Motorengeräusche, Vogelgesang und Rettungssirenen wechselten sich ab. Neben sich einen Stapel Bessy – Comics, die sie in der Krankenhausbibliothek entdeckt und sofort begeistert von Andy und seiner Colliehündin Bessy, die Westerngeschichten mit den Sprechblasen mit Eifer gelesen hatte. Natürlich angelehnt an die beliebte Fernsehserie Lassie, die sie aber nur aus den Zeitungen kannte. Ein Fernsehgerät konnten sich nur die wenigsten leisten.

      Einige Besucher hatten sich wieder eingefunden, im Zimmer wurde es beachtlich lauter, Gelächter, Papiergeraschel, Kapseln auf den Flaschen würden geöffnet, Kinder jammerten oder bettelten um Süßigkeiten. Franzine ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und dachte mit geschlossenen Augen nach. Sie musste es schaffen, so bald als möglich hier wieder weg zu kommen, in der Bibliothek gab es fast kein Buch oder Comic mehr, das sie nicht schon gelesen hatte oder kannte. Es wurde Zeit, das Leben außerhalb dieser Mauern wieder zuzulassen. Der Alltag muss sie bald wieder aufnehmen, und, was vielleicht nicht unwichtig wäre, eine geeignete Anstellung finden, eigenes Geld verdienen, sich etwas anzusparen und auch was Kostspieligeres gönnen. In einem Jahr kommen die Zöpfe weg, nein, es sind genau genommen eineinhalb Jahre, die müssen noch durch gestanden werden. Ferry wird bald in Vergessenheit geraten sein, es tut noch verdammt weh, ihn nicht mehr zu sehen, doch auch diese Zeit wird sich wenden, und zwar zum Guten. Eines Tages, liebe Mitmenschen, werde ich die modischste, bestgekleidetste Frau in der ganzen Umgebung sein. Mit diesem Gedanken und einem sanften Lächeln um den Mund, versank sie in Schlummer.

      Leise betrat Freya das Krankenzimmer, in der Hand hielt sie ein dickes Buch, „Vom Winde verweht“ das vor langer Zeit die Gemüter erregte und es mindestens schon fünfmal gelesen hatte. Margaret Mitchells einziger Bestsellerroman durfte in keinem Haushalt fehlen, war ihre standhafte Meinung.

      Franzine schlief, der Lärm im Zimmer war etwas abgeklungen, manche Besucher waren schon längst gegangen. Das Kofferradio eines Patienten spielte das wöchentliche Wunschkonzert. Musikwünsche von begeisterten Hörern wurden im Radio namentlich durchgegeben, die Freude im ganzen Sendegebiet den eigenen Namen aus dem Rundfunkgerät zu hören, schlugen hohe Wellen. Leise klang das Violinkonzert A-Dur Köchelverzeichnis 219 von Wolfgang Amadeus Mozart in den Raum und füllte ihn mit beruhigenden Klängen. Freya setzte sich am Bettrad nieder und betrachtete ihre Tochter. Bildete es sie sich es nur ein, oder war der kummervolle Ausdruck, der ihr Gesicht schon seit Wochen bedeckte, endlich gewichen? Sanft zeichneten sich die Züge um ihren Mund ab, die Lippen schienen voller und die Röte erschien ihr noch intensiver als noch vor zwei Tagen. Sie atmete langsam und still, ein kleiner Nerv zuckte an ihren Augenlidern, die Wangen schienen sich langsam wieder zu füllen. Die Infusionsflasche wurde schon vor ein paar Stunden entfernt und hinausgerollt. Das Stück Apfelkuchen auf ihrem Nachttisch war halb aufgegessen. Die Anzeichen versprachen Gutes. Sie nahm den Stapel Comichefte und legte sie in die Ablage des Nachtkästchens. In einem der Hefte riskierte sie einen kurzen Blick und schüttelte den Kopf. Dieses neumodische Zeug, das gezeichnete Figuren enthielt, versehen mit Sprechblasen, ja sogar Gewalt enthält, konnte man nur als Schund bezeichnen. Da muss noch ein ernstes Wort mit Franzine gesprochen werden, ihr klarmachen, dass sie nicht dulde, wenn sie, die an den Haaren herbeigezogenen Geschichten, in sich aufsog. Gleich im Vorhinein den Keim ersticken, bevor er vielleicht zu wuchern anfängt.

      Freya legte ihren Mantel ab, hing ihn an den Ständer und setzte sich wieder zu Franzine auf die Bettkante. Auf keinen Fall wollte sie ihre Tochter wecken, sanft strich sie ihr übers Haar, die Zöpfe hinter ihrem Rücken versteckt, das aus dem Geflecht gelöste Haar lag wie ein Flaum auf ihrem Kopf. Eine neue Patientin wurde hereingebracht, wie leblos lag sie auf dem Rollbett, ihr fülliges Gesicht wies eine sonderbar bleiche Farbe auf. Die Rettungsmänner schoben sie auf einen Platz neben den leeren Betten, die Frau bewegte sich nicht. Die Besucher betrachteten sie entsetzt, den Kindern wurde der Kopf zur Seite gedreht. Die Ärzte füllten das Krankenblatt aus und hängten es an die Bettvorderseite. Tee wurde ihr von einer der Schwestern auf den Nachttisch gestellt, der große weiße Porzellanbecher wurde aufgefüllt.

      „Wir müssen abwarten und ihr zu trinken geben wenn sie aufwacht“, meinte sie kopfschüttelnd und strich über ihr straff gestärktes Schwesternhäubchen.

      „ Sie schafft es schon“, meinte der Arzt, steckte seinen Kugelschreiber an die Brusttasche seines weißen Mantels und verabschiedete sich.

      „ Sehen Sie alle dreißig Minuten nach ihr“, meinte er beim Hinausgehen, „ geben Sie mir Bescheid wenn sie aufwacht.“ Die Schwester nickte freundlich und fühlte noch den schwachen Puls der Frau.

      Franzine wachte auf, schläfrig bewegte sie ihre Arme, ihre Augen öffneten sich langsam.

      „Guten Tag Mama“, sagte sie leise und lächelte. Sie richtete sich auf und umarmte ihre Mutter.

      „Schön dich zu sehen, mein Kind, fast siehst du wieder blühend aus, mach nur so weiter, eine größere Freude könntest du mir nicht machen. Ich merke, dass es mit dir wieder bergauf geht, du wirst bald entlassen werden, ich bin sehr froh darüber.“ Freya holte aus ihrer Tasche ein kräftiges Schwarzbrot mit Salami heraus und reichte es Franzine. Sie nahm es dankend an und biss herzhaft ein großes Stück ab. Es tat gut, ihre Tochter essen zu sehen, zu wissen, dass es ihr wieder schmeckte. Prompt aß sie das große Stück auf, zur Freude Freyas, die in diesem Augenblick nicht glücklicher sein konnte. Sonnenstrahlen durchflossen das Zimmer, Schlagermusik drang nun aus dem Kofferradio, nur die bleiche, leblose Frau lag in ihrem Bett und schlief.

      „Hm, ein Neuzugang“, bemerkte Franzine, „oh mein Gott, die sieht ja wie tot aus.“

      „Schrecklicher Anblick, die Ärmste, was ihr wohl fehlt? Wenn es ansteckend wäre, hätte man sie bestimmt in ein Isolationszimmer gebracht. Hoffen wir, das es ihr bald wieder gut geht.“

      Freya beschloss, ihren Besuch bei den Tennenbachs nicht zu erwähnen, sie war sich unschlüssig ob Ferry sein Wort halten und tatsächlich kommen würde. Falls er aufkreuzte, die Überraschung für Franzine könnte sich als perfekt entpuppen. Ihren geliebten Freund nach so langer Zeit wieder zu sehen, würde ihr wieder Aufschwung bringen, sie wieder lebensfroher und glücklicher machen. Die Zeit verging, Freya blickte auf ihre Armbanduhr und seufzte.

      „Ist etwas Mama, musst du wieder weg?“ Franzine bemerkte ihre Ungehaltenheit sofort.

      „Keine Sorge, ich bleibe noch eine Weile. Deine Haare müssten wieder neu geflochten werden, sie sehen ja schon struppig aus.“ Mit den Mundwinkeln nach unten nickte Franzine wohl oder übel. Und schon machte sich Freya an die Arbeit, hieß Franzine sich aufzusetzen und lockerte die roten Maschen, nahm die Bänder ab und löste das Geflecht auf. Mit Bürste und Kamm ausgerüstet kämmte sie Franzines Haar sanft durch, das weich und wellig über die Schultern bis zur Taille reichte. Wie ein Schleier umrahmte ihr wundervolles Haar ihr Gesicht, das ihr eine feenhafte Ausstrahlung verlieh. Wie aus Porzellan, schön geformt, wirkte das schmale Gesicht, das den anwesenden Besuchern und Mitpatienten ein anerkennendes Raunen entlocken ließ. Sie saß aufrecht im Bett, wirkte wie eine glückliche Prinzessin die gerade eben vom bösen Drachen von einem stattlichen Prinzen befreit wurde, nicht ahnend, dass ihr Prinz bereits auf seinem Motorrad saß und mit atemberaubender Geschwindigkeit mit Senta am Sozius, sich auf dem Weg zu ihr befand.

      „Willst du sie mir nicht wieder flechten?“ fragte Franzine erstaunt, fuhr sich mit den Fingern durchs lange Haar und betrachtete fragend ihre Mutter.

      „Im Augenblick nicht, lassen wir sie mal durchatmen, sie brauchen auch mal Erholung von der harten Prozedur.“ Freya zwinkerte ihrer Tochter zu, die sich überrascht zu freuen begann. Die Bürste und Kamm legte sie auf den Nachttisch, ein Zeichen, das ihr doch wieder, bevor ihre Mutter den Heimweg antrat, die ungeliebten Zöpfe verpasst wurden.

      Hurtig wurde die Tür aufgerissen. Beide Frauen achteten nicht darauf, Franzine betrachtete