Heinz-Jürgen Schönhals

Ulrike D.


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hohen, leicht vorspringenden Stirn erschienen zwei angedeutete Querfalten, und von dem braunen, schwach gewellten Haar, das er locker nach hinten gekämmt trug, löste sich plötzlich eine Strähne und fiel ihm seit­lich in die Stirn. Alles in allem kein beson­deres, kein bedeutendes Gesicht, dachte Elmar, nichts außer diesem seltsamen Augenleuchten deutete auf das Außergewöhnliche an diesem Jungen hin, auf diese fast suggestive Erzählbegabung, welche in Elmar die Begeisterung für das Pfadfindertum fast schlagartig geweckt hatte, dass er spontan beschloss, der Sippe Paul Gerhard beizutreten.

      Noch heute sieht er Walters hohe Gestalt vor sich, wie sie sich ruckartig abwandte und, einen riesigen, flackernden Schatten an die Wand des Turmzimmers werfend, auf die Tür zuging, begleitet vom donnernden Akklamationsgetrommel der Zurück­gebliebenen. Noch einmal sich umwendend und alle Pfadfinder mit erhobener Hand grüßend, verließ er das Zimmer und schloss die Tür. Draußen hörte man noch eine Weile seine schweren Tritte auf der Holztreppe, bis sie, allmählich leiser werdend, in der Tiefe ver­hallten.

      Gerhard Nebel, designierter Sippenführer, Noch-Unterführer und seit Jahren auf dem Sprung in das von ihm begehrte Amt, begann nun zu ’regie­ren’, zunächst, indem er die Pfadfinderrast, vorne auf Walters Stuhl Platz nehmend, fortsetzte. Er war es nun, der den Ton angab, und zwar den Ton im wirklich­en Sinne des Wortes, denn er sagte eben gerade ein Lied an und begann es sogleich zu singen, während die anderen, den Text von einem Liederbuch ablesend, einfielen:

      „Kameraden, wir marschieren,

      wollen fremde Welt durchspüren,

      wollen fremde Sterne sehn.

      Kameraden, wir marschieren,

      lasst die bunten Fahnen wehen.

      Kameraden, unsre Speere

      schleudern wir von Heer zu Heere,

      fechten wolln wir nur zum Schein.

      Kameraden unsre Speere

      sollen stumpf und arglos sein.

      Kameraden, fremde Sterne,

      silbern blinken sie von ferne,

      künden von des Ewigen Macht.

      Kameraden, fremde Sterne

      leuchten uns in schwarzer Nacht.

      Kameraden fremder Welten

      wachen nachts bei unsren Zelten,

      wenn die Feuer tief gebrannt.

      Kameraden fremder Welten

      singen leis’ von ihrem Land.“ -

      Gerhard Nebel ging nach diesem Gesang sogleich zum zweiten Teil der Pfadfinder­sitzung über: Es wurden Knoten geübt. Die Unterführer und provisorischen Unter­führer zeigten den anderen zu­nächst einige Abbildungen der Knoten, die heu­te ge­bunden werden sollten: Das waren der ein­fache und der gekreuzte Weberknoten, der Trompeten­stich, der Mastwurf und der Fischerknoten. Sodann führten die Pfadfin­derführer sie den einzelnen Gruppen, die rasch gebildet wurden, vor, bis sie meinten, jeder könnte schlecht und recht einen knüpfen. An­schließend folgte ein kleiner Wett­bewerb, bei dem die Gruppen in einem spielerischen Kampf die verschiedenen Kno­ten so schnell wie möglich binden mussten, wobei jedes Gruppenmitglied einen be­stimmten Knoten zu knüpfen über­nahm. Nach dem Startzeichen begannen die ’Kom­battanten’, angefeuert von ihren Mitkämpfern, wie wild an den vor ihnen liegenden Seilen he­rumzufingern, drehten, wanden, wirbelten, schlangen und schlugen deren Teile umeinander, durcheinander, aneinander, in der Hoffnung, das Knotengebilde schnellstmöglich herzustellen. Elmar nahm sich den Trompetenstich vor. Als er an die Reihe kam, stürzte er sich in den Kampf, ergriff mit Feuereifer das Seil und wer­kelte daran herum, verhedderte sich aber bald und brachte vor Aufregung nur ein un­förmiges Gewinde zuwege; es hatte nur entfernt Ähnlichkeit mit dem Trompeten­stich und fand infolgedessen keine Gnade vor dem prüfenden Auge des Sippenführ­ers. Seine Gruppe wurde durch seine Schuld letzte, aber das verdross ihn überhaupt nicht, denn seine Mitstreiter zeigten keine Spur von Häme, sondern redeten ihm im Gegenteil freundlich zu, er solle sich nichts da­raus machen.

      Nachdem sie das Knotenspiel beendet und die Siegermannschaft ausgerufen war, folgte der Vorleseteil. Ein Unterführer, Hans Eckart mit Namen, galt als Vorleser vom Dienst, denn wie selbstverständlich schob Gerhard ihm ein Buch hin und wie selbstverständlich begann Hans sogleich mit seinem Lesevortrag. Er las aus einer Abenteuergeschichte vor, fließend, mit heller, klarer Stimme, die Tonhöhe angenehm wechselnd, aber nicht so, dass es manieriert klang, und man hörte ihm deshalb gerne zu. Die Helden der Geschichte waren drei Pfadfinder aus einer Sippe namens „Parsi­fal“. Die Drei be­kamen von ihrem Sippenführer den Auftrag, zu einem behinderten, an den Rollstuhl gefessel­ten und in ärmlichen Verhältnissen lebenden Jun­gen zu fah­ren, der irgendwo in einem Vorort von F*** wohnte. Sie sollten ihm eine Einladung zu einem einwöchigen kostenlosen Aufenthalt im Pfadfinderlager „Haus Sternbald“ überbringen. Die drei Pfadfinder radelten also los und suchten nach der Adresse des freudlos dahinlebenden, unglücklichen Jungen; dabei gerieten sie in die unübersicht­lichen Gänge eines noch unfertigen Hochhauses. In einem der unteren Stockwerke sollte der Junge bei seinen Eltern wohnen. Als sie in eine nichtabgeschlossene Woh­nung eindrangen und sich dort umsahen, merkten sie zu spät, dass dies nicht nur die falsche, sondern obendrein eine gefährliche Adresse war. Nachdem sie sich einige Minuten still verhalten und leisen Stimmen, die aus einem Zimmer drangen, ge­lauscht hatten, mussten sie erschrocken feststellen, dass da eine Gangsterbespre­chung im Gange war; Krimi­nelle berieten über Raub und Einbruch in eine Fabrik, ein Nachtwächter sollte überfallen und nötigenfalls abgeknallt werden. Pläne dazu wurden geschmiedet, wieder abgeändert, wieder verworfen und neu konzipiert. Man hörte teils heisere, teils Ruhe gebietende, oft erregt klingende Stimmen. Einer der Jungen stieß ungeschickter Weise gegen eine Tür, was ein Geräusch verursachte. Ehe sie fliehen konnten, wurden sie von den Gangstern, die aus dem Zimmer stürzten, entdeckt und gefangengesetzt. Sie befanden sich jetzt in höchster Lebensgefahr, sie galten ja gewissenlosen Verbrechern als Zeugen des Raubplanes. Gefesselt an Beinen und Armen sperrten die Gangster sie in einen Raum, wo sie von einem der Kriminel­len bewacht wurden, indessen seine Komplizen den Raub ausführten. Der Bewacher nun benahm sich derart sadistisch den Pfadfindern gegenüber, dass er die drei wehr­losen Jungen in noch größere Angst versetzte. An dieser Stelle, wo es gerade am spannendsten war, stoppte Ger­hard Nebel den Lesevortrag und befand, die Fortset­zung solle in der nächsten „Rast“, am kommenden Mittwoch, gelesen werde.

      Ein leises Protestgemurmel lief rasch durch die Reihen der Jungen; auch Elmar hätte gerne Näheres über das Schicksal der Pfadfinder erfahren, und zwar jetzt, in diesem Augen­blick. Wie die anderen auch konnte er seine Ent­täuschung nur mit Mühe ver­bergen. Doch Gerhard, voll Genugtuung über diesen gelunge­nen taktischen Zug, blickte grinsend in die Runde; die Jungen, begierig auf die Fortsetzung der Abenteu­ergeschichte, würden die nächste Sit­zung auf keinen Fall versäumen wollen. Dann erging das Kommando „Liederbuch Seite 35 aufschlagen!“, und folgendes Lied wur­de gesungen:

      Früh morgens zieh’n wir durch Wald und Flur

      Lassen lustige Lieder erklingen,

      Wir erkunden Gottes schöne Natur,

      Die verschlafene Welt hört uns fröhlich singen.

      Lasst gute Stimmung walten, Brüder!

      So ruft uns der Fähnleinführer zu,

      Schon klingen von neuem unsere Lieder

      Gleich erwachen die Vöglein aus ihrer Ruh.

      Ein Buchfink trällert erste Lieder,

      Herüber tönt der Amsel Schlag,

      Ein schläfriger Waldkauz putzt sein Gefieder

      Eine Lerche freut sich am jungen Tag

      Ein Rehbock äugt vom Waldrand herüber

      Ein Rehkitz trinkt am Gesäuge der Geiß,

      Im Wasser