Heinz-Jürgen Schönhals

Ulrike D.


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Die beiden ersten Schlachtreihen seien einander gegenübergetreten, das Startzeichen wurde gegeben, und schon flogen, begleitet vom Johlen und Hurra-Geschrei der Kämpfenden, die Speere hin und her, während die Triller des Schiedsrichters Treffer und Tod, das heißt den Abgang der „Ge­fallenen“ zu einem “Toten-Sammellager“ signalisierten. Er, Walter, habe fünf Räuber erledigt, bis auch ihn das Schicksal ereilte, das Polster eines gegnerischen Speeres traf sein rechtes Knie mit har­tem Schlag, aber ohne ir­gendwie weh zu tun, und die Trillerpfeife habe „gesungen“. Erhobenen Hauptes zog er darauf ab in die ’ewigen Jagdgründe’. Zuletzt blieben zwei Kontrahenten üb­rig: O.K.H von der Sippe Paul Gerhard, ein Gendarm, und Thomas Lattemann, der Anführer der Räuber, ein Pfadfinder-Unterführer von der Sippe „Mar­tin Luther“ aus G***. Es habe jetzt ein echter .Einzelspeerkampf begonnen. Sippenführer Walter, der sich förmlich in Begeisterung hin­einredete, was sich sofort wieder auf die Anwes­enden übertrug, schilderte diesen Zweikampf jetzt so: „Herr Wagenbach steckte ein Feld ab, mitten in der Menge der zuschauenden Pfadfinder, denn die ge­fallenen „Räuber“ und „Gendarmen“ waren in­zwi­schen aus ihrem Sammellager wie­der herbei­geeilt und bildeten eine dichte Kulisse. Die beiden Kämpfer legten je fünf Speere neben sich auf den Bo­den, schüttelten sich noch einmal kameradschaftlich die Hand, dann, auf ein Kommando, ging der Kampf los: Thomas zielte auf OKH’ s Füße, warf mit hartem Stoß den ersten Speer schräg von oben nach unten, doch mit blitz­schnellem Grätschsprung wich OKH aus, um sogleich, noch im Fluge, seine Waffe Richtung Knie des Gegners “abzufeuern“. Thomas, ebenfalls flink und reaktio­nsschnell, warf sich zur Seite, so dass der nicht allzu hart gestoßene Speer ins Leere flog. Jetzt tänzelten, dribbelten, hopsten beide auf ihren Feldern hin und her, belauerten sich gegenseitig, spähten nach einer Chance, spitzten auf eine momenta­ne Nachlässigkeit, auf eine Unkonzentriertheit des anderen. Plötzlich: wieder ein Stoß, wieder ein Sprung, und pfeil­artig glitt der Speer, von OKH geschleudert, über den Waldweg ins Leere. Der Kampf wurde härter. Beide standen sich in einiger Ent­fernung von der Mittellinie nahezu regungslos gegenüber, jeder beobachtete den an­deren noch schärfer als zuvor, nur der keuchende Atem ver­riet die Erregung, die An­strengung. Thomas hatte drei Speere aufgenommen, hielt zwei in der Rech­ten, einen in der Linken, OKH begnügte sich mit zweien. Mit einem Male haute Thomas eine ganze Serie von Würfen OKH vor die Füße, doch der, nicht faul, ließ seine Füße samt den angewin­kelten Unterschenkeln emporschnellen und schoss, wieder im Sprung, gleichfalls kurz hinterein­ander, seine beiden Speere ab, die aber Thomas, ebenso gekonnt, mit seinem letzten Speer ab­blockte. Die Kämpfer hatten jetzt jeder noch einen Speer, den sie sogleich vom Boden auf­nahmen. Da, plötzlich, Thomas strauchelt, viel­leicht vor Erschöpfung, fällt hin, hat für ei­nen kurzen Augenblick sei­ne Beine nicht unter Kontrolle; für OKH ein Kinderspiel, seinen letzten Speer in die richtige Richtung zischen zu lassen. Mit einem kurzen, trockenen „Blopp“ prallt der Speer gegen Thomas Lattemanns Schienbein, ein schril­ler Pfiff markiert das Aus, und ab ging Thomas ’zur großen Armee’!“

      Walter hatte geendet. Die Augen der Anwesenden, die schon während der letzten Er­zählpassagen dann und wann OKH kurz und ehrfürchtig gestreift hatten, richteten sich jetzt voll auf diesen. Karl-Heinz hatte ein glattes, hübsches Gesicht, blaue Au­gen und blondgelockte Haare, die ihm seitlich in die Stirn fielen und die er oft durch ein Schnicken ganz zur Seite beförderte. Zur Zeit schaute er ziemlich gelangweilt drein, so als wäre ihm die Herausstellung seiner Person lä­stig, doch ein kaum merkli­ches Glänzen seiner blauen Augen verriet, dass er insgeheim die bewundernden Bli­cke der Pfadfinder genoss. Auch die Gratulation derjenigen, die an dem Lager nicht teilgenommen, schien er nicht ungern, wenn auch widerstrebend, über sich ergehen zu lassen, eine Gratulation in Form einer trommelnden Akklamation, die auch Elmar mit seiner Faust auf dem Holztisch des Türmerzimmers ausführte. Der große Sieger des Waldspiels, das er für die Gendarmen und zur Ehre der Sippe Paul Gerhard ent­schieden hatte, nahm diese Anerkennung verdientermaßen entgegen, aber nach wie vor gleichmütig, beinah uninteressiert dreinschauend, als gehe ihn das alles gar nichts an.

      Walter Harms klappte sein Manuskript zu und ließ es samt einigen Schreibutensilien in einer Tasche verschwinden. Sein ganzes Verhalten ließ darauf schließen, dass er im Aufbruch begriffen war. So geschah es auch. Er müsse sich jetzt verabschieden, erklärte er, einen feierlichen Ton anschlagend. Dies sei seine letzte „Rast“ gewesen. Seine aktive Zeit als Sippenführer sei endgültig vor­bei. Schulische Pflichten riefen ihn, er stehe kurz vor dem Abitur, und dann komme die Zeit, wo er sich abnabeln müsse, wo er, ins Leben hinaustretend, sich einem anderen Kampf als bisher stellen müsse. Der Kampf seiner Jugend um den rechten Pfad zu Gott sei vorläufig beendet, aber er werde ihn in einer anderen Form weiterfüh­ren. Sein berufliches Ziel stehe fest, er werde Theologie studieren und später einmal seinen Dienst in der Nachfolge Jesu bei einer Kirchengemeinde antreten. Auch wenn dann die aufreibende Seelsor­ger- und Gemeindearbeit, vielleicht sogar, was er nicht hoffe, ein möglicher berufli­cher Wettbewerb mit anderen Pfarrern, Wettbewerb um die besonders interessanten Pfarrerstellen, viel Anspannung und Nervenkraft bedeuten könnten, gelte für ihn auch in Zukunft, in jeder Phase seines Lebens, die Parole des Pfadfinderliedes: ’All­zeit bereit’!

      Nach diesen Worten wandte sich Walter Harms zum Gehen; doch Gerhard Nebel, der Unterführer, bedeutete ihm durch Gesten, er solle noch einige Augenblick warten. Gerhard begab sich, eine Tasche unter dem Arm, zum Kopfende des Tisches, stellte sich neben Walter und begann die folgende Rede zu halten:

      „Lieber Walter! Wir alle, die Pfadfinder der Sippe Paul Gerhard, möchten dir für dei­ne als Sippenführer geleistete Arbeit von Herzen danken. Wir haben unter deiner Führung so viele herrliche Zeiten erlebt, so viele Abenteuer auf unseren Fahrten und Wanderungen - ich erinnere nur an unsere letzte Osterfahrt zum Rhein oder an die vorletzte in die Rhön; sie werden uns unvergesslich bleiben! Auch die Sippenge­meinschaften während der Pfadfinderlager in Haus ’Sternbald’ oder Haslachmühle oder auf den Pfingsttreffen der Stämme in Obermais sind mir noch stark in Erinne­rung; dann die Nachtwanderungen zum F.- Berg, auch einmal durch den Homberg, wo wir in der Dunkelheit beinah nicht mehr den Ausgang fanden und beinah im To­penbühl gelandet wären...., wie viel Abenteuerliches haben wir in deiner Zeit erlebt. Dafür danken wir dir. Für die jetzt bevorstehenden Abiturprüfungen wünschen wir dir alles Gute; erst recht für deinen weiteren Lebensweg und deinen Weg durch ein schwieriges Studium. Wir sind überzeugt, Gott wird seine Hand weiter über dir hal­ten, denn Gott ist – wie unser Lied es sagt – unser starker Hort; er wird seine Pfad­finder, die den steilen, schwierigen Pfad zu ihm suchen und finden wollen, niemals im Stich lassen. In diesem Sinne rufe ich dir unsere Pfadfinderparole zu: ’Allzeit be­reit zur guten Tat’!“

      Gerhard gab Walter die Hand.

      „Und hier, lieber Walter, möchte ich dir im Namen der Sippe Paul Gerhard zur Erin­nerung ein Buch übergeben....“

      Gerhard zog nun ein als Geschenk eingepacktes Buch hervor, das er in seiner Tasche aufbewahrt hatte, und reichte es Walter.

      „Es ist ein Buch, das du dir gewünscht hast: der Pfadfinderroman von Herbert Riebe­ling. Möge er dir in deiner freien Zeit viel Freude und Kurzweil bereiten!“

      Walter Harms, dessen Augen vor Freude strahlten, indessen sein Mund sich zu einem verlegenen Lächeln verzog, bedankte sich vielmals für die Worte seines Stellvertre­ters und für das Geschenk. Dann verabschiedete er sich der Reihe nach von den an­wesenden Knappen und Pfadfindern, die sich alle erhoben; er gab jedem die Hand, zuletzt auch Elmar, und dieser bekam einen Augenblick Ge­legenheit, sich dessen Ge­sicht genauer anzusehen: Es war ziemlich rund und von natürlicher brauner Farbe. Die erwähnten vollen Backen wirkten jetzt etwas schlaff, hingen leicht durch, wes­halb sein Gesicht einen Zug von Anspannung und Mü­digkeit erhielt. Der Mund war breit, die Lippen etwas wulstig. Während die Nase stark vorsprang, wirkten die blauen Augen zurückliegend und klein, aber sie strahlten immer noch jenes Leuchten aus, welches Elmar eben wieder, als dem Sippenführer das Buchgeschenk überreicht wurde, aber auch vorhin während seiner Er­zählungen aufgefallen war. Fast hatte es den Anschein, möglicherweise wegen der zuletzt von Gerhard Nebel gesprochenen gefühlvollen Worte, als wären Walters Augen feucht, als hätte ihn dieser endgültige Abschied von seiner Zeit als Pfadfinder, die er - nach eigenen Worten - auch als Abschied von seiner Jugend empfand, stark ergriffen und