Heinz-Jürgen Schönhals

Ulrike D.


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      ‚Allzeit bereit zur guten Tat,

      Vollbringe sie für Gott,

      Auf such’ den schmalen, rauen Pfad,

      Acht’ nicht auf Hohn und Spott.

      Hoch halt’ die Wahrheit, hoch das Recht,

      Verzage nie im Leid,

      Denn Gott wird helfen seinem Knecht,

      Allzeit ist er bereit’.

      Die Verse gefielen ihm nicht sonderlich, wohl aber das, was sie aussagten: das mit den guten Taten, mit der Wahrheit und Gerechtigkeit und dass Gott einem dabei hel­fen werde. Ist es nicht etwas Schönes, Edles - dachte er, während er die Strophe noch einmal langsam durchlas - für die Wahrheit und die Gerechtigkeit mit ganzer Person einzustehen, für Ziele, die man nur als groß, bedeutend, menschenwürdig einschät­zen kann? Und was heißt ’ein­stehen’ anderes, als für solche erhabenen Ziele zu kämpfen, zu leiden, not­falls sogar, und dies unterstellte er einfach in einer plötzli­chen Gefühlsauf­wallung, obwohl darüber in der Lied­strophe gar nichts stand, not­falls sogar zu ster­ben? Dass man dabei selbst - folgerte er - nur ein guter, gerechtig­keitsliebender Mensch werden könnte, machte ihm die Sache vollends sym­pathisch!

      Während er weiter über den Sinn der Liedstrophe nachdachte und dabei in einem fort auf die unter ihm brausende Kleinstadt schaute, fühlte er sich plötzlich von Kar­l-Heinz Gerber unsanft am Arm ge­packt.

      „Los!“, rief er ungeduldig, „wir müssen uns beeilen, die Rast hat schon längst begon­nen.“

      Sie gingen jetzt zu einer anderen Tür, welche den Einstieg in den oberen, runden Teil des Johannisturmes markierte, der wie eine Haube auf dem quadratischen Mittel­stück aufsaß, und auf einer dies­mal spiralförmig nach oben führenden Stein­treppe er­reichten sie einen bogenförmigen, überdachten und nur von einer funzeligen Glüh­birne dürftig erhellten Gang und standen bald wieder vor einer Tür, vermutlich dem Eingang zum ehemaligen Türmerzimmer. Karl-Heinz postierte sich davor und nahm eine lauschende Haltung ein. Deutlich vernahm Elmar die Stimme eines Jungen, der offenbar eine An­sprache an eine Versammlung hielt. Ohne anzuklopfen traten beide in einen niedrigen, ca. 15 qm großen Raum ein. In dessen Mitte stand ein langgezo­gener, vierkantiger Holztisch, und im dämmrigen Licht einer Deckenlampe, welche mit langer, kordelartiger Schnur und tellerähnlichem Schirm tief herunterhing, er­kannte Elmar ungefähr 12 jungenhafte Gestalten, die auf rustikalen Hockern um den Tisch saßen und einem älteren Jungen von stattlicher Größe im Alter von etwa 18 bis 19 Jahren gebannt zuhörten. Der Ältere stand, den Eintretenden zugewandt, am Kopfende des Tisches, in der Kluft der Pfadfinder, mit grünem Hemd, gelbbrau­nem, schlips­artig gebundenem Halstuch sowie einer weißen um das Halstuch gewi­ckelten Schnur. Durch das verspätetes Eintreffen der beiden gestört, unterbrach er seinen Vortrag - alle Anwesenden wandten kurz die Köpfe zu ihnen hin, um aber so­gleich wieder nach vorne, zu Wal­ter Harms, zu schauen - so hieß der Ältere, wie El­mar später erfuhr - und Walter begrüßte sie, dabei besonders erwäh­nend, dass O.K.H (gemeint war Karl-Heinz Gerber) ei­nen Gast zu ihnen auf den Turm heraufge­schleppt habe, worüber er seine unverhohlene Freude äu­ßerte.

      O.K.H - Was wohl diese Abkürzung bedeutete? Er wollte Karl-Heinz Gerber gleich fragen, auch danach, warum die meisten Jungen statt des gelbbraunen ein blaues Halstuch auf der Pfadfinderkluft trugen. Nachdem sie sich zu den übrigen Jungen ge­setzt hatten, fuhr Walter Harms mit sei­nem Vortrag fort.

      „Was bedeuten diese Halstücher alle?“, fragte Elmar seinen Spielkameraden Kar­l-Heinz im Flüsterton. Der hatte sich inzwischen auch ein Halstuch umgebunden, ein gelbbraunes mit grüner Kordel.

      „Blau, das sind die Knappen“, flüsterte Karl-Heinz zurück, „braun mit grün-weißer Kordel: die provisorischen Unterführer, grüne Kordel: die Unterführer, weißes Kor­del: Sippenführer!“

      „Aha! - Und was heißt O.K.H.?

      „Oberhessen-Karl-Heinz“! Es gibt noch einen „K. H.“ in Frankfurt. Um mich von dem zu unterscheiden, nennt mich der E.F. immer O.K.H.“

      E.F.? Aha! Was das nun wieder heißt, wollte er den Oberhessen-Karl-Heinz nicht auch noch fragen, denn Walter Harms, offenbar gestört durch ihr Flüstergespräch, hatte schon einmal, die Stirn runzelnd, zu ihnen herübergesehen. Also stellte Elmar seine Neugierde zurück und versuchte sich auf den Vortrag des Sippenführers zu konzentrieren. Doch Walters Worte rauschten zunächst an seinem Ohr vorbei. Ver­wirrt durch die auf ihn einstürzenden, neuartigen Eindrücke, durch die seltsame Um­gebung, die buntfarbig geklei­deten Gestalten zu seiner Seite und gegenüber von ihm, brauchte er einige Minuten, um sich an das Kuriose und doch zugleich Anziehen­de dieser Runde zu gewöhnen, und er brauchte auch Zeit, um den Ausführungen des Redners folgen zu können, die von ihm unbe­kannten Dingen handelten, von Zusam­menhängen, welche er zunächst noch nicht begriff. Nach weni­gen Minuten je­doch hatte er sich gefangen, achtete jetzt konzentrierter auf das, was Sippen­führer Harms gerade in knappen Ausführungen umschrieb: den Werdegang eines Pfadfin­ders, die Prüfungen, die er abzulegen habe auf seinem Weg hin zum Unterführer, Prüfungen allerdings, wie Walter versicherte, die nicht allzu schwer seien. Dann war die Rede von einem Ausbildungslager; jeder Knappe müsse eines besuchen, und nachdem er mit Erfolg die Prüfungen bestanden habe, werde er an ei­nem bestimmten Tag - Elmar glaubte, es war der Himmelsfahrtstag - in einer grandiosen Zeremonie zusammen mit allen Knappen der übrigen Sippen zum Pfadfinder ernannt.

      Walter Harms kam nun auf die Zeltlager und Ferienfreizeiten zu sprechen, und hier wurde seine Rede ausführlicher und ausdrucksstärker, denn er konnte jetzt Erlebnisse an den Mann bringen, die ihn selbst ergriffen hatten. Walter schilderte sie in einer Weise lebendig, eindringlich, dass man meinen könnte, der Erzähler sei in Wahrheit ein talentierter Maler, einer mit ganz seltenen Fähigkeiten, der statt mit Pinsel und Palette mittels seiner Sprach­kraft ganze Serien suggestiver Bilder vor das geistige Auge seiner Zuhörer zauberte, und je länger Elmar zuhörte, desto mehr wurde er von diesen er­zählten Bildern gefangengenommen. Es war, als öffnete sich vor ihm lang­sam eine Tür oder ein Vorhang werde hochgezogen und vor ihm erscheine eine neu­artige, glänzend helle Welt, vergleichbar einer wunderschönen Kulisse auf einer Theaterbühne, welche dem Auge des Zuschauers die erlesensten Landschaften bietet: stille Fluren und goldgelb wogende Felder, hinter ihnen hohe oder halbhohe Waldhü­gel und noch weiter hinten ge­waltig und steil aufragende, mitunter wild zerklüftete Gebirge, und auf verwegenen Felspfaden marschierte eine buntgekleidete Schar von Pfadfindern hohen, unbekannten Zielen entgegen. Zwischen den Hügeln und Bergen dann tief einge­schnittene Täler, die wie Fenster Ausblicke in noch fernere, vielgestal­tigere Landschaften gewährten, alles Bilder von praller Leuchtkraft - Elmar kam es vor, als strahlten sie derart in den abgedunkelten Zuschauerraum, das heißt also in das kleine, spärlich erhellte Turmzimmer, dass sie den Raum mit ihrem Licht voll­kommen durchfluteten, vielleicht auch strahlten sie nur auf ihn, der, Walters Erzäh­lungen hingebungsvoll lauschend, von all diesen freundlichen Vorstellungen erfüllt war.

      Was waren das nun für Bilder im Einzelnen, die Walter Harms mit dieser seltenen Ausdruckskraft in Elmars Vorstellung erstehen ließ? Buntfarbige Bilder waren das vom spannenden Leben der Pfadfinder, von einer Welt der Abenteuer, der Mut­proben und der verlässlichen Kameradschaft, daneben auch des streng geregelten und doch zugleich ausgelassenen Treibens der Ferien­freizeiten. Vom abwechslungsreichen Verlauf der Zeltlagerzeit erzählte Walter oder vom Ernst der pfadfinderischen Aus­bildungslehrgänge, auch vom Ernst der täglichen Bibelarbeit - in einer Weise stellte er das lebendig und begeistert dar, dass die eigene Ergriffenheit, die er zusätzlich durch emotionale Gesten ausdrückte, sich unweigerlich auf die Jungen im Türmer­zimmer, zumindest auf Elmar übertrug. Als dieser noch von tollen Wald- und Gelän­despielen hörte, von abenteuerlichen Nachtmärschen, leidenschaftlichen Speerkämp­fen, seltsamen Kampfspielen, die Walter ’Flussgefechte’ nannte, oder von Fahrten in die heimat­liche Bergwelt oder zu den Seen und Burgen im Lande, beschloss er, die­ser Pfadfinder­truppe, koste es, was es wolle, sofort, das heißt am Ende der heutigen Sitzung, beizu­treten.

      Ganz besonders schwärmte Walter von einem Ferien­lager, das er offenbar