Heinz-Jürgen Schönhals

Ulrike D.


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      „Warum ’Haus Sternbald’? - werdet ihr sicher fragen!“ Walter blickte nacheinander einige der vorne sitzenden Pfadfinder an. Da keiner der Jungen eine Antwort wusste, gab er die Antwort gleich selbst: „Nun, unser Erstführer hat dem Lager diesen Na­men gegeben. Er ist Lehrer und schwärmt für einen Roman mit dem Titel „Franz Sternbalds Wanderungen“; geschrieben hat ihn ein Schriftsteller der Romantik. Franz Sternbald strebt nach den hohen Zielen der Kunst, sein Herz begeistert sich für das Edle und Schöne, und er verabscheut jeden Ehrgeiz, der sich nur auf das Materielle bezieht, auf Geld, Reichtum, Ehre, Ruhm. Genauso geht es auch uns Pfadfindern. Materieller Wohlstand als einziges Lebensziel ist uns ein Gräuel. Wir streben nach dem rauen Pfad, der zu Gott führt. Dabei leuchtet uns der Stern Jesu Christi voran. Dass dieser Stern nun immer kräftiger in die dunkle Welt hineinleuchte, dafür setzen wir uns ein; und dass Jesus selbst ’bald’ wieder auf diese Welt zurückkomme ...“ - Walter betonte dieses ’bald’ mit besonderem Nachdruck - „...danach sehnen wir uns. Deshalb also der Name ’Stern - bald’! Stern komme bald! Eigentlich gehört unsere Sippe ’Paul Gerhard’ ja zu dem großen ’Pfadfinderbund Albert Schweitzer’, aber oft werden wir auch einfach die ’Sternbaldpfadfinder’ genannt, eben weil unser erstes und wichtigstes Ausbildungs­lager, das alle Pfadfinder im ’Bund Albert Schweitzer’ mindestens einmal besuchen müssen, ’Haus Sternbald’ heißt.“

      Haus ’Sternbald’! Elmar wurde von diesem seltsamen Namen eigenartig be­rührt. Er erschien ihm fremdartig, geradezu entrückt, ’sternen-entrückt! Je­denfalls ergab die Zusammensetzung keinen realen Sinn, sie zeugte eher vom Stammeln eines Klein­kindes, das vielleicht ’Stern, komme bald!’ sagen will, jedoch nur ein ’Stern.... bald!’ herausbringt. Auch der Ort, die Umge­bung des Lagers, alles schien ihm, bedingt durch die phantasievolle Er­zählweise des Sippenführers, mit der Aura des Mystischen be­haftet, als wäre man dort nicht in einem nor­malen Jugendlager zu Gast, sondern in einem aus der Alltäglichkeit ausgegrenzten Bezirk eines Ordens.

      Haus ’Sternbald’ liege mitten im Wald auf einer ausgedehnten Lichtung, fuhr Walter Harms mit seiner Schilderung fort; es bestehe aus einem Zentralge­bäude und einigen Nebengebäuden sowie mehreren großen Hauszelten. Daran schließe sich eine gewal­tige Wiese mit einem breiten Graben an, auf welcher Fußball oder Handball gespielt und pfadfinderische Übungen, wie Zeltbau, Feuer machen, Kartenlesen und Pflan­zenbestimmung, abgehalten werden. Vor allem aber werde dort der Einzel- und der Massenspeerkampf, ein in Haus Sternbald erfundenes Speerspiel, ausgetragen. Nach der einen Seite des Lagers sei der Wald nicht so dicht; die Bäume stünden hier aufge­lockerter, der Himmel und freies Feld schimmerten kräftiger und heller vom Wald­rand her durch, der keine 300 Meter entfernt liege. An dieser Seite führe ein breiter Weg am Lager­gelände vorbei. Von ihm könne man aber nicht ins In­nere blicken, denn ein hoher, dicht be­wachsener Zaun schließe das Lager hermetisch ab. Immer wenn er auf diesen undurchdringlichen Zaun blicke, sagte Walter, habe er das eigen­artige Ge­fühl, vor einer anderen Welt zu ste­hen.

      „Und in der Tat, es ist eine andere Welt!“ rief er aus, seine Worte gefühlvoll, fast pa­thetisch betonend, „es ist eine Welt, frei von dem ganzen Alltagsfrust, frei von Spieß­bürgerei und engherzigem Denken, frei auch von all dem Philister­gehabe derjenigen, die nur hinter dem Geld herjagen und sich allein von materiellen Erfolgen beeindru­cken lassen, frei also von allem, was uns täglich auf die Nerven geht! Es ist eine fröhliche Welt - die aber auch den Ernst der Bibelandachten und der Bi­belarbeit kennt; kurz: eine Welt, in der nur noch die Gesetze unseres Pfadfinderbundes gelten, und - last not least - warten auf euch ganz tolle Wald- und Geländespiele. Die Wälder der Umgebung rufen! Rings um das Lager deh­nen sie sich gewaltig aus, laden ein zum Umherstreifen, zum Schleichen durch die Büsche, zum Auflauern, Nachstellen und Verfolgt werden!“

      Walter legte eine kurze Pause ein; offenbar wollte er erst einmal prüfen, wie seine Worte bei den Jungen ankamen, dann fuhr er fort: „Die Abschließung am Zaun ist nicht über­all gleich dicht. Man erwischt schon mal einen Durchblick dort, wo die Zweige der Buchenhecke eine kleine Lücke frei lassen. Vorne, am Ein­gang, ist so eine Stelle, für Eingeweihte leicht zu finden. Wenn man hindurchspäht, kann man sich einen ersten Eindruck vom farbenfrohen Bild des Lagers verschaffen: In der Ferne ragen die spitzen Giebel der Hauszelte in den Himmel, die gezackten Wimpel der Rundzelte flattern um die Wette, die Zeltplanen leuchten in allen Farben, in weiß, grau, blau, grün, und alles schaut keck und lustig hinter den sauber geschnit­tenen Li­gusterhecken hervor, die den Appellplatz umhegen. Links schiebt sich der obere Teil des Zentralgebäudes ins Blick­feld. Es sieht aus wie eine herrschaftliche Villa aus al­ter Zeit, mit seinen von dichten, dunkelgrünen Weinranken fast vollständig überzo­genen Wänden. Rechts von den Ligusterhecken, die das Lager in zwei Hälften teilen, breitet sich die große Wiese aus, man sieht deutlich den Graben in der Mitte, der oft als Grenze für die Flussgefechte dient. Am Rande des riesigen Ge­ländes ballt sich dichtes Buschwerk zusammen, es markiert den Übergang zu den Wäldern der Umge­bung, die wie eine dunkle Wand im Hintergrund auf­ragen, drohend aufragen, möchte man beinah sa­gen, als wäre dort ein unsicherer, gefähr­licher Ort und das Lager wäre ein Bollwerk inmitten einer Umgebung voll Tücke und Feindschaft! Aber natürlich ist das Gegenteil der Fall! Diese Wälder mit ihren Hügeln, Tälern und Schluchten, ihrem verzweig­ten Wegenetz und ihren geheimen Pfaden sind in Wahrheit ein Para­dies, ideal geschaffen für uns, damit sich unsere Spielleidenschaft nach allen Rich­tungen aus­toben kann.“

      Es hatte natürlich einen Sinn, dass Walter die­ses „Eldorado der Spielleidenschaft“ zum zwei­ten Male hervorhob. Denn die Waldspiele - das wusste er genau - waren für die Jungen bei weitem das Reizvollste, weil Abenteuerlichste an dem Ferienlager, und der Sippenführer stand so­gar nicht an, sie kurz darauf noch ein drittes Mal in den Mittelpunkt seiner Erzählungen zu stellen, seiner Erinnerungen an erlebte Lagertage, und zwar, wie sich zeigen wird, so eingehend und detailliert, dass er die Jungenher­zen, auf jeden Fall das Elmars, in Aufregung versetzte.

      Inzwischen blätterte Walter in seinem Ma­nuskript, das er sich für seinen Vortrag zu­rechtgelegt hatte, besann sich einige Augenblicke und setzte seinen Vortrag fort:

      „Ich stand also“, sagte er, „bei unserer Ankunft im Lager unmittelbar vor dem Zaun - es war im Juli letz­ten Jahres. Ich stand da, spähte ins Lager hinein, betrachtete die Zelte und das ganze Gelände, die freie Stelle machte es ja möglich. Nachdem ich al­les wahrgenommen hatte, was ich schon kannte, was mich aber immer wieder von neuem reizte, mir von dieser Stelle aus diesen ersten Eindruck zu verschaffen, ging ich zurück zu den anderen, die bereits vor dem Lagertor ungeduldig warteten. Hinter dem Torgitter sieht man einen breiten, von Berberitzenhecken eingefassten Gang, der am äußeren Ende eine scharfe Linkskurve beschreibt und sich unseren Augen dann entzieht. Noch einmal wurde ge­schellt, und bald kam jemand um die Ecke, eiligen Schrittes: es war Heinz Wagenbach, ein älterer Pfadfinderführer, gleichzeitig der für unseren Stamm VI zuständige Stammesführer. Er ist gewissermaßen die rechte Hand vom Chef. Ihn müsst ihr euch merken, denn er ist für die Sippe Paul Gerhard zustän­dig. Er trägt das schwarze Halstuch des Stammesführers und ist an seiner hohen, stattlichen Gestalt, an dem schwarzen, straff nach hinten gekämmten Haar und einer energischen Sprechweise zu erkennen.“

      „Übrigens“, Walter hielt kurz inne, und indem er sich durch die Haare fuhr, machte er ein nach­denkliches Gesicht; dann sprach er, etwas stockend, weiter:

      „Auch Frau Wagenbach werdet ihr wahrscheinlich im Lager antreffen. Sie ist - lei­der, muss ich sagen - auch sofort zu erken­nen, und zwar an einem - äh, wie soll ich sa­gen - an einem äußeren Makel, einer Missbildung: Sie hat ein entstelltes Gesicht, schiefen Mund... und so.. - Nun, ich sage euch das, damit ihr nicht so hinglotzt oder dumme Sprüche macht, wenn ihr sie mal trefft, und das wird wahrscheinlich ziem­lich oft der Fall sein.“

      Ein Junge, vorne am Tischende neben dem Sippen­führer sitzend, nutzte eine Kunst­pause des Red­ners und richtete leise einige Worte an ihn. Elmar konnte allerdings ziemlich deutlich hören, wie der Junge, der Frau Wagenbach offenbar bereits kennen gelernt hatte, Näheres über deren unglückliche Entstellung erfahren wollte, ob ein Verkehrsunfall oder irgendein anderes Ver­hängnis, eine verheerende Krankheit viel­leicht, die Ursache wäre.

      Walter