Heinz-Jürgen Schönhals

Ulrike D.


Скачать книгу

mit den französischen Weinen, Achim, wo hast du das her? Etwa auch von Te­gelmann?“

      „Quatsch!“ versetzte Achim, indem er sich entkleidete, denn nach seiner Brandrede gegen die Spießer brauchte er wohl erst einmal eine Abkühlung im Wasser des Stein­firstsees. „Das weiß man halt, gehört zur Allgemeinbildung.“

      „Zur Allgemeinbildung der Weintrinker, wolltest du sagen!“

      „Ja, meinetwegen! – So, jetzt aber Schluss mit den Spießern! Das Weitere nächste Woche bei Tegelmann. Ich referiere eine Stunde lang!“

      „Um Gottes Willen, noch einmal das Ganze!“, stöhnte Elmar, „das wird ja für mich ganz langweilig.“

      „Du wirst es überleben!“

      Nach dieser letzten Bemerkung war Achim mit einem Riesenhechtsprung in den See gesprungen und im Kraulstil auf- und davongeschwommen, Richtung Seemitte, die er innerhalb kürzester Zeit erreichte. Im Schwimmen war er nämlich ein As, beson­ders im Kraul, und er hatte als Mit­glied des Schwimmvereins von Waldstädten schon mehrere regionale Mei­sterschaften gewonnen, während der Freund als „bleierne Ente“ - wie Achim immer zu sagen pflegte - erst gar nicht in den Verein eingetreten war, Schwimmen und auch andere Sportarten waren nun mal gar nicht dessen Stärke. Elmar hörte Joachim von ferne jauchzen und gurgeln, mal ver­schwand er von der Bildfläche, blieb sekundenlang unsicht­bar, mal tauchte er plötzlich 20, 30 m entfernt wieder auf, prustend und brüllend, drehte Purzelbäume, streckte die Bei­ne senkrecht in die Luft, stieg kurz darauf wie ein Delphin in die Höhe, ruderte dabei mit den Ar­men, als wollte er wie die fliegenden Fische abheben und übers Wasser gleiten.

      „Elmar!“ rief er mit einem Male, „mach’ sofort das Boot klar und komm! Bring’ ein Handtuch mit und meine Klamotten. Wir müssen den phantastischen Sonnenunter­gang be­obachten!“

      Dieses herrliche Naturereignis, das sie schon einmal von der Mitte des Sees mit Staunen beobachtet hatten, wollte sich Elmar natürlich nicht entgehen lassen. Er steckte Joachims Sachen eilig in eine Tasche, rannte zum Bootssteg und ruderte bald darauf mit dem Kahn dorthin, von wo Achim gerufen hatte. Kurze Zeit später saßen sie zusammen in dem Boot - Achim schon wieder angezogen - oder richtiger gesagt: sie lagen, halb mit dem Rücken gegen die Bootswand gelehnt, und schau­ten gemein­sam gen Westen, wo die Sonne als dunkelrote Riesenscheibe gerade den Saum eines Waldhügels be­rührte und ihre Strahlen den Hügel, ja die ganze Landschaft um den See mitsamt den Fichten am Ufer, den rundlichen Holunderbüschen, das Boot und die beiden Jungen in ein mildes, rötliches Licht tauchte. Elmar hatte die Ruder einge­zogen, und das Boot lag nun re­gungslos in der Mitte des Weihers. Über dem Wasser herrschte vollkommene Ruhe, als wäre die ganze Natur in Schweigen und Staunen versunken und bewunderte gleichsam sich selbst, ihr eigenes glanzvoll inszeniertes Schauspiel. Es war in der Tat überwältigend: Über dem Waldhorizont loderte aus gi­gantischer Ferne das Sonnengestirn in seltsam rötlicher Farbenpracht herüber, ge­waltig groß und so nah, als hätte es sich auf den Weg zur Erde gemacht und würde sich mit unserer irdischen Welt bald vereinen. Gerade schickte es sich an, hinter dem Horizont herunterzusteigen, wobei es ein letztes Mal die Landschaft am Steinfirstsee mit einem seltsam überirdischen Glanz überstrahlte, bevor die lange Nacht zunächst grau getönt, schließlich schwarz und finster hereinbrechen wird. Auch der milde Sommerwind, eben noch munter in ihren Haaren spielend, legte eine Ruhepause ein; nur als zarter, fächelnder Hauch brachte er sich hin und wieder in Erinnerung, streifte mitunter ihre Wangen oder kräuselte das Wasser, als wollte er das ernste stille Antlitz des Sees zum Lächeln zwingen. Winzige, tänzeln­de Wellen berührten alsdann das Boot, aber so sachte, dass es in seiner ruhenden Lage wie vorher verharrte. Verein­zelt schwebten Libellen über dem Wasser, ließen sich vom lauen Wind in die Höhe tragen, um dort mit einem Male regungslos wie auf unsichtbaren Kissen zu verhar­ren, als wären sie von den rötlichen Zauberstrahlen eines fernen Lichtgottes in Bann geschlagen. Erneut in Bewegung geratend, glitten sie in Richtung Wochenendhaus davon, dem verheißend leuchtenden Sonnenball entgegen, und verloren sich bald im schützenden Dunkel eines Holunderbuschs am Ufer.

      Elmar hatte sich inzwischen im hinteren Teil des Bootes niedergelassen. Die Beine ausgestreckt, den Arm stützend hinter den Kopf ge­legt, gab er sich ganz einer wun­derbar gelösten Stimmung hin, die ihn in diesem Augenblick, da er die anheimelnde Stille des Sees auf sich wirken ließ, wohltuend umfing. Er beobachtete Achim, der in unveränderter Haltung gegen die Bootswand lehnte und gedankenverloren dorthin blickte, wo die untergehende Sonne jetzt ein leuchtendes, golddurchwirktes Band über die Wälder am Horizont legte. Nach einigen Minuten des Schweigens sagte er:

      „Achim, ich muss zugeben, was du vorhin gesagt hast, über die­se Gesellschaftsmen­schen, diese Spießer - es hat mir gefallen; das heißt, ich fand es richtig, was du sag­test. Ich glaube auch: wahre Freundschaft zeigt sich, wenn man einem Freund, dem es schlecht geht, hilft, bedingungslos hilft. Nicht berechnend... weißt du!... nicht, weil man sich etwas davon verspricht, irgendeinen Vorteil....für sich selbst....“

      Achim antwortete nicht, er blieb regungslos im Boot sitzen und schaute weiter still in die Ferne.

      Elmar dachte in diesem Augenblick an einen amerikanischen Film, den er letzthin im Kino gesehen hatte, ein Melodram, etwas rührselig, sentimental, trotzdem war er tief angerührt von seiner Handlung. Sie schien ihm irgendwie zu dem zu passen, worüber er sich gerade gefühlvoll Gedanken machte, und um seine An­sicht über die wahre, echte Freundschaft nicht nur als Wunschtraum erscheinen zu lassen, sondern als et­was, was sich wirklich zwischen zwei Menschen ereignen könnte, be­gann er, Achim von diesem Film zu erzählen. Es sei angemerkt, dass das Kino für ihn die wichtigste Informationsquelle für das Unbekannte, noch nicht im Leben Erfahrene darstellte; an zweiter Stelle kam der Roman! Obwohl er also naturgemäß vom Leben noch nichts wusste, diskutier­te er doch leidenschaftlich gerne über das Leben, seine Verwicklun­gen, seine Geheimnisse, und es war deshalb nur lo­gisch, dass er eifrig ins Kino ging oder sich - ebenso eifrig - mit allerlei Lesefutter versorgte, um für die ausschweifen­den Diskussionen, welche er alle Augenblicke mit sei­nem Freund über das Leben, über Gott und den Sinn des Universums führte, das nötige Rüstzeug zu besitzen.

      Der Film nun, den er sich im städtischen Kino irgendwann einmal angesehen hatte, spielte in Amerika, in ei­ner Kleinstadt des Ostens der Vereinigten Staaten, und er handelte vom Leben einer amerikanischen Durchschnittsfamilie, von ihrem kleinen Glück, ihrem großen Schicksal. Zunächst sorglos und heiter dahinlebend, wurde die­se Familie plötzlich in eine tiefe Krise gestürzt. Das einzige Kind, ein bildschönes 17-jähriges Mädchen, mit allen Gaben für eine große, reiche Zukunft geradezu vor­herbestimmt, wird auf einmal krank, krank im Gemüt, un­heilbar geisteskrank! Doch sie musste nicht in eine Anstalt verbracht wer­den, sondern konnte weiter im Eltern­haus bleiben, wo sie vom Vater und der Mutter hingebungsvoll gepflegt wurde. Der Fall hatte nun eine besondere Note: Das kran­ke Mädchen war Halbwaise, seine Mut­ter vor vielen Jahren ver­storben, und deren Stelle versah die zweite Frau des Vaters, eine Stiefmutter also, eine noch junge Frau, obendrein attraktiv und von gewinnen­dem Wesen. Diese junge Frau - als sie den vermögenden Witwer heiratete, hatte sie sich wohl ein Leben frei von größeren Sorgen vorgestellt, frei jedenfalls von Exis­tenzkrisen. Wenn aber ihr Leben jetzt von einer solchen Krise überschattet wurde, wenn es abseits von den bequemen Bahnen in schwieriges Gelände führte, ja sich auf Abgründe zubewegte, in die hineinzublicken die Frau täglich gezwungen war - wie würde sie sich verhalten? Verantwortungsbewusst? Oder würde sie sich aus der Ver­antwortung stehlen, verführt vielleicht von der Aussicht, ihren bisher so angenehmen und unbeschwerten Weg anderswo fortsetzen zu können, alleine oder an der Seite ei­nes anderen, eines Freundes, was für sie auf jeden Fall eine Befreiung bedeutete, Be­freiung von einem Berg von Mühsal, Befreiung auch von dem ständigen Blick in Ab­gründe? - Und in der Tat; die Versuchung nahte in der Gestalt eines solchen Freun­des. Die Frau sah sich in einen Wirrwarr gegensätzlicher Gefühle gestürzt: Einerseits lockte das bequeme Leben und die Aussicht auf Reichtum und Luxus, andererseits mahnte das Gewissen.

      „Was meinst du, wie sich die Frau entschieden hat?“, fragte Elmar seinen Freund, der bisher schweigend zugehört und den Eindruck erweckte, es interessiere ihn nach wie vor nur der Sonnenuntergang und nicht diese Filmgeschichte. „Gab sie der Ver­suchung