Heinz-Jürgen Schönhals

Ulrike D.


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denen ein junger Mensch viele Male, dabei im Ex­tremfall alle Empfindungsstufen durchlaufend, ausgeliefert ist; und was ist hier nicht alles möglich: als erstes die flüchtige Liebschaft, auch amouröses Abenteuer genannt, dann, einige Grade stärker: die „Beziehung“ - gleichfalls mehr sinnenrei­zend als seelisch bindend, aber fester, dauerhafter; schließ­lich, wenn die zuständigen Götter es besonders gut meinen: die zarte, mit­unter auch stürmisch verlangende, auf jeden Fall tiefe Zuneigung der glück­lich Liebenden, welche die Seelen - und nicht nur die! - unwiderruflich zu­sammenschließt, wenn nicht zusammenschweißt. Dann noch das etwas an­dere, geradezu Gegensätzliche - gegensätzlich zur erfüllten Liebe der Glück­lichen: die seelenerschütternde, seelenverletzende Leidenschaft der un­glücklich Liebenden; endlich auch - al­lerdings wohl eher in einem späteren jugendli­chen Stadium - eine Art Bindung, welche ihre Festigkeit weniger dem Bedürfnis der Seelen als dem verlangenden Eros, daneben aber auch dem Verantwortungsgefühl, der Gewissenhaf­tigkeit der Liebenden verdankt - dann jedenfalls, wenn die Bezie­hung gewisse Folgen zeitigt - und weiß der Himmel, welche bunte Mischung der Triebe, Empfindungen, Gefühle, Zunei­gungen, Begierden, Entzückungen und Sinnlichkeiten es da noch gibt, auf dass die Liebespaare aneinandergeschmiedet, -ge­kettet, -gefesselt, -ge­knotet, -gebunden, -gefügt oder nur - gefädelt werden.

      Von welcher Art Liebe wurde er, Elmar, damals beglückt oder vielleicht auch ’heim­gesucht’? Es wäre doch sicher denk- und erinnerungswürdiger, über dieses Thema nach­zusinnen als auf eine Zeit zurückzublicken, wo er, geschmückt mit Lederhose, grünem Hemd und braunem Halstuch, den Zeltbau, das Feuermachen und das Kno­ten übte oder mit Pfadfinderkameraden in Zeltlagern lebte und abenteuerliche Gelän­despiele bestritt? Und müssten nächst seiner glücklichen oder auch schmerzlichen Begegnungen mit der Liebe nicht zuallererst die Erfahrungen in der Schule er­wähnt werden? Der konfliktreiche Umgang mit den Lehrern, der kameradschaftliche mit den Mitschülern und Freunden, die Nöte der Abiturprü­fungszeit? Und wie steht es mit der späteren Lebensphase des Jünglings, nachdem er die Reifeprüfung erfolg­reich - oder war es nur mit mäßigem Erfolg? - abgelegt, die Zeit, da er sich seiner Begabung, seiner be­ruflichen Bestimmung bewusst werden musste, da er, die Strapa­zen, Anfechtungen und Prüfungen seiner Ausbildungszeit durchstehend, um einen Platz in der Gesellschaft rang, da er schließ­lich, aber in der Reihenfolge nicht unbe­dingt zuletzt und falls die genannten Liebeserlebnisse noch keine Klarheit gebracht, da er eine Frau als Lebenspartner suchte und endlich eine fand?

      Doch war die Pfadfinderzeit wirklich so unbedeutend, dass man sie als kindliche Spielepisode einfach beiseite lassen sollte? Als Elmar gerade im Begriffe war, die­sem frühen Lebensabschnitt die Aufschrift ’nebensächlich’ aufzudrücken, spürte er, es könnte gerade in diesem Abschnitt Wichtiges passiert sein, was seiner Le­bensbahn eine gewisse schicksalhafte Wendung gab, und dass mit dieser Weichenstellung auch die Ursache seiner Alpträume zusammenhängen könnte, nach der er ja suchte. Schließlich wollte er nicht in die Vergangenheit zurückkehren, um nur erinnerungs­selig und romantisch auf den verwilderten Pfaden seiner Jugend zu wandeln, sondern in erster Linie ging es ihm um die genannte Ursachenforschung, um die Frage, wo die Störquelle seiner neurotischen Traumgesichte liegen könnte, welche Erlebnisse in welcher Phase seines Lebens, eventuell auch in seiner Pfadfinderphase, am ehesten dazu beitrugen, dass sich in seiner Seele ein Trauma oder ein Konflikt oder ein Ge­fühlsstau gebildet hatte, der später dann ins Unterbewusstsein abgewandert und dort, Störsignale aussendend, hängen geblieben war.

      Ganz klar, solche Überlegungen, die er jetzt zum wiederholten Male anstellte, muss­ten dazu führen, dass ihm die Pfadfinderzeit mit einem Male viel bedeutsamer und nachdenkenswerter erschien als noch wenige Minuten zuvor und dass der Gedanke jetzt unabweisbar war, er müsste sein Augenmerk nun doch genauer auf die schein­bar so nebensächliche, scheinbar so gehaltlose, vergessenswürdige Pfadfinderzeit lenken. Das aber konnte nur bedeuten, dass er seinen Erinnerungsfilm, den er eigent­lich bei seinen frühen Liebeserlebnissen anhalten wollte, noch weiter zurückspulen musste, dass er ihn bis in die früheste Zeit seiner Jugend zurückspulen musste, wo es mit der Pfadfinderei einmal angefangen hatte. Er meinte, es müsste irgendwann in sei­nem 14. oder 15. Lebensjahr gewesen sein, und also fing er an weiter und weiter zurückzuspulen, immer weiter spulte er den Film zurück, so lange, bis er die Stelle erreicht hatte, wo er zum ersten Mal mit der Pfadfindersippe ’Paul Gerhard’ in Be­rührung gekommen war.

      Schon sieht er sich mit gleichaltrigen Freun­den auf einer Schotterstraße in Waldstäd­ten Fußball spielen, dort, wo seine Familie früher einmal gewohnt hatte, bevor sie sich in Enkdorf niederließ, und wo es ihn immer wieder geradezu magisch hinzog. Etwa sieben Jungen rackerten sich da ab, rannten, sprangen und tobten wie verrückt hinter dem Ball her. Während des Spiels merkte Elmar, wie Karl-Heinz Gerber, einer seiner Spielkamera­den, mehrmals zur Seite ging und scharf nach der Kirchturmuhr spähte. Plötzlich sagte Karl-Heinz, er könne nicht weiter mitspielen; es sei höch­ste Zeit für ihn, zur Pfadfindersitzung zu gehen, die oben auf dem Kirchturm im Tür­merzimmer stattfinde. Elmar machte offenbar in die­sem Augenblick ein interessier­tes Gesicht, denn Karl Heinz lud ihn ein, mitzugehen, sich einmal eine solche „Rast“, wie er die Pfad­finderveranstaltung nannte, anzusehen, und da Elmar keine Lust mehr spürte, auf hartem, stei­nigen Boden Fußball zu spielen, sagte er spontan zu, wohl aus Neugierde, aber auch, weil er seine Heimatstadt gerne wieder ein­mal aus luftiger Höhe betrachten wollte; denn der Kirchturm war immerhin 50 m hoch. Und so gingen die beiden los, Richtung Walpurgiskirche. Dort, am Fuße des Johan­nisturmes, stiegen sie eine steile, überdachte Außentreppe hinauf, bis sie vor einer stark brüchigen Holztür standen. Kurz darauf umgab sie das Halbdunkel des Turmin­neren; nur zwei länglich schmale Bogenfenster im oberen Teil des Turmgebäudes so­wie einige Mauerritzen sorgten dafür, dass sie nicht in völliger Finsternis umhertapp­ten.

      „Wenn es draußen dunkel wird“, sagte Karl-Heinz, indem er auf einen Lichtschalter deu­tete, „kann man hier das Licht anknipsen; aber jetzt ist es noch nicht nötig, es ist noch hell genug!“

      Nach einem mühevollen Aufstieg auf schmalen, knarrenden Holzstiegen, die, getreu dem quadratischen Aufbau des Turmes, rechtwinklig um die Turmachse führten, er­reichten sie, das gewaltige Gehäuse der Turmuhr passierend, eine zweite Tür; durch sie traten sie wieder ins Freie und gelangten auf einen breiten, ebenfalls quadratisch angelegten Rundgang. An dessen halb hoher, balustradenförmiger Mau­er vorsichtig entlangtastend, denn von ihr aus ging es jäh abwärts in eine schwindeler­regende Tie­fe, genossen sie nach allen Seiten den überwältigenden Blick auf die Stadt. Mit ihren Häusern, Straßenschluchten, Plätzen und Grünanlagen lag sie weit unter ihnen aus­gebreitet, was von oben, aus ungewohntem Blickwinkel, recht merkwürdig und fremdartig, fast wie zusammengeschrumpft wirkte, als läge da zu ihren Füßen gar nicht Waldstädten in leibhaftiger Gestalt, sondern nur ein Mo­dell von ihr, das irgend­ein Bastler in mühse­liger, fleißiger Arbeit naturgetreu nachgebaut hätte. Elmar blieb in einem Winkel der Mauer ste­hen, lehnte sich gegen eine pfeilerartige Verdickung und blickte unentwegt hinunter, beobachtete die an- und abfahrenden, winzig ausse­henden Autos auf dem Marktplatz, die noch kleiner wirkenden Menschen, wie sie ameisenhaft geschäftig hin- und herliefen, wie sie, zu lächerlich schmalen, kurzen Strichen geschrumpft, auf den weiter entfernt liegenden Alleen und Parkwegen bum­melten oder an Teichen, die wie große Pfützen aussahen, auf Parkbänken saßen.

      Karl-Heinz, der hinzugetreten war, schaute eben­falls auf das liliputanerhafte Treiben tief unter ihnen hinab.

      „Wenn man so von hier oben auf die Stadt guckt“, sagte er, „......es ist wie in unse­rem Pfadfinderlied..., da heißt es: ‚....der raue Weg führt dich auf steile Höh’...“

      Karl-Heinz dachte einen Moment nach, dann fuhr er fort:

      „Ein Wildbach stürzet unterm Steg, tief unten hallt ein Weh, ist es der Wind, der brausend weht, durch Wipfel dicht und breit, sind’s Menschen, denen’ s wirr ergeht, vor Hass und Bitterkeit?“

      „Aber von einem Wildbach hört man nichts“, gab Elmar zu bedenken.

      „Na ja, nicht alles stimmt überein, aber man­ches doch. - Übrigens, ich geb’ dir am besten mal den Text unseres Liedes hier, damit du nachher mitsingen kannst. Da, siehst du, hier steht die Strophe!“

      Karl-Heinz