Heinz-Jürgen Schönhals

Ulrike D.


Скачать книгу

ausgerüstet mit einer Trompete, auf der ungefähr nach 8 Minuten und danach alle weitere fünf Mi­nuten ein Signal ge­blasen werden musste. Er, Walter, sei der An­führer der Gendarmen ge­wesen, einer Meute von gleichfalls 30 Jungen, und sie hätten sich nach Ablauf der Viertelstunde mit Eifer den Räubern an die Fersen ge­heftet, zunächst auf geraden Wegen, dann durch Gebüsch und Fichtenscho­nungen streifend, immer dem alle 5 Minuten ertönenden Trompetensignal nach. Doch dieses, obwohl fröhlich über den nahen und fernen Waldhügeln schwe­bend, habe auch zu mancher Verwirrung bei ih­nen geführt, da seine Echos den Schall nicht selten von mehreren Seiten herantrugen und die Räuber, dies zu ihrem Vorteil nutzend, gleich meh­rere Trompetenstöße hin­tereinander abgaben, so dass man das Echo kaum noch vom ur­sprünglichen Schall unterscheiden konnte. Mitunter sei das Signal nur schwach von ferne zu hören gewe­sen, so schwach, dass sie befürchten mussten, in die falsche Richtung zu laufen. Doch dann sei es wieder näher gekommen, näher und näher habe es herangeschallt, und sie wären schon freudig auf die schrill tö­nende Geräuschquelle zugestürzt, voller Erwar­tung, der frechen Räuber­gruppe sogleich ansich­tig zu werden und sie zum Kampfe zu stellen. Doch leider sei das ein Irrtum gewesen; denn wieder habe sie das Echo ge­narrt, während der originale Trompetenstoß aus einer ganz anderen Richtung he­rangetragen wurde.

      Walter hielt mit seiner Erzählung inne, blickte triumphierend in die Runde, was an­gesichts des denkbaren Misserfolges der von ihm geführten Truppe etwas seltsam anmutete, dann fuhr er mit erhobener Stimme fort: Man müsse aufpassen, dass man bei solch einem Spiel nicht den Anschluss verliere; außerdem könne man sich in den Wäldern des Ferienlagers ganz schön „verfranzen“ und irgendwo in Posemuckel her­auskommen, meilenweit vom Lager ent­fernt. Deshalb habe er, um das Malheur abzuwen­den, in die Trickkiste gegriffen: Sie seien ge­rade auf einem größeren Wald­hügel angelangt, der auf der einen Seite, von Bäumen teilweise entblößt, prächtige Ausblicke auf die nahen und fernen Waldrücken bot, auf teils flache, teils tief einge­schnittene Täler, auf Fluren, Dörfer und Meiereien in der Ferne. Da habe er aus sei­ner Umhängetasche ein Fernglas hervorgezaubert und, was eigentlich nach den Spielregeln nicht erlaubt sei, über die Wälder, durch die Lücken der Bäume, nach freiliegenden Waldwegen, nach einer Waldwiese oder einem Waldsaum gespäht, um auf diese Weise die Jagd in die richtige Richtung zu leiten und seiner Truppe schließ­lich doch noch die Blamage des Scheiterns zu ersparen. Doch nirgends sei ein Pulk von Jungen aufgetaucht, nirgends ein dahin schleichender Vortrupp oder die Nachhut ins Blickfeld geraten, sei es an einem Waldrand oder auf irgendeinem kahlgeschlage­nen Hang oder einem freilie­genden Stück eines Waldweges. Nichts weiter als Wald habe er gesehen, Wald und noch einmal Wald, teilweise flach ausgedehnt, teilweise hügelig ansteigend. Nur in der Ferne, wo riesige Felder und Wiesen an den Wald grenzten, wo am Horizont die Silhouette der Großstadt im Nachmittagsdunst schat­tenhaft aufstieg und zahlreiche Straßen und Wege durch die Ebene liefen, habe er et­was Merkwürdiges entdeckt, und zwar auf einem Gelände nahe einer Hauptstraße, vielleicht einen halben Kilometer vom Waldrand entfernt. Das sei auch eine Art Pulk gewesen, aber von anderer Art: Fahrzeuge nämlich, Panzer seien dort; kreuz und quer durch das Gelände gerollt, hätten die Geschütztürme nach allen Seiten drohend geschwenkt und dicke braune Spurrillen hinter sich hergezogen. Er, Walter, habe sich dem fernen Kampfgeschehen, das natürlich nur simuliert war, nicht entziehen kön­nen und einige Augenblicke das Fernglas d­raufgehalten. Eine Gruppe der Fahrzeuge habe sich plötzlich in der Nähe der Hauptstraße ge­sammelt, um kurz darauf im Gän­semarsch auf ihr entlang zu fahren, und da die Straße eine Biegung machte, habe es bald ausgesehen, als wäre die furchterregende Streitmacht auf den Wald zugekom­men, als hätten die Kolosse sie, die hoch oben auf dem Waldhügel gewissermaßen auf Beobachtungsposten standen, ins Visier genommen und würden bald, aus allen Rohren schießend, mit Getöse und schrillem Kettengerassel in den Wald hinein- und zu ihnen herauf­tanken. Doch von der Straße sei eine kleine, von Bäumen umsäumte Allee abgezweigt, in welche die fernen Ungetüme, eines nach dem anderen, abbo­gen, um kurz darauf, parallel zum Wald und schwerfällig sich fortbewegend, dahin­zufahren, wobei es alle Augenblicke zwischen den Allee­bäumen aufblitzte, als hätten die rollenden Ungeheuer tatsächlich das Feuer eröffnet, als signalisiere aufzuckendes Mündungsfeuer den Beginn einer Panzerschlacht. In Wahrheit aber spiegelte sich nur die Sonne an der blanken Außenwand der Fahrzeuge. Diese hätten schließlich auf eine kleine Siedlung zugehalten, deren Häuser und Villen, teilweise in den Wald hineingebaut, zwischen den Stämmen oder hinter großen Büschen hervorlugten. Seltsam und eigentlich faszinierend sei dieser Anblick ge­wesen, sagte Walter, nachdem er das Manöver amerikanischer Panzer kurz, aber eindringlich geschildert hatte; so ungefähr müsse es ausgesehen haben, wenn eine Panzerdivision im Krieg sich sammelte und in die Angriffspositionen rollte. Doch alles sei weit, weit entfernt gewesen, so weit, dass man kaum die Geräusche der Fahrzeuge hörte, nur ein leises, fast säuselndes Rauschen habe man vernommen.

      „Tja, warum ich euch das erzähle, werdet ihr sicher fragen!?“

      Walter sah sich in der Runde um, als erwarte er eine Meldung eines Pfadfinders, der ihm seine Frage beantworten könnte. Vielleicht wusste er selbst nicht, wie die Ant­wort lauten könnte, oder die Erinnerung an diesen faszinierenden Anblick der Pan­zerkolonne, wie sie da auf der weit entfernten Allee blitzend im Sonnenlicht fuhr, hatte ihn einfach überwältigt!? Nach einer kurzen Pause folgte jedoch eine Antwort, die Elmar nicht erwartete hatte, weil sie eine ganz andere Einstellung Walters zu die­sem Panzermanöver aufzeigte:

      „Nun, der Grund meines Exkurses ist: Ich wollte euch noch einmal ganz klar meine Ansicht über den Sinn von Haus ’Sternbald’ erläutern, dass dieses Lager so uner­messlich weit entfernt ist von den Praktiken der Welt da draußen, wo Krieg herrscht. Zwar schweigen zur Zeit die Waffen, und die Panzer fahren da nur herum. ’Doch die Werke der Welt sind böse’, sagt Jesus im Johannesevangelium. Bald wird sich, fürchte ich, der Unfriede der Welt wieder zu einem neuen heißen Krieg steigern. Die Tatsache, dass da Panzer herumfahren, deutet darauf hin. Nur bei uns, in Haus Stern­bald, hat die heillose, böse Welt ihre Macht verloren, bei uns werden nur die Prakti­ken des Friedens und der Kameradschaft und Freundschaft gepflegt. Zwar wird auch bei uns Sternbaldpfadfindern gekämpft, aber, wie ihr schon wisst, kämpfen wir mit völlig anderen Waffen; mit Waffen, die keine Wunden reißen; und die Kämpfe, die wir austragen, nehmen auch kein furchtbares Ende, sondern sie schweißen unsere Truppe erst zu einer richtigen Kameradschaft zusammen, manchmal sogar wird aus der Kameradschaft eine Freundschaft, die ein ganzes Leben anhält! Auch die harten Gesetze der Gesellschaft gelten bei uns nicht. Rivalisieren und Konkurrieren oder der Zwang, Leistung zu erbringen, sind uns fremd, jedenfalls so lange wir in Haus Sternbald weilen. Konkurrenz ist für uns kein verbissener Kampf um Ansehen und Ehre, sondern Konkurrenz gilt uns nur als Spiel!’ -

      So also erklärte Walter Harms plausibel den Sinn seiner Abschweifung. Die meisten Jungen schauten während dessen etwas verlegen drein, denn wohl keiner von ihnen hatte sich schon tiefere Gedanken über das Kriegerische der bösen Welt oder über die harten Bedingungen der Gesellschaft gemacht, doch sie nahmen Walter seine edle Denkart ab, jedenfalls Elmar tat es, und so wandte sich der Sippenführer erneut dem Verlauf des Geländespiels zu, das ganz in den Hintergrund getreten war. Das für sie maßgebende Trompetensignal - erläuterte er - sei wieder deutlicher zu hören ge­wesen, und nachdem er noch einmal angestrengt die grüne Masse der auf- und ab­steigenden Waldhügel abgesucht, natürlich in der Richtung, aus welcher das Signal zu ihnen herüberschallte, habe er sie doch noch entdeckt, die Räuber, weit weg vom Aufmarsch der Panzer: eine kleine Truppe, vielleicht erschöpfte Nachzügler, sei aus einer Waldschneise auf einen Weg heraus­getreten und habe vorsichtig nach allen Sei­ten gespäht. Gleich habe er den Befehl zum Angriff gegeben, und sofort eilten seine Jäger, die Speere trotzig unter den Arm geklemmt, in die angegebene Richtung einen riesigen kahlgeschlagenen Hang hinunter. Durch Unterholz und Gestrüpp bahnten sie sich ihren Weg, wobei mancher mit seinem Speer in den Zweigen hängen blieb, aber alle seien nach kurzer Zeit wohlbehalten auf jenem Weg angekommen, an dessen un­terem Ende sich die Räuber versammelt hätten. Diese, gerade dabei, sich eine Ruhe­pause zu gönnen, wären entsetzt hochgefahren und davon gestoben, doch es hätte ih­nen nichts genützt; sie waren halt entdeckt und mussten sich dem Kampf stellen.

      Herr Wagenbach als Schiedsrichter - schilderte Walter Harms weiter die Schlusspha­se des Waldspiels - hielt sich ständig in der Nähe