spielt für uns auch keine Rolle!“
Darauf sich wieder aufrichtend und einige Momente zerfahren nach Worten suchend, fuhr er mit seiner Erzählung fort:
„Herr Wagenbach öffnete also das Tor und. begrüßte uns mit seiner energischen Stimme, lachte herzlich, und wir traten in das Lager ein. Der E.F. sei noch nicht da; erst beim Abendappell, sagte Herr Wagenbach, werde er zur Begrüßung erscheinen. Nachdem man uns unsere Schlafstellen in einem der Zelte zugewiesen hatte, hieß es: „Antreten zum Appell!“ Sämtliche Jungen traten nun im Karree auf dem Appellplatz an, und bald erschien auch der E.F., das heißt unser Erstführer, Paul Bildner, in seiner gewohnten Kluft: weiße Jacke, Reithosen und Stiefel; er ist bereits etwas korpulent, hat einen kleinen Bauch, die Haare sind schon gelichtet, aber die geistige Verfassung zeugt von ewiger Jugend. Er hat Witz und Humor, er trifft immer den richtigen Ton, um uns Jungen zu begeistern.“
Walter machte wieder eine kleine Pause, räusperte sich, dann fuhr er fort:
„Nun folgte die von allen erwartete humorige Begrüßungsansprache des EF. Na ja, ich kann sie hier schlecht wiedergeben. Dafür fehlt mir die Rednergabe und auch der Witz des Erstführers. Aber so eine Ansprache wird euch ja auf alle Fälle nicht entgehen. Ihr werdet sie garantiert noch erleben, wenn ihr erst einmal nach ’Haus Sternbald’ kommt.“
Der Sippenführer unterbrach erneut seinen Vortrag, schaute auf die Uhr, sagte dann, er müsse gleich die Runde hier verlassen, da ihn andere Pflichten zur Zeit in Anspruch nähmen, welche, ließ er zunächst offen. Sein Stellvertreter Gerhard Nebel werde die „Rast“ weiter führen, fügte er noch hinzu. Walter deutete dabei auf einen Jungen, der zu seiner Rechten saß, offensichtlich ein Unterführer, denn er trug eine grüne Kordel um sein braunes Halstuch. Dieser, indem er angesprochen wurde, setzte sogleich eine übertrieben wichtige Miene auf, verzog seinen Mund zu einem dünnen Strich, klappte die Augenlider mehrmals auf und nieder und ließ sodann blitzschnell die Augen im Kreise kullern, was wohl heißen sollte, dass er die Ehre der übertragenen Aufgabe zu schätzen wusste.
Zuvor aber - Walter hatte sich wieder den Jungen zugewandt - wolle er noch kurz den Ablauf eines Lagertages schildern, vor allem wolle er von einem Waldspiel erzählen, das ihm noch frisch in Erinnerung sei; auch davon, wie es organisiert werde, welche Regeln, Tricks und Schliche man kennen müsse und was bei den Speerkämpfen oder Flussgefechten zu beachten sei, die jeweils den Höhe- und Schlusspunkt der Spiele bildeten.
„Was sind eigentlich Flussgefechte?“ fragte plötzlich einer, der offenbar zu den Neuen, noch nicht Eingeweihten zählte, ein Knappe mit blauem Halstuch, und Sippenführer Walter blieb die Antwort nicht schuldig:
„Flussgefechte sind Speerspiele in Gruppen, sie werden zu beiden Seiten eines Flussgrabens ausgetragen. Ideal hierfür ist die große Wiese des Lagers. Der breite Graben stellt den ’Fluss’ dar, die kämpfenden Parteien stehen dann diesseits und jenseits des ’Flusses’. Aber auch während des Geländespiels, wenn die beiden Parteien aufeinanderprallen, werden oft Flussgefechte ausgetragen. Jeder Spielteilnehmer bekommt zu Beginn des Spiels einen Speer, der vorne gepolstert ist, und man versucht, sobald der Kampf beginnt, den Gegner unterhalb des Knies zu treffen. Die Schiedsrichter beobachten die Kämpfe und entscheiden, wer ausscheiden muss. Das Ganze macht natürlich Riesenspaß und ist völlig ungefährlich. Ein zu hoch angesetzter Wurf kann wegen der Polsterung des Speers keine Verletzungen hervorrufen.“
„Und wenn der Speer ins Gesicht trifft?“, wollte der Knappe noch wissen.
„Das ist noch nie passiert! Die Schiedsrichter achten scharf darauf, dass die Speere immer von oben nach unten geworfen werden. Genauso werden auch alle vorher instruiert: ja nicht waagrecht zielen oder gar nach oben, Richtung Kopf! Die Jungen halten sich daran; bei uns Pfadfindern will ja keiner den anderen verletzen! Wer trotzdem den Speer zu hoch ansetzt, scheidet sofort aus. Ein schriller Pfiff des Schiedsrichters, und der Junge muss sich in die Büsche schlagen.“
Der Fragesteller, ungefähr 15 Jahre alt, mit Pausbacken und Sommersprossen, nickte zufrieden, und Walter konnte seinen Vortrag fortsetzen. Zunächst informierte er seine Zuhörer, wie angekündigt, über den Ablauf eines Lagertages, und zwar minuziös, von der Frühfanfare, die, von einem Jungen um sechs Uhr geblasen, das Lagerleben in Gang setze, über den morgendlichen Appell mit gleichzeitiger Verkündung der Tageslosung, über Frühstück, Bibelstunde, Spielstunde bis zum Mittagessen, sodann folgt die Stille Freizeit, dann das Vesper mit anschließendem Wandern oder Spielen am Nachmittag, gefolgt vom Abendessen, schließlich die Vorlese- oder Erzählstunde, wo jeder talentierte Erzähler eine vorbereitete Geschichte mit möglichst viel Spannung vortragen dürfe, gefolgt schließlich von der Abendandacht bis hin zum Spätappell, der mit klassischer Musik, meistens mit Grieg- oder Händelmusik den Lagertag beschließe, während die Spätfanfare um 22 Uhr die beginnende Nachtruhe ankündige.
„Es ist jedes Mal ein unvergessliches Erlebnis, sage ich euch“, fuhr Walter mit seiner Schilderung fort, „wenn man am späten Abend mitten zwischen den anderen Pfadfindern im Karree steht und die Abendmusik erklingt. Vor den angetretenen Pfadfindern stehen zwei Unterführer, jeder trägt eine Fackel in der Hand und leuchtet in die Dunkelheit hinein. Eine Fanfare ertönt, dann stellt der EF einen Plattenspieler an und der wunderbare Marsch aus Edward Griegs Sigurd Jorsalfar rauscht mächtig aus den Lautsprechern hervor, ergreift jedes Pfadfinderherz und schwingt in die Nacht hinaus, wo die Musik schließlich, nach vielen Fanfaren, Trommelwirbeln und Paukenschlägen, allmählich verklingt. Ihr werdet es dann selbst spüren, wenn ihr In Haus Sternbald abends im Fackelschein diesem Ausklang eines Lagertages beiwohnt, ihr werdet dieses Gefühl einer verschworenen Gemeinschaft spüren, das da aufkommt, das einem durch den gewaltigen Sigurd-Josalfar-Marsch und überhaupt durch die ganze feierliche Inszenierung vermittelt wird, ein Gefühl der nie endenden Kameradschaft und der Ergebenheit gegenüber Gott; vorausgesetzt natürlich, man ist mit Leib und Seele Sternbald-Pfadfinder, man hat sich ein für allemal mit seinem ganzen Herzen der Pfadfindersache verschrieben!“
Nach dieser gefühlvollen Einlage ließ Walter Harms eine Pause folgen, in der er vermutlich seiner eigene Ergriffenheit erst einmal Herr werden wollte, vielleicht aber auch hatte er ganz anderes im Sinne, denn seine Augen schienen aufmerksam in die Runde seiner Zuhörer zu blicken, als wollte er dort, bei den Jungen, die Wirkung seiner schwärmerischen Schilderungen beobachten. Dann wandte er sich wieder seinem Zettel zu, in dem er die Abläufe der Lagertage aufgeschrieben hatte: Geländespiele, sagte er, jetzt wieder im sachlichen Ton an seine Beschreibungen anknüpfend, fänden ungefähr alle vier Tage statt, meistens am frühen Nachmittag, seltener am Vormittag; der werde mehr zu kleineren Spielen auf der großen Wiese, auch zu Ballspielen oder Einzelspeerkämpfen genutzt. Natürlich fänden am Vormittag auch die Pfadfinderübungen und die Bibelarbeit statt. Der Nachmittag stehe, wenn es regne oder zu kalt sei oder wenn sich allgemeine Müdigkeit einstelle, auch zur freien Verfügung, manchmal würden hier auch gemeinsame Wanderungen in die Umgebung des Ferienlagers unternommen.
Walter hatte diesen eher trockenen Teil seines Vortrages mehr im Stile der Aufzählung und nüchternen, spröden Tones referiert. Danach ging er, wie schon bei der Schilderung des gefühlvollen, mit Griegmusik untermalten Lagerausklangs, erneut zu der von ihm gewohnten packenden Erzählweise über, die Elmar zuvor so gewaltig ergriffen hatte. Kein Wunder, war er doch zu einem ergiebigeren Thema übergewechselt, zu den Geländespielen, und hier gab es für ihn keine Notwendigkeit mehr, Punkt für Punkt trockene Fakten aufzuzählen, die Ereignisse abstrakt darzustellen, wie sie sich üblicherweise in einem Lager zutragen; hier konnte er den Jungen jetzt das rauschhafte Gefühl des selbsterlebten Waldspiels vermitteln, und das tat er wieder in der ihm eigenen Art, das Spiel in all seinen dramatischen Verläufen wie ein farbiges Gemälde vor den Pfadfindern hinzuzaubern.
Es sei das letzte Geländespiel gewesen, das er in Haus Sternbald miterlebt habe - so begann er, die Stimme auf den bereits bekannten helleren Begeisterungston hebend, mit temperamentvollerer Gestik, ausdruckstärkerer Mimik, erneut einsetzendem Augenleuchten und Augenrollen, womit er die innere Anteilnahme verriet, die beglückende Erinnerung an etwas, was sich ihm unauslöschlich eingeprägt hatte.