Heinz-Jürgen Schönhals

Ulrike D.


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das Auge freundlich zum Aus­ruhen einladenden Steingarten anlegen, und zwar seitlich an der Terrasse. Also mussten erst einmal Steine herangeschleppt, guter Mutterboden aus Walderde, Sand und Torf gemischt, außerdem Polsterstau­den in reicher Zahl einge­kauft werden, und nachdem dies geschehen, nachdem alle diese Pflanzenjuwele, zunächst noch unansehnlich grün ausschauend, eingegra­ben waren, dauerte es nicht mehr lange, bis die stolzen Kohorten der Früh­jahrs- und Sommerblüher nacheinan­der ihre Farbteppi­che direkt vor der Ter­rasse prachtvoll und bunt entroll­ten: zuerst das gelbe Steinkraut und das dunkelviolette Blau­kissen, dann der karminrote Riesen­steinbrech und die Küchen­schelle mit ihren zartvioletten Blütenblättern und gelben Kelchen. Ihr folgten bald das weißleuchtende Hornkraut mit seinen silbrigen Blättern und Stängeln sowie die duftend­blauen Glocken der Campanula; schließlich - als krö­nenden Abschluss - entfalteten die rotvioletten und die rosa-weißen Blü­ten der Flam­menblume ihren ganzen feurigen Charme. Auf den Rand­beeten, wo ein Drahtzaun die kleine Kulturlandschaft von dem Wald trennte, prang­ten wie selbst­verständlich in allen denkbaren Farbtönungen die Polianda- und Floribundarosen, und in den beiden Winkeln des hinteren Zaunes streckte ab August, jeweils aus dichten Horsten, der Sonnenhut seine gold­gelb strahlenden Köpfe empor. -

      Doch wo war all diese Herrlichkeit geblieben? Vergeblich suchte Elmar ei­nige seiner Gartenlieblinge wiederzufinden. Es war buchstäblich nichts mehr vorhanden; nur von den Birken und Ahornen stand noch je ein Exemplar, aber kläglich dahinküm­mernd, weil fast vollständig zugedeckt von urwüchsig wuchernden Schlehen und Heckenkirschen. Und die Gartenbeete? Der Zaun war selbstverständlich nicht mehr da. Inner­halb des Bereiches, den er einst schützend umhegte, war alles von Brenn­nesseln und Queckenhorsten über­wachsen; dazwischen schossen einige Jungfichten in verschiedener Größe platzgreifend empor; im übrigen war der von ihnen einst un­ter großen Mühen urbar gemachte Boden von bizarr durcheinanderlaufenden Baum­wurzeln zerschnitten und zerschunden. Keine Spur mehr von den prachtvollen Rho­dodendrenbüschen! Der grüngoldene Liguster, die buntblätt­rigen Hartriegel­sträucher - wie vom Erdboden verschluckt! Und der Waldginster, jener stolze Strauch mit sei­nen im Frühsommer goldfunkelnden Blütentrauben? Auch er verschwunden in dem Gewirr von Brennnesseln und buschigem Wollgras!

      Elmar bückte sich. Zwischen zwei buckligen Grasbüschen hatte er etwas entdeckt, einen Backstein. Also doch ein Überrest! Aber von Moos überzo­gen. Er gehörte of­fenbar zu den Grundmauern ihres Hauses. Er hob ihn auf, betrachtete kurz das zer­bröckelte, rissige Gebilde und warf es dann in ho­hem Bogen in den See, dorthin, wo nach seiner Vorstellung auch die übrigen Teile des Hauses versunken waren. Viel­leicht hatte ein Sturm das morsch gewordene Holzhaus ir­gendwann zum Einsturz ge­bracht, zahlreiche Balken mochten ins Wasser gefallen und abgetrieben sein; andere waren viel­leicht eines Tages von irgendeinem Bauern samt den Ziegelsteine, die er vielleicht gut gebrauchen konnte, abtransportiert worden. Das Holz hatte er vermut­lich verfeuert, die Ziegelsteine anderweitig verwendet, vielleicht als Grundmau­ern für einen neuen Stall.

      In Gedanken verloren, setzte sich Elmar auf einen Baumstumpf, sein Blick wanderte den Weg entlang, den er gerade gekom­men war, hielt bei einer vereinzelt stehenden Pyramidenpappel an, durch welche der Wind wie ra­send hindurchging. Er erinnerte sich, den Baum schon in frühester Jugend so beobachtet zu haben, in gleicher Größe und Gestalt; ja das Bild seiner unbändig im Wind hin und her schwankenden Krone schien ihm plötzlich so ver­traut, als stände dort ein alter Bekannter und grüßte mit heftiger Gebärde zu ihm herüber, um seiner wilden Freude über ihr Wiedersehen Ausdruck zu verleihen. Da dieser Baum für ihn gleichsam das Verbindungsglied zu den früheren Zeiten darstellte, reizte es ihn, die alte Zeit wieder in Erinnerung zu­rückzurufen. Dagegen musste erst einmal ein anderer, warnender Ge­danke niederge­rungen werden, der ihm riet, die alten Geschichten, statt sie zu seinem Miss­vergnügen zu neuem Leben zu erwecken, lieber in den ver­schlossenen Schubfächern seines Gedächtnisses ruhen zu lassen.

      Doch das Verlangen, gerade dies zu tun, das heißt die Schubfächer aufzu­schließen und in Augenschein zu nehmen, regte sich bei ihm, es regte sich umso mehr, je stär­ker er den Wunsch verspürte, von seinen künftigen Alp­träumen befreit zu werden, die vielleicht noch belastender, noch qualvoller sein könnten, als die Erinnerung an irgendwelche unguten Ereignisse seiner Vergangenheit. Instinktiv ahnte er, es hätte Vorfälle um Ulrike Düsterwald und um Julia gegeben, an denen er beteiligt gewesen war und die bei ihm ein schlechtes Gewissen, ja ein Schuldgefühl ausgelöst hatten. Welche Vor­fälle das waren, wusste er nicht mehr genau. Er hatte alle Erlebnisse, die mit Julia zusammenhingen, weitestgehend verdrängt. Sein Entschluss damals, sich niemals mehr des Kapitels, das Julia Lambertz hieß, zu erinnern, führte im Laufe der Zeit dazu, dass ihm der ganze Beziehungsknäuel entglitt, dass sich in seinem Ge­dächtnis, was die Erlebnisse mit Julia im Einzelnen betraf, eine große, weiße Fläche herausgebildet hatte. Doch diese Fläche - über­legte er - wenn er auf sie jetzt wieder die Bilder dieser bestimmten, anvisier­ten Phase seines Lebens projizierte - könnte sich das für ihn nicht doch po­sitiv auswirken? Könnte er nicht, indem er den Sperr­riegel seines Verdrän­gungs­mechanismus löste und die genannten Schubfächer, wo seine Erleb­nisse mit Julia Lambertz sozusagen ausgelagert waren, ge­nauer inspizier­te, durch ein solches gezieltes Erinnern den Gang jener Er­eignisse in seiner Folge­richtigkeit erst richtig erkennen und verstehen und sie auch am Ende richtig verarbei­ten? Klar - sagte er sich - das wäre doch immerhin möglich. Den gan­zen verdrängten Erlebniskomplex, der sich in seiner Seele zu dem bekann­ten unseligen Störfaktor ausgewachsen hatte, zum Wohle seines künftigen Nachtschlafes unschädlich zu ma­chen - etwas Besseres könnte ihm doch gar nicht passieren! Heilen durch Erinnern, diesen Spruch hatte er irgendwo einmal gelesen. Er bekam für ihn jetzt eine aktuelle Bedeutung. So sah er in seinem Vorhaben, in die Vergangenheit zurückzukehren, schließ­lich keine Alternative mehr. Jedenfalls die andere Möglichkeit, einfach diesen Ort der Erinnerung wieder zu verlassen und nach Waldstädten zurückzukeh­ren, kam für ihn nicht mehr in Frage. Und also überwand er ziemlich schnell seinen Widerwill­en gegen das Heraufbeschwören früherer Zeiten, er negierte auch die wei­ter in ihm hochtreibenden und heftig wider­sprechenden War­nungen vor solchen Rückblicken, sondern erteilte seinen Gedanken den Befehl, die ge­waltige Distanz, die ihn von jenen Ereignissen trennte, im Nu zu überbrü­cken. Gleichzeitig heftete er seinen Blick unverwandt auf den sich im brau­senden Wind weiter hin- und herbiegenden Baum, als ob er für ihn der Weg­weiser zu den alten Zeiten wäre, als ob er ihn nur lange genug an­starren müsste, schon wären seine zurückeilenden Gedanken in der versun­kenen Welt angekommen. Und in der Tat trat etwas Seltsames ein: die kleine Scholle, auf der er regungslos auf dem Baumstumpf saß, be­gann sich wieder dem Zustand von ehedem anzunähern, auch der See selbst und der Topen­bühl samt den ausgedehnten Steinfirstwäldern veränderten etwas ihr Ausse­hen, aber eigentlich brauchten sie das nicht, sie sahen ohnehin wie früher aus. Die Zeit lief rückwärts und seine Gedanken liefen mit, sie durch­eilten die Jahre und Jahrzehnte, tauchten tief hinab in die Vergangenheit, die wie ein Lichtjahre entfernter, winziger Sternennebel, allmählich größer und größer werdend, auf ihn zukam; immer näher schwebte er heran, der Nebel, und wurde schließlich zu einer Wolke, die sich ständig vergrößerte, und aus ihr schaute bald irgend etwas heraus, zunächst in Umrissen, dann, nachdem die Nebelschleier sich verzogen, trat dieses Etwas in kristallener Schär­fe hervor: es war - ihr Blockhaus von einst! Auf solidem Backsteinfundament gebaut, stand es auf einmal vor ihm, mit gediegenen Holzwänden, von de­nen das Flachdach, an allen Seiten vorspringend und gegen Regenschauer und ste­chende Sonne Schutz bietend, getra­gen wurde. Der wildüberwach­sene Waldboden vor der Terrasse verwandelte sich in einen zauberhaften Garten, freundlich leuchteten ihm die Frühlings- und Frühsommerblüher un­ter den Stauden entgegen, und die ersten Rosen hatten ihre wunderschönen Blüten bereits entfaltet. Verblüfft stellte Elmar fest: Die Zeit hatte sich ver­wandelt, er war wieder in der Jugend. Er stand mit einem Jungen vor dem Häuschen und betrachtete mit ihm ehrfurchtsvoll den Garten, welchen sie kurz zuvor vollendet hatten. Der Junge war Joachim Schaller, sein Jugend­freund.

      Der Jugendfreund

      „Nun, Achim“, sagte er (vor über 20 Jahren) „darf ich vorstellen: unser frisch erblüh­ter Garten! Das Haus kennst du ja bereits! Alles reserviert für uns - sagt mein Vater;