begab er sich auf sein Zimmer, wo er sich rasch noch etwas frisch machte, denn er wollte einigermaßen zivilisiert im Speiseraum des Hotels erscheinen und dort ein kurzes Nachtmahl einnehmen. Nachdem er zu Abend gegessen hatte, blieb er noch eine Weile am Tisch sitzen und blätterte zerstreut in einer Illustrierten. Sollte er Jörns’ Rat vielleicht doch befolgen und noch einen Bummel durch die Kleinstadt machen? Mal flüchtig da und dorthin schauen, um zu sehen, was sich geändert hatte? - Nein, entschied er nach kurzem Nachdenken! Er war zu müde, und er hatte keine Lust! Auch den Anruf bei Frau Lambertz verschob er auf morgen früh. Also begab er sich auf sein Zimmer und legte sich, erschöpft von der Reise und den Aufregungen des Tages, ins Bett, um einen langen und wie er hoffte: erquickenden Schlaf zu tun.
Doch jetzt trat das ein, was er insgeheim befürchtete: Er schlief nicht ein, er lag auf seinem Hotelbett, hellwach und aufgewühlt. Ständig musste er über die Erzählungen des Journalisten Jörns nachdenken, besonders über seine letzten Worte, die sich ihm ins Gedächtnis eingegraben hatten und die nun, wie aus einem inneren Lautsprecher heraus, mit Jörns Stimme auf ihn einredeten: ‚Die Natur ist unser aller Schicksal.... sie zerstört die beste Ehe...sie zerstört die beste Freundschaft.....!’
Was sollte das alles? Was sollte die merkwürdige, bilderreiche Beschwörung der Natur? Warum - fragte er weiter - hatte Jörns ihm überhaupt jene seltsame Geschichte erzählt? Um ihm die Zeit zu verkürzen, während der Fahrt nach Enkdorf? Daran glaubte er nicht mehr! Vielmehr glaubte er, einem hässlichen Gedanken Raum gebend, Jörns habe etwas Bestimmtes im Schilde geführt, etwas Gemeines, Tückisches. Obwohl Elmar vorher nie etwas von dem betrogenen Mädchen gehört hatte, kam ihm die Geschichte mit einem Male bekannt vor, so als hätte sie eine rätselhafte Beziehung zu seinem eigenen Leben, und er vermutete schließlich, wobei er an die Blicke des Journalisten dachte, wie sie von der Seite forschend auf sein Innerstes zielten, dieser Jörns habe mit seiner Erzählung seine, Elmars, eigene Vergangenheit im Visier gehabt, wo sich ähnliche Ereignisse zugetragen hatten, wo es auch zu einem Bruch, zu einem Verrat gekommen war. Auf diesen Verrat oder was immer es gewesen war - er konnte sich im Augenblick nicht genau erinnern und er wollte das auch gar nicht - auf ihn hatte der neugierige und zugleich unverschämte Journalist angespielt, indem er ihm die Geschichte sozusagen als Gleichnis, als tragische Parabel erzählte!
Doch plötzlich waren sie da, die Erinnerungen, auf die Elmar so gerne verzichtet hätte, Erinnerungen an längst abgeschiedene Zeiten. Aus den verborgensten Winkeln seiner Seele stiegen sie empor, traten heraus aus den schwärzesten Schatten des Unterbewussten, wo sie lange in tiefer, barmherziger Vergessenheit geruht hatten, und sie standen jetzt vor ihm, zuerst noch verschwommen, bald aber scharf konturiert und klar unterscheidbar - Bilder mit verwirrendem, schlafraubendem Inhalt, und zwischen Halbschlaf und dämmrigem Wachsein ständig hin - und herschwankend, überlegte er verzweifelt, wie er den nicht abreißenden Strom der Erinnerungen, diesen zermürbenden Attacken auf seinen Nachtschlaf ein Ende bereiten könnte. Als er endlich einschlummerte, suchten ihn grausige Träume heim: Wie ein düster beleuchteter Horrorfilm ziehen sie vor den Augen seines träumenden Ichs vorüber, versetzen es in Angst und Schrecken. Er sieht das betrogene Mädchen, von dem Jörns erzählt hat; im weißen Grabgewand, die Haare wirr um den Kopf, schreitet es durch die engen Gassen von Waldstädten, vorbei an den geduckten, fugenlos aneinandergereihten Häusern der Altstadt. An einem Haus hält es an, einem größeren, herrschaftlichen, und ihre starren, toten Augen richtet sie jetzt zum oberen Stockwerk hinauf, wo zwei grell erleuchtete Fenster kalte, seelenlose Scheinwerferblicke in die Nacht hinausschicken, als wären es die viereckigen Augen eines Monsters. Dann - ein Szenenwechsel: die unheimliche Gestalt taucht erneut auf, dieses Mal in einem Treppenhaus, und sie klopft an eine Tür, bittet um Einlass, tritt vor eine versammelte Hochzeitgesellschaft und beginnt zu sprechen, zuerst leise, unverständlich; hingemurmelte Sätze fegen die Partylaune der Hochzeitsgäste weg, lächelnde Gesichter erstarren zu Grimassen. Schließlich lauter werdend, redet sie mit schneidender Stimme, prangert ihre beste Freundin an, bezichtigt sie, ihr den Bräutigam weggenommen zu haben, auf schändliche Weise, mit raffinierten Zaubertricks. ’Sie ist eine von euch!’, stößt sie hervor, ’und ihr, statt zu feiern, solltet diese kaltherzige Person aus euren Reihen verbannen, ihr solltet sie bestrafen! Sie ist eine Mörderin. Mich hat sie gemordet!’ - Und wieder ein Szenenwechsel: das Mädchen umschleicht das elterliche Haus der Rivalin, mit starrem Blick Ausschau haltend nach dem Liebespaar; schließlich entdeckt sie die beiden in einer Nische, in wildem Kusse vereinigt! ’Was tut ihr da?!’, schreit sie mit kreischender Stimme und schlägt mit ihrer Tasche auf die Rivalin ein; ’ihr habt kein Recht, so zu handeln! Dies ist mein Bräutigam. Du hast ihn mir gestohlen!’ Und als die beiden Verliebten in das Haus flüchten und die Tür hinter sich verschließen, kreischt die Verzweifelte: ’Hilfe, Hilfe, Polizei! Ist denn keiner da, der mir hilft?!’ -
In Schweiß gebadet wachte Elmar auf, setzte sich mit gebeugtem Oberkörper auf die Bettkante, presste seine Hand gegen die erhitzte Stirn. Er war schockiert über den furchtbaren Traum, aber auch erleichtert, dass er sich als Phantom herausgestellt und sogleich aufgelöst hatte. Da sein Schlaf ohnehin nur leicht und störanfällig war, musste er befürchten, noch einige Zeit, vielleicht Stunden, wach zu liegen und fortwährend von peinigenden Gedanken bedrängt zu werden. Wie verwünschte er jetzt den Augenblick, dass er ausgerechnet diesem flüchtigen Bekannten aus seiner Jugend begegnet war, diesem Journalisten, mit seinem aufdringlichen, neugierigen Benehmen. Spürte er doch, wie dieser Mensch etwas in ihm wachgerüttelt hatte, das sich womöglich nicht mehr so leicht in jene geheimen Seelenräume zurückbannen ließ, wo es lange Zeit, unerreichbar für das tastende Suchen seiner Erinnerung, verborgen blieb.
Er griff also nach einer Schlaftablette, um wenigstens von weiteren bedrückenden Erinnerungen unbehelligt zu bleiben, und fand auch bald danach den ersehnten, dieses Mal traumlosen Schlaf, aus dem er erst gegen 8 Uhr früh halbwegs erholt aufwachte.
Da er heute viel vorhatte und auch das Wetter sich wieder, wie gestern Nachmittag, von seiner freundlichen Seite zeigte, beeilte er sich. Rasch frühstückte er im Büffetraum des Hotels, legte sich dabei die Worte zurecht, die er an Frau Lambertz am Telefon richten wollte, die Erklärung also, warum er erst morgen zu ihr käme und dass sie auf den Schlüssel, den er ihr im Auftrag von Klara überbringen sollte, noch einen Tag länger warten müsste. Nachdem er gefrühstückt hatte, ging er wieder auf sein Zimmer und wählte auf seinem Zimmertelefon die Nummer von Frau Lambertz.
„Lambertz!“, tönte es vom anderen Ende der Leitung her.
„Ja, hier Redlich, Elmar Redlich! Guten Tag, Frau Lambertz!“
„Elmar!“, rief Frau Lambert freudig. „O, wie freue ich mich, etwas von dir zu hören! Elmar, nein, so ’was! Ich glaube, 25 Jahre sind das nun her, dass wir zuletzt miteinander gesprochen haben, nicht? 25 Jahre! Was für eine lange Zeit! - Übrigens hat mich Klara gestern angerufen und mir.....“
„Ja, deshalb bin ich hier, Frau Lambertz“, unterbrach Elmar die alte Frau, „ich bin nach Waldstädten gekommen, um Ihnen den Haustürschlüssel zu bringen.“
„Was, du bist jetzt schon in Waldstädten? So früh schon? Wir haben doch erst 9 Uhr...“
„Deshalb rufe ich ja an, Frau Lambertz. Ich bin schon seit gestern in Waldstädten und wollte Ihnen.......“
„Seit gestern schon? Und da hast du dich nicht mal gemeldet.“
„Es ist so, Frau Lambertz: Ich habe hier in Waldstädten und auch in Enkdorf einiges zu erledigen. Alte Freunde möchte ich besuchen, deshalb werde ich erst morgen bei Ihnen hereinschauen.“
„Aha!“, tönte es aus der Telefonmuschel, „ja, das verstehe ich natürlich, Elmar, dass du in deinem Heimatdorf alte Freunde besuchen möchtest. Selbstverständlich bist du dann morgen bei uns eingeladen, sagen wir zum Kaffee, ja? - Wenn ich uns sage, Elmar, so meine ich...... Julia und mich. Julia hat ihren Besuch auch verschoben, sie kommt erst morgen Nachmittag, weißt du? Das trifft sich also gut, dass ihr beide am selben Tag hier bei mir ankommt.“
„Ah ja!“, sagte Elmar