Heinz-Jürgen Schönhals

Ulrike D.


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begab er sich auf sein Zimmer, wo er sich rasch noch etwas frisch machte, denn er wollte einigermaßen zivilisiert im Speiseraum des Ho­tels erscheinen und dort ein kurzes Nachtmahl einneh­men. Nachdem er zu Abend ge­gessen hatte, blieb er noch eine Weile am Tisch sitzen und blätterte zerstreut in einer Illu­strierten. Sollte er Jörns’ Rat vielleicht doch befolgen und noch einen Bummel durch die Kleinstadt ma­chen? Mal flüchtig da und dorthin schauen, um zu sehen, was sich geändert hatte? - Nein, entschied er nach kurzem Nachdenken! Er war zu müde, und er hatte keine Lust! Auch den Anruf bei Frau Lambertz verschob er auf mor­gen früh. Also begab er sich auf sein Zimmer und legte sich, erschöpft von der Reise und den Aufregungen des Tages, ins Bett, um einen langen und wie er hoffte: er­quickenden Schlaf zu tun.

      Doch jetzt trat das ein, was er insgeheim befürchtete: Er schlief nicht ein, er lag auf seinem Hotelbett, hell­wach und aufgewühlt. Ständig musste er über die Erzählungen des Journalisten Jörns nachdenken, besonders über seine letzten Worte, die sich ihm ins Gedächtnis eingegraben hatten und die nun, wie aus einem inneren Lautsprecher heraus, mit Jörns Stimme auf ihn einre­deten: ‚Die Natur ist unser aller Schicksal.... sie zerstört die beste Ehe...sie zerstört die beste Freundschaft.....!’

      Was sollte das alles? Was sollte die merkwürdige, bilder­reiche Beschwörung der Na­tur? Warum - fragte er weiter­ - hatte Jörns ihm überhaupt jene selt­same Geschichte erzählt? Um ihm die Zeit zu verkürzen, während der Fahrt nach Enkdorf? Daran glaubte er nicht mehr! Vielmehr glaubte er, einem hässlichen Gedanken Raum ge­bend, Jörns habe etwas Bestimmtes im Schilde geführt, etwas Gemeines, Tücki­sches. Obwohl Elmar vorher nie et­was von dem betro­genen Mädchen gehört hatte, kam ihm die Geschichte mit einem Male bekannt vor, so als hätte sie eine rätselhafte Be­ziehung zu sei­nem eigenen Leben, und er vermutete schließlich, wobei er an die Bli­cke des Journalisten dachte, wie sie von der Seite forschend auf sein Innerstes ziel­ten, dieser Jörns habe mit seiner Erzählung seine, Elmars, eigene Vergan­genheit im Visier gehabt, wo sich ähnliche Ereignisse zugetragen hatten, wo es auch zu einem Bruch, zu einem Verrat gekommen war. Auf diesen Verrat oder was immer es gewe­sen war - er konnte sich im Augenblick nicht genau erin­nern und er wollte das auch gar nicht - auf ihn hatte der neugie­rige und zugleich unverschämte Journalist ange­spielt, indem er ihm die Geschichte sozusagen als Gleichnis, als tragische Parabel er­zählte!

      Doch plötzlich waren sie da, die Erinnerungen, auf die Elmar so gerne ver­zichtet hät­te, Erinnerungen an längst abgeschie­dene Zeiten. Aus den ver­borgensten Winkeln seiner Seele stiegen sie empor, traten heraus aus den schwärzesten Schatten des Un­terbewussten, wo sie lange in tiefer, barm­herziger Vergessenheit geruht hatten, und sie standen jetzt vor ihm, zuerst noch verschwommen, bald aber scharf kontu­riert und klar unterscheidbar - Bilder mit verwirrendem, schlafraubendem Inhalt, und zwi­schen Halbschlaf und dämmrigem Wachsein ständig hin - und her­schwankend, über­legte er verzweifelt, wie er den nicht abreißenden Strom der Erinnerungen, diesen zermürbenden Attacken auf seinen Nachtschlaf ein Ende bereiten könnte. Als er end­lich einschlummerte, suchten ihn grausige Träu­me heim: Wie ein düster beleuchteter Horrorfilm ziehen sie vor den Augen seines träumenden Ichs vorüber, versetzen es in Angst und Schrecken. Er sieht das betrogene Mädchen, von dem Jörns erzählt hat; im weißen Grabgewand, die Haare wirr um den Kopf, schreitet es durch die engen Gassen von Waldstädten, vorbei an den geduckten, fugenlos aneinandergereihten Häu­sern der Altstadt. An einem Haus hält es an, einem größeren, herrschaftliche­n, und ihre starren, toten Au­gen richtet sie jetzt zum oberen Stockwerk hin­auf, wo zwei grell er­leuchtete Fenster kalte, seelenlose Scheinwerfer­blicke in die Nacht hinaus­schicken, als wären es die viereckigen Augen eines Monsters. Dann - ein Szenenwechsel: die unheimliche Gestalt taucht erneut auf, dieses Mal in einem Treppen­haus, und sie klopft an eine Tür, bittet um Einlass, tritt vor eine versammelte Hochzeitgesellschaft und beginnt zu sprechen, zuerst leise, unverständlich; hingemurmelte Sätze fegen die Party­laune der Hochzeitsgäste weg, lächelnde Gesichter erstarren zu Gri­massen. Schließlich lauter werdend, redet sie mit schneidender Stimme, pran­gert ihre beste Freundin an, bezichtigt sie, ihr den Bräutigam weggenommen zu ha­ben, auf schändliche Weise, mit raffinierten Zauber­tricks. ’Sie ist eine von euch!’, stößt sie her­vor, ’und ihr, statt zu feiern, solltet diese kaltherzige Per­son aus euren Reihen verbannen, ihr solltet sie bestrafen! Sie ist eine Mör­derin. Mich hat sie gemordet!’ - Und wieder ein Szenenwechsel: das Mäd­chen um­schleicht das elterliche Haus der Rivalin, mit starrem Blick Ausschau hal­tend nach dem Liebespaar; schließlich ent­deckt sie die beiden in einer Nische, in wildem Kusse vereinigt! ’Was tut ihr da?!’, schreit sie mit krei­schender Stimme und schlägt mit ihrer Tasche auf die Rivalin ein; ’ihr habt kein Recht, so zu han­deln! Dies ist mein Bräutigam. Du hast ihn mir gestoh­len!’ Und als die beiden Verliebten in das Haus flüchten und die Tür hinter sich verschließen, kreischt die Verzweifelte: ’Hilfe, Hilfe, Polizei! Ist denn kei­ner da, der mir hilft?!’ -

      In Schweiß gebadet wachte Elmar auf, setzte sich mit gebeugtem Oberkör­per auf die Bettkante, presste seine Hand gegen die erhitzte Stirn. Er war schockiert über den furchtbaren Traum, aber auch erleichtert, dass er sich als Phantom herausgestellt und sogleich auf­gelöst hatte. Da sein Schlaf ohnehin nur leicht und störanfällig war, musste er befürchten, noch ei­nige Zeit, vielleicht Stunden, wach zu liegen und fort­während von peinigenden Gedanken be­drängt zu werden. Wie verwünschte er jetzt den Augenblick, dass er ausgerechnet diesem flüchtigen Bekannten aus seiner Ju­gend be­gegnet war, diesem Journalisten, mit seinem aufdringlichen, neugierigen Be­nehmen. Spürte er doch, wie die­ser Mensch etwas in ihm wachgerüttelt hatte, das sich womöglich nicht mehr so leicht in jene geheimen Seelen­räume zurückbannen ließ, wo es lange Zeit, unerreichbar für das tastende Suchen seiner Erinnerung, ver­borgen blieb.

      Er griff also nach einer Schlaftablette, um wenigstens von weiteren bedrü­ckenden Erinnerun­gen unbehelligt zu bleiben, und fand auch bald danach den ersehnten, die­ses Mal traumlosen Schlaf, aus dem er erst gegen 8 Uhr früh halb­wegs erholt auf­wachte.

      Da er heute viel vorhatte und auch das Wetter sich wieder, wie gestern Nachmittag, von seiner freundlichen Seite zeigte, beeilte er sich. Rasch frühstückte er im Büffe­traum des Hotels, legte sich dabei die Worte zurecht, die er an Frau Lambertz am Te­lefon richten wollte, die Erklärung also, wa­rum er erst morgen zu ihr käme und dass sie auf den Schlüssel, den er ihr im Auftrag von Klara überbringen sollte, noch einen Tag länger warten müsste. Nachdem er gefrühstückt hatte, ging er wieder auf sein Zimmer und wählte auf seinem Zimmertelefon die Nummer von Frau Lambertz.

      „Lambertz!“, tönte es vom anderen Ende der Leitung her.

      „Ja, hier Redlich, Elmar Redlich! Guten Tag, Frau Lambertz!“

      „Elmar!“, rief Frau Lambert freudig. „O, wie freue ich mich, etwas von dir zu hören! Elmar, nein, so ’was! Ich glaube, 25 Jahre sind das nun her, dass wir zuletzt mitein­ander gesprochen haben, nicht? 25 Jahre! Was für eine lange Zeit! - Übrigens hat mich Klara gestern angerufen und mir.....“

      „Ja, deshalb bin ich hier, Frau Lambertz“, unterbrach Elmar die alte Frau, „ich bin nach Waldstädten gekommen, um Ihnen den Haustürschlüssel zu bringen.“

      „Was, du bist jetzt schon in Waldstädten? So früh schon? Wir haben doch erst 9 Uhr...“

      „Deshalb rufe ich ja an, Frau Lambertz. Ich bin schon seit gestern in Wald­städten und wollte Ihnen.......“

      „Seit gestern schon? Und da hast du dich nicht mal gemeldet.“

      „Es ist so, Frau Lambertz: Ich habe hier in Waldstädten und auch in Enkdorf einiges zu erledigen. Alte Freunde möchte ich besuchen, deshalb werde ich erst morgen bei Ihnen hereinschauen.“

      „Aha!“, tönte es aus der Telefonmuschel, „ja, das verstehe ich natürlich, El­mar, dass du in deinem Heimatdorf alte Freunde besuchen möchtest. Selbstverständlich bist du dann morgen bei uns eingeladen, sagen wir zum Kaffee, ja? - Wenn ich uns sage, El­mar, so meine ich...... Julia und mich. Julia hat ihren Besuch auch verschoben, sie kommt erst morgen Nachmittag, weißt du? Das trifft sich also gut, dass ihr beide am selben Tag hier bei mir ankommt.“

      „Ah ja!“, sagte Elmar