und Orkane nur symbolisch wüten, durch eine auffällige Pause Nachdruck verleihen. Vielleicht auch musste er sich nur auf den Straßenverkehr konzentrieren, der vorübergehend seine ganze Aufmerksamkeit erforderte.
„Auch im privaten Bereich schlagen die Naturmächte auf uns ein“, fuhr er fort, und seine Stimme schlug erneut einen emphatischen Ton an; „das unglückliche Mädchen, von dem ich dir erzählte...., die Natur war es, die ihm zum Schicksal wurde, die Natur und nichts anderes!“
„Und Elmar....“, er beugte sich jetzt weit zu seinem Nachbarn zur Rechten herüber, wobei sein Kopf fast den Elmars berührte und dieser heißen, übelriechenden Atem zu spüren bekam. Elmar wunderte sich, dass Jörns in dieser verrenkten Haltung überhaupt noch das Fahrzeug lenken konnte, „lass’ es dir gesagt sein!“, hämmerte es jetzt unmittelbar neben Elmars Ohr, mit unschönem Stakkato; „die Natur ist auch unser Schicksal! Sie nimmt keine Rücksicht auf Anstand, auf edle Gesinnung! Und die Moral? Das Gebot der Treue? Die Pflichten? All das zählt bei ihr nicht, alles wirft sie über den Haufen! Sie zerstört die gute Ehe, sie zerstört die beste Freundschaft, reißt Familien auseinander! Erst einmal richtig entfesselt, übt sie ihre Herrschaft über den Menschen aus - und wir? Wir hassen sie! Wir stemmen uns ihr entgegen, als unseren Feind und - sehnen sie zugleich herbei - als unsere wahre Erfüllung!“
Mit diesen starken Worten sind sie vor dem Bürgermeisteramt von Enkdorf angelangt. Beide steigen aus. Mechanisch und mit einem eher hingehauchten ’Danke schön!’ reicht Elmar seinem Bekannten von früher die Hand, denn er war förmlich erschlagen von dem Wortschwall, mit dem Jörns ihn zuletzt überrollt hatte. Das Walten der Natur schien es dem Journalisten mächtig angetan zu haben.
Jörns wünschte Elmar noch einen angenehmen Aufenthalt in Enkdorf und in Waldstädten, er sprach die Hoffnung aus, es sei doch wohl nicht das letzte Mal, dass sie sich gesehen hätten. Dann gab er ihm seine Visitenkarte, forderte ihn auf, morgen oder übermorgen bei ihm hereinzuschauen, möglichst abends, wenn es ginge; tagsüber sei er nicht anzutreffen, da sei er unterwegs oder in der Redaktion oder weiß der Geier wo! Alle seine Worte rauschten an Elmars Ohr vorbei, so rammdösig war er durch Jörns’ gewaltige Beschwörung der Natur geworden, durch das Pathos seiner Schilderungen, welches Verhängnis und Tragik schauerlich aufklingen ließen.
Noch einmal kurz grüßend, stieg Jörns wieder in seinen Wagen und brauste davon, Richtung Waldgirmes, zu der Stelle also, wo die Natur heute Morgen alle ihre Kräfte entfesselt hatte.
Immer noch benommen schaute sich Elmar im Dorf um. Der ganze Ort sah aus, als hätte er ihn erst gestern oder heute früh verlassen, und dort hinten, in jenem weißem Haus auf der Anhöhe, wohnten noch seine Eltern. Er ärgerte sich. Das wunderschöne Erlebnis der Fahrt durch den herbstlich-vergoldeten Mönchswald, dann die hübschen Ausblicke auf sein Heimatdorf, sobald der Wald auflockerte - Jörns hatte ihm alles vereitelt, da er ihn ständig mit seinem Geschwätz festnagelte. Auch sein Elternhaus, welches auf der gegenüberliegenden Seite des Tales, in dem das Dorf eingebettet lag, seine glänzend weiße Fassade vorzeigte, hatte er deshalb nur flüchtig wahrgenommen. Jetzt blickte er genauer hin: Ja, da oben stand es immer noch, ihr Haus, als ob alles so wäre wie vor über 20 Jahren und seine Eltern lebten noch da oben und erwarteten zur Mittagszeit seine Rückkehr von der Schule, und er, Elmar, wäre gerade im Begriff, nach Hause zu kommen.
Er überlegte, was er in Enkdorf alles unternehmen sollte. Gewiss, einen Gang zu seinem Elternhaus hatte er sich fest vorgenommen. Aber sollte er auch ehemalige Nachbarn oder andere Bekannte im Dorf aufsuchen? Wenn sie überhaupt noch lebten, nach so vielen Jahren! Am ehesten die gleichaltrigen Spielgefährten seiner Kindheit, aber auch sie mochten das Dorf, dieses abgelegene Nest hinter den Wäldern, schon vor langer Zeit verlassen haben. Außerdem, die Jahrzehnte, die hinter ihnen lagen - hatten sie nicht das Aussehen der Menschen verändert, in einem Maße verändert, dass ein Wiedererkennen erst unter großen Mühen, nach langen Erklärungen zu erwarten wäre? Er dachte in dem Augenblick nicht an Holger Jörns, der ihn ja in Waldstädten auf Anhieb erkannte und das ungeachtet all jener Veränderungen, welche die Zelt in seinem Gesicht, an seiner Figur, an seinem ganzen Habitus ganz sicher verursacht hatte. Waren es also Lustlosigkeit oder Bequemlichkeit, dass er auf eine umständliche Wiedererkennungsprozedur, wie er sie erwartete, gerne verzichtete? Oder war es die Scheu, alten Bekannten unter die Augen zu treten, ihnen, die einiges über seinen Werdegang wussten, die vielleicht mehr über ihn wussten, als ihm lieb war, genauso Rechenschaft ablegen zu müssen wie gegenüber dem Journalisten Jörns, Rechenschaft vielleicht noch über diese und jene unangenehmen Kapitel seines Lebensromans oder über die fern der Heimat, in der Fremde geschriebenen Kapitel? Sei es, wie es sei! Elmar beschloss, seine Wege sollten ihn - außer zu dem Forsthaus - nur noch zu einem Waldsee führen, der ihm einst ein besonders lieber Ort war, und zu sonst niemandem mehr.
So machte er sich also auf den Weg, und es vergingen keine fünf Minuten, bis nach einer Biegung der Dorfstraße das Forsthaus vor ihm auftauchte, und noch einmal dauerte es so lange, und er stand – nach über 20 Jahren – zum ersten Mal wieder vor dem Haus, in dem er seine Kindheit und Jugend verbracht hatte. Eben noch, von ferne aus dem Fenster des Wagens hinüberblickend, hatte er sich gewundert, dass die lange Zeit offenbar spurlos an diesem zentralen Ort seiner Heimat vorübergegangen war. Doch jetzt, da er das Haus aus der Nähe betrachtete, bemerkte er doch gewisse Veränderungen, die ihm den Zeitablauf ins Bewusstsein hoben: Die Ahornbäume hinter dem Haus, in prachtvolles herbstliches Gelb gekleidet, schickten ihre Kronen um ein Vielfaches höher als früher in den Himmel. Auch die Blaufichte zur Rechten, einst ein kleines Bäumchen, war zu gewaltiger Höhe angewachsen, nur das Haus selbst hatte sein Aussehen kaum verändert, abgesehen von den kargen Vorhängen an den Fenstern, die auf einen nüchternen Geschmack des augenblicklichen Besitzers hindeuteten.
Er öffnete das Vorgartentor und begab sich, um das Haus herumgehend, in den hinteren Teil des Gartens, wo sich der Wintergarten befand, ein erkerhaft vorgebauter Seitentrakt, einst Ort vieler geselliger Kaffeestunden und Dämmerschoppen; der Garten selbst, für ihn als Kind eine bevorzugte Spielstätte von gewaltigem Ausmaß, kam ihm jetzt ungeheuer geschrumpft und unansehnlich vor. Auch der Wintergarten, den er früher als ein mächtiges Gebäude, fast wie ein Haus neben dem Haus empfunden, erschien ihm jetzt wie ein kleines, verkommenes Anhängsel, denn der Putz seiner Wände war rissig und die braune Farbe blätterte von seiner heruntergelassenen Rollläden ab. Noch schlimmer der Garten, der ob seines ungepflegten, vergammelten Aussehens herzzerreißend vor sich hintrauerte. Einige kahl gewordene Rhododendronsträucher fielen Elmar sofort ins Auge, da sie ihm ihre gelblichen Blätter flehentlich, kam es ihm beinah vor, entgegenstreckten, als wollten sie anklagend auf ihre Elend hinweisen, auf die fehlende Pflege und die falsche Behandlung. Von den Obstbäumen keine Spur mehr! Außer einigen kümmerlichen Beeten und den hochgewachsenen Ahornen sah man nur noch Rasen, gelblich-grün verfärbten Rasen, auf dessen Fläche sich mehr das Moos als das Gras ausbreitete. In seiner Mitte reckte ein verkrüppelter Chinawacholder seine ebenfalls kahl gewordenen Zweige in die Luft. Die hochaufgeschossenen Ahornbäume, die Sommer für Sommer tiefere Schatten verbreiteten, hatten ihm wohl das begehrte Sonnenlicht gestohlen, ihm, dem nach Sonne lechzenden Wacholderstrauch.
Wohin man blickte, überall Zeichen fehlender Zuwendung und Pflege. Überflüssig zu erwähnen, dass auf allen Beeten robuster Hahnenfuß, Quecke und Windhalm gegen vernachlässigte Erdbeerkulturen erfolgreich anwucherten, erfolgreich nicht nur gegen die Erdbeerpflanzen, sondern auch gegen allerlei Stauden- und Rosengewächse.
Aus einem der hinteren Fenster, dessen Flügel schräg geöffnet standen und das früher zu einem der beiden Wohnzimmer seiner Eltern gehörte, vernahm er Schreibmaschinengeklapper. Er ging näher heran, stieg auf einen Mauervorsprung an der Hauswand und blickte durch rauchverschmutzte Gardinen in das Zimmer. Überall an den Wänden - riesige Regale, angefüllt mit langen Reihen von Leitzordnern und dicken Bänden. Eine Bürokraft saß, ihm den Rücken zukehrend, vor einer riesigen Schreibmaschine und hämmerte unentwegt auf den Tasten herum. Neben ihr, in unregelmäßiger Anordnung aufgeschichtet, ein gewaltiger Stapel von Akten. Die Stenotypistin hielt zuweilen