Heinz-Jürgen Schönhals

Ulrike D.


Скачать книгу

und Orkane nur symbolisch wüten, durch eine auffällige Pause Nachdruck verleihen. Vielleicht auch musste er sich nur auf den Straßenver­kehr konzentrieren, der vorüberge­hend seine gan­ze Aufmerksamkeit erforderte.

      „Auch im privaten Bereich schlagen die Naturmächte auf uns ein“, fuhr er fort, und seine Stimme schlug erneut einen emphatischen Ton an; „das un­glückliche Mädchen, von dem ich dir erzählte...., die Natur war es, die ihm zum Schicksal wurde, die Na­tur und nichts anderes!“

      „Und Elmar....“, er beugte sich jetzt weit zu seinem Nachbarn zur Rechten herüber, wobei sein Kopf fast den Elmars berührte und dieser heißen, übel­riechenden Atem zu spü­ren bekam. Elmar wunderte sich, dass Jörns in die­ser verrenkten Haltung über­haupt noch das Fahrzeug lenken konnte, „lass’ es dir gesagt sein!“, hämmerte es jetzt unmit­telbar neben Elmars Ohr, mit unschönem Stakkato; „die Natur ist auch unser Schicksal! Sie nimmt keine Rücksicht auf An­stand, auf edle Gesinnung! Und die Moral? Das Gebot der Treue? Die Pflichten? All das zählt bei ihr nicht, alles wirft sie über den Hau­fen! Sie zerstört die gute Ehe, sie zerstört die beste Freundschaft, reißt Fa­milien auseinander! Erst einmal richtig entfesselt, übt sie ihre Herrschaft über den Menschen aus - und wir? Wir hassen sie! Wir stemmen uns ihr entge­gen, als unseren Feind und - sehnen sie zugleich herbei - als unsere wahre Erfüllung!“

      Mit diesen starken Worten sind sie vor dem Bürgermeisteramt von Enkdorf angel­angt. Beide steigen aus. Mechanisch und mit einem eher hingehauch­ten ’Danke schön!’ reicht Elmar seinem Bekannten von früher die Hand, denn er war förmlich erschlagen von dem Wortschwall, mit dem Jörns ihn zu­letzt überrollt hatte. Das Wal­ten der Natur schien es dem Journalisten mäch­tig angetan zu haben.

      Jörns wünschte Elmar noch einen angenehmen Aufenthalt in Enkdorf und in Wald­städten, er sprach die Hoffnung aus, es sei doch wohl nicht das letzte Mal, dass sie sich gesehen hätten. Dann gab er ihm seine Visitenkarte, for­derte ihn auf, morgen oder übermorgen bei ihm hereinzu­schauen, möglichst abends, wenn es ginge; tags­über sei er nicht anzutreffen, da sei er unter­wegs oder in der Redaktion oder weiß der Geier wo! Alle seine Worte rauschten an Elmars Ohr vorbei, so ramm­dösig war er durch Jörns’ gewal­tige Beschwörung der Natur geworden, durch das Pathos seiner Schilderun­gen, welches Ver­hängnis und Tragik schauerlich aufklingen ließen.

      Noch einmal kurz grüßend, stieg Jörns wieder in seinen Wagen und brauste davon, Richtung Waldgirmes, zu der Stelle also, wo die Natur heute Morgen alle ihre Kräfte entfesselt hatte.

      Immer noch benommen schaute sich Elmar im Dorf um. Der ganze Ort sah aus, als hätte er ihn erst ge­stern oder heute früh verlassen, und dort hin­ten, in jenem weißem Haus auf der Anhöhe, wohnten noch sei­ne Eltern. Er är­gerte sich. Das wunderschöne Erlebnis der Fahrt durch den herbstlich-ver­goldeten Mönchswald, dann die hübschen Ausblicke auf sein Heimatdorf, sobald der Wald auflockerte - Jörns hatte ihm alles vereitelt, da er ihn stän­dig mit seinem Geschwätz festnagelte. Auch sein Elternhaus, welches auf der gegenüberliegenden Seite des Tales, in dem das Dorf eingebettet lag, seine glänzend weiße Fassade vorzeigte, hatte er deshalb nur flüchtig wahrgenomm­en. Jetzt blickte er genauer hin: Ja, da oben stand es immer noch, ihr Haus, als ob al­les so wäre wie vor über 20 Jahren und seine Eltern lebten noch da oben und erwar­teten zur Mittagszeit seine Rückkehr von der Schule, und er, Elmar, wäre gerade im Begriff, nach Hause zu kommen.

      Er überlegte, was er in Enkdorf alles unternehmen sollte. Gewiss, einen Gang zu sei­nem Elternhaus hatte er sich fest vorgenommen. Aber sollte er auch ehemalige Nach­barn oder an­dere Bekannte im Dorf aufsuchen? Wenn sie über­haupt noch lebten, nach so vielen Jahren! Am ehesten die gleichalt­rigen Spielgefährten sei­ner Kindheit, aber auch sie mochten das Dorf, dieses abgelegene Nest hinter den Wäldern, schon vor langer Zeit verlassen haben. Außerdem, die Jahrzehnte, die hinter ihnen lagen - hatten sie nicht das Aus­sehen der Menschen verändert, in einem Maße verändert, dass ein Wieder­erkennen erst unter großen Mühen, nach langen Erklärungen zu er­warten wäre? Er dachte in dem Augenblick nicht an Holger Jörns, der ihn ja in Wald­städten auf An­hieb erkannte und das ungeachtet all jener Veränderun­gen, welche die Zelt in seinem Gesicht, an seiner Figur, an seinem ganzen Habitus ganz sicher verur­sacht hatte. Waren es also Lustlosigkeit oder Be­quemlichkeit, dass er auf eine um­ständliche Wiedererkennungsprozedur, wie er sie erwartete, gerne verzichtete? Oder war es die Scheu, alten Be­kannten unter die Augen zu treten, ihnen, die einiges über seinen Werdegang wuss­ten, die vielleicht mehr über ihn wussten, als ihm lieb war, genauso Rechen­schaft ablegen zu müssen wie gegenüber dem Journalisten Jörns, Rechen­schaft vielleicht noch über diese und jene unangenehmen Kapitel seines Le­bensromans oder über die fern der Heimat, in der Fremde geschriebenen Kapitel? Sei es, wie es sei! Elmar beschloss, seine Wege sollten ihn - außer zu dem Forsthaus - nur noch zu ei­nem Waldsee führen, der ihm einst ein besonders lieber Ort war, und zu sonst niemandem mehr.

      So machte er sich also auf den Weg, und es vergingen keine fünf Minuten, bis nach einer Biegung der Dorfstraße das Forsthaus vor ihm auftauchte, und noch einmal dauerte es so lange, und er stand – nach über 20 Jahren – zum ersten Mal wieder vor dem Haus, in dem er seine Kindheit und Jugend verbracht hatte. Eben noch, von fer­ne aus dem Fenster des Wagens hin­überblickend, hatte er sich gewundert, dass die lange Zeit offenbar spurlos an diesem zentralen Ort seiner Heimat vorübergegangen war. Doch jetzt, da er das Haus aus der Nähe betrachtete, bemerkte er doch gewisse Verände­rungen, die ihm den Zeitablauf ins Bewusstsein hoben: Die Ahornbäume hinter dem Haus, in prachtvolles herbstliches Gelb gekleidet, schickten ihre Kronen um ein Vielfaches höher als früher in den Himmel. Auch die Blau­fichte zur Rechten, einst ein kleines Bäumchen, war zu gewaltiger Höhe an­gewachsen, nur das Haus selbst hatte sein Aussehen kaum verändert, ab­gesehen von den kargen Vorhängen an den Fenstern, die auf einen nüchter­nen Geschmack des augenblick­lichen Besitzers hindeuteten.

      Er öffnete das Vorgartentor und begab sich, um das Haus herumgehend, in den hinte­ren Teil des Gartens, wo sich der Wintergarten befand, ein er­kerhaft vorgebauter Sei­tentrakt, einst Ort vie­ler geselliger Kaffeestunden und Dämmerschoppen; der Gar­ten selbst, für ihn als Kind eine bevorzugte Spiel­stätte von gewaltigem Ausmaß, kam ihm jetzt ungeheuer geschrumpft und unansehnlich vor. Auch der Wintergarten, den er früher als ein mächtiges Ge­bäude, fast wie ein Haus neben dem Haus empfunden, erschien ihm jetzt wie ein kleines, verkommenes Anhängsel, denn der Putz seiner Wände war rissig und die braune Farbe blätterte von seiner heruntergelassenen Roll­läden ab. Noch schlimmer der Garten, der ob seines ungepflegten, vergam­melten Aussehens herzzerreißend vor sich hintrauerte. Einige kahl gewor­dene Rhododen­dronsträucher fielen Elmar sofort ins Auge, da sie ihm ihre gelblichen Blät­ter fle­hentlich, kam es ihm beinah vor, ent­gegenstreckten, als wollten sie anklagend auf ihre Elend hinweisen, auf die fehlende Pflege und die falsche Behandlung. Von den Obstbäu­men keine Spur mehr! Außer eini­gen kümmerlichen Bee­ten und den hochge­wachsenen Ahornen sah man nur noch Rasen, gelb­lich-grün verfärbten Rasen, auf dessen Fläche sich mehr das Moos als das Gras ausbreitete. In seiner Mitte reckte ein verkrüppelter Chinawacholder seine ebenfalls kahl gewor­denen Zweige in die Luft. Die hochaufgeschossenen Ahornbäume, die Sommer für Sommer tiefere Schatten verbreiteten, hatten ihm wohl das begehrte Sonnenlicht gestohlen, ihm, dem nach Sonne lechzenden Wacholderstrauch.

      Wohin man blickte, überall Zeichen fehlender Zuwendung und Pflege. Über­flüssig zu erwähnen, dass auf allen Beeten robuster Hahnenfuß, Quecke und Windhalm ge­gen vernachlässigte Erdbeerkulturen erfolgreich anwucherten, erfolgreich nicht nur gegen die Erdbeerpflanzen, sondern auch gegen allerlei Stauden- und Rosengewäch­se.

      Aus einem der hinteren Fenster, dessen Flügel schräg geöffnet standen und das frü­her zu einem der beiden Wohnzimmer seiner Eltern gehörte, vernahm er Schreibma­schinengeklapper. Er ging näher heran, stieg auf einen Mauer­vorsprung an der Haus­wand und blickte durch rauchverschmutzte Gardinen in das Zimmer. Überall an den Wänden - riesige Regale, angefüllt mit langen Reihen von Leitzordnern und dicken Bän­den. Eine Bürokraft saß, ihm den Rücken zukeh­rend, vor einer riesigen Schreib­maschine und hämmerte un­entwegt auf den Tasten herum. Neben ihr, in unregelmä­ßiger Anordnung aufgeschich­tet, ein gewaltiger Stapel von Akten. Die Stenotypistin hielt zu­weilen