Heinz-Jürgen Schönhals

Ulrike D.


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die Enkdorfer Straße ein­mündete, auf der er die beträchtliche Strecke bis zu seinem Heimatdorf Enkdorf wandernd zurücklegen wollte. Er hatte die ganze Zeit nur gesessen, zuerst bei seiner Mutter, dann bei den Kerners und immer wieder in seinem Wagen, und jetzt sollte er schon wieder sitzen, in einem Bus nach Enkdorf? Nein, er brauchte endlich wieder Bewegung! So entschloss ich sich also, die sechs Kilometer nach Enkdorf zu Fuß zu­rückzulegen.

      Als er gerade das Ortsausgangsschild von Waldstädten passierte, fuhr ein Opel Re­kord an ihm vorbei, bremste plötzlich mit quietschendem Geräusch und blieb stehen. Indem Elmar auf den Wagen zuging, wurde dessen Tür geöffnet und ein untersetzt wirkender Mann stieg aus und lächelte ihm entgegen.

      „Ist er’s oder ist er’s nicht?“, rief der Mann aus, „Elmar Redlich! Tatsächlich, er ist es! Guten Tag, Elmar!“

      Aus einem rundlichen Gesicht blickten ihn kleine, fast schlitzartig zugeknif­fene Au­gen an. Während er ein kräftiges Händeschütteln über sich ergehen lassen musste, überlegte er krampfhaft, mit wem er es zu tun hatte.

      „Erinnerst du dich nicht? Jörns mein Name, Holger Jörns, drei Klassen unter dir - ge­meinsames Pfadfinder-Zeltlager in Obermais 19**! - Na, klickt es?“

      Nein, es klickte nicht! Elmar tat aber so, höflicherweise, als käme ihm gerade die Er­leuchtung. Jörns, der seine Verlegenheit nicht bemerkte, gab ihm in Sekundenschnel­le einen Abriss über sein Leben: Elmar erfuhr, Jörns sei Journalist geworden und zur Zeit als Redakteur beim Waldstädter Tagesblatt tätig. Er sei gerade unterwegs nach Waldgirmes, wo sich ein schwerer Lasterunfall mit zwei Schwerverletzten ereignet habe. Das schwere Unwetter heute Morgen, verbunden mit einem Erdrutsch, habe den Unfall verursacht, sagte er. Er beabsichtige, an der Unfallstelle für seine Zeitung nähere Erkundigungen einzuholen, die er für die morgige Ausgabe schnell noch ver­werten wollte.

      Indem Elmar immer noch angestrengt nachdachte, wo er diesen Jörns einordnen soll­te, hörte er ihn plötzlich fragen:

      „Willst wohl ein bisschen Heimatluft schnuppern, was?“

      „Ja, das auch! Bin unterwegs nach Enkdorf, meinem Heimatort,“ erwiderte Elmar.

      „Was, die weite Strecke! Komm, steig’ ein, ich fahr’ dich hin. Enkdorf liegt ja auf meinem Weg. Wir können uns unterwegs ein bisschen unterhalten, über die alten Zeiten!“

      Elmar zögerte. Nein, verlockend war das nicht, was Jörns ihm da vorschlug. Erstens wollte er sich ja ein bisschen bewegen und zweitens ganz gerne alleine seinen Ge­danken und Betrachtungen nachhängen und nicht mit so einem Journalisten plau­schen, den er gar nicht mehr kannte und der ihm womöglich seine schönen Erinne­rungen zerredete und zerquatschte. Doch rücksichtsvoll, wie er nun einmal war, wollte er nicht unhöflich sein. So nahm er das Angebot an, stieg in Jörns’ Wagen, und bald fuhren sie auf der immer noch nassen Fahrbahn in Richtung Enkdorf. Jörns war ein aufgeschlossener und, wie von Elmar erwartet, redseliger Mann, der seine Gedanken geschickt und fließend formulierte. Elmar schätzte ihn auf knapp über 40. Nachdem Jörns ihm noch einiges über seinen Werdegang erzählt hatte, erkundigte er sich nun, wie es seinem Mitfahrer in seinem Leben ergangen sei, und dieser berichtete ihm darüber in knappen Ausführungen.

      „Aha, Lehrer am Gymnasium bist du; Studienrat also; interessant! - Wir haben übri­gens auch Kinder, zwei Töchter, beide gehen noch zur Schule, aufs Gymnasium von Waldstädten, beide!“

      „Aha!“

      Jörns wandte sich jetzt, während er den Wagen in mäßigem Tempo auf der Landstra­ße durch den Mönchswald steuerte, mit einer plötzlichen Wendung den früheren Zei­ten zu, mit einer Entschiedenheit, die Elmar verblüffte. Der Journalist rechtfertigte das so:

      „Also, zwischen uns ist damals ja etwas Gemeinsa­mes entstanden, Elmar, weißt du? Etwas - wie soll ich sagen: etwas Verbindendes. Wir haben diese Zeiten zusammen erlebt - nicht als Freunde, so meine ich das nicht, auch nicht in einer engeren Kame­radschaft; das ging ja gar nicht, wir gehörten ja ver­schiedenen Jahrgängen an. Aber ich möchte doch sa­gen: Wir haben in einer Art lockerer Verbindung diese Zei­ten er­lebt, denn immerhin sind wir uns in der Schule recht häufig begegnet, auch auf der Universität, nicht wahr? Du kannst dich sicher erinnern!? - Einmal auch auf einem Pfadfinderzeltlager - Ja, ja, lang ist’s her - ich glaube...., wenn ich nicht irre - mehr als 20 Jahre! Kann das sein?“

      „Ja, ja, man soll’s nicht für möglich halten“, erwiderte Elmar, „ .....wie die Zeit ver­geht....!“

      Ihm fiel jetzt tatsächlich ein, dass der junge Jörns am äußersten Rande seines jugend­lichen Bekanntenkreises eine gewisse, wenn auch sehr bescheidene Statistenrolle ge­spielt hatte, und so war er doch etwas gespannt, auf welche gemeinsamen, „verbin­denden“ Erlebnisse sein alter Bekannter zu sprechen kommen würde.

      „Also!“

      Jörns räusperte sich und begann mit seinem Rück­blick:

      „Eins habe ich damals nicht ganz begriffen, Elmar; warum ist deine Familie, warum seid ihr so mir nichts, dir nichts von Enkdorf weggezogen? Dein Vater war doch ein Alteingesessener. Auch bei uns in Waldstädten war er sehr bekannt - und hochgeach­tet! Schon wegen seiner er­folgreichen politischen Tätigkeit. War er nicht sogar Ab­geordneter im Kreistag?“

      „Ja, das stimmt, er war Kreistagsabgeordneter“, sagte Elmar, und er legte sich einige passende, unverbindliche Erklärungen zurecht, um Jörns Neugierde zu befriedigen: „Nun, warum wir weggezogen sind, Herr Jörns....?“

      „Holger!“, rief Jörns dazwischen, „sag’ Holger zu mir; wir duzen uns doch, als ehe­malige Waldstädter Gymnasiasten, was?“

      „Also gut: Holger! – Tja, warum sind wir weggezogen, damals...? Dafür gibt es eine ganz einfache Erklärung: Mein Vater ist versetzt wor­den, und da musste ihm die gan­ze Familie wohl folgen. Übri­gens hatte man ihm die Versetzung mit einer Beförde­rung schmackhaft gemacht: Aus dem Oberförster wurde bald ein Forstrat! Die größe­re Verantwortung lockte ihn wohl, denn er fühlte sich körperlich und geistig ausge­zeichnet, so konnte er den Wegzug aus der Heimat, aus seiner Verwurzelung sozusag­en, leicht verschmerzen. Ganz sicher hat er aber nicht nur mit einem lachen­den, sondern auch mit einem weinenden Auge die Heimat verlassen!“

      „Aha, das leuchtet ein, leuchtet vollkommen ein!“, erwiderte Jörns und schaute El­mar mit seinen Schlitzaugen lange ver­stohlen von der Seite an, als wollte er dessen Gesichtsausdruck prüfen, ob dieser vielleicht mehr als die eben glatt formulierten Er­klärungen preisgab, mehr an eigentlichen Beweggründen und innersten Gedanken. „Weißt du, Elmar, ich will ehrlich sein: Ich dachte, es hätte da einen anderen Grund gegeben; aber, na ja, man soll halt nicht denken, nicht wahr? Das heißt, man soll nicht spekulieren; sonst liegt man allemal da­neben!“

      Jörns räusperte sich auffällig und schaute angestrengt auf die nassgeregnete Land­straße, als erwarte er dort ein Hindernis oder ein Schlagloch, dem es auszuweichen gelte. „Anderseits gibt es .Leute“, begann er von neuem, „und das ist gewiss keine Spekulation von mir, denen wird die Heimat einfach zu eng; die Decke fällt ihnen auf den Kopf - du weißt, Tapetenwechsel ist manchmal ein gutes Mittel, um Abstand zu bekommen, Abstand von ...., sagen wir: Konflikten, die..... einen belasten, die ei­nem das ganze Leben in einer bestimmten Umgebung vermiesen. Aus dieser Umge­bung muss man dann einfach raus, und zwar so schnell wie möglich! - Ich möchte dir mal ein Beispiel geben...., pass’ auf!“

      Die Erzählung von der verlassenen Braut

      Jörns zögerte einen Moment, wohl um sich die Gedanken zu­rechtzulegen, dann fuhr er fort:

      “Also, in Waldstädten wohnte einmal eine mir bekannte Familie; ich kannte sie zwar nur flüchtig, aber in unserer Kleinstadt ist man ohnehin mit allen mehr oder weniger flüchtig bekannt. Die Tochter - ihr Name spielt keine Rolle - war verlobt, mit einem An­gestellten der hiesigen Volksbank. Die beiden wollten bald heiraten. Alles war schon für die Hochzeit vorbereitet, die Aussteuer schon - äh - wie sagt man? - bereit­gestellt, der Hochzeitstermin stand fest, der Pfarrer