ausfüllenden Zigarettendunst aufging.
Elmar hatte genug gesehen; er sprang von dem Mauervorsprung herunter und ging in den Vorgarten zurück. Aus seinem Elternhaus war ein Bürogebäude geworden, vielleicht eine Filiale der städtischen Gemeindeverwaltung. Und richtig: Neben der Eingangstür bemerkte er jetzt ein Amtschild, das ihm vorher nicht aufgefallen war. „Wasserwirtschaftsamt Waldstädten - Bezirk Süd“ stand dort zu lesen.
Enttäuscht schloss er das Eingangstor. Sich umdrehend, warf er noch einen letzten Blick auf die ihm so wohlvertraute Fassade des Hauses mitsamt den Fenstern und ihren verschlissenen Gardinen. Hinter ihnen konnte man auch nur nüchterne Büroräume mit Regalen voller Leitzordner vermuten. Dann wandte er sich ab und ging langsam den Weg zurück zur Bushaltestelle. Der verwahrloste Garten, die kalte Büroatmosphäre in dem hinteren Zimmer, dazu die Funktionsmöbel und der ganze Bürokram - wie ernüchternd hatte alles auf ihn gewirkt, wie dämpfend auf seine Einbildungskraft. Unentwegt hatte sie ihm neue Bilder aus der Erinnerung hervorgezaubert, ständig nach neuen Anlässen gesucht, ihm noch schönere, noch phantastischere Eindrücke aus frühester Zeit zu vermitteln - musste ihr nicht jede Lust zur romantischen Rückschau abhanden kommen und auch seine Bereitschaft betäuben, noch einmal auf den Pfaden der Erinnerung zu wandeln? Ihm kam die rüde Entzauberung dieser von ihm bislang verklärten Stätte wie ein symbolischer Akt vor, wie eine einzige Metapher auf die schrittweise Desillusionierung, die er im Laufe seines Lebens über sich ergehen lassen musste: Am Anfang seines Weges, der ihn ins Leben hinausführte, bestand die Welt für ihn nur aus diesem Garten hinter dem Haus. Mit seiner Unmenge an Sträuchern und Blumenrabatten, seinen von Büschen eingefassten, verwinkelten Wegen, seinen Obstbäumen, seinen Bohnenranken und Erbsensträuchern war er für ihn, der dies alles mit den Augen des Kleinkindes betrachtete, das erste Abenteuergelände von ungeheueren Ausmaßen. Er glaubte, dieses Gelände sei die Welt, die es zu entdecken gelte, und sonst gebe es nichts anderes mehr; ein Abenteuerspielplatz, in dem alles um ihn herum schön, geheimnisvoll und beglückend war, als bewegte er sich in den verzauberten Gefilden eines Elysiums: Es blühten im Frühsommer die Rhododendren und die Rosen, die Hyazinthen und der Jasmin ließen ihre betörenden Düfte verströmen, und der Rasen war grün und dicht wie ein weiches Kissen. Seine Katze, die sich ebenfalls in diesem herrlichen Garten Eden nur wohlfühlte, schnurrte behaglich, wenn er sie graulte; er liebte sie wie einen echten Freund, und als sie eines Tages starb, weil sie etwas Giftiges gefressen hatte - seine Mutter meinte, irgendein bösartiger Zeitgenosse habe das Tier vergiftet - weinte er bitterlich, als hätte er wirklich einen echten Freund verloren; erst recht heulte er bei dem „Begräbnis“ seines Lieblings. Sein Großvater, der gerade zu Besuch weilte, ließ den toten Körper der Katze aus dem Karton, in den ihn Elmars Mutter liebevoll auf feines Seidenpapier gebettet, mit einem rüden Stoß in das ausgeschachtete Grab kullern. Elmar konnte da nicht anders, er musste ob dieses Kaltherzigkeit herzzerreißend aufschluchzen.
So also war er damals, als Kind, später auch noch als älterer Knabe: gefühlvoll, empfindsam, gutherzig, weltentrückt. Und heute? Seine Enttäuschung über den heruntergekommenen, verwahrlosten Garten, über die Zerstörung seines einstigen Paradieses ist gewaltig, genauso wie seine Enttäuschung und Ernüchterung gewaltig ist, wenn er als Erwachsener heute in die Welt hinausblickt, wenn er sie so zu verstehen sucht, wie sie in Wahrheit ist. Manchmal ist er geradezu entsetzt über den Kontrast zwischen seiner kindlich-naiven Vorstellung von einst und der Welt, die er viel später in ihrer wahren Gestalt entdeckte, eine Welt, die sich meist hinter Fassaden versteckt, weil man sonst ihre Gemeinheit, ihre Niedertracht nicht ertragen könnte. Jedoch der Drang, diese eigentlich grauenerregende Welt zu vernebeln, zu kaschieren, zu sentimentalisieren ist immer noch stark in ihm lebendig, sodass er dem Wunsch oft nachgibt, das Gemeine zu übertünchen. Dabei suggeriert er sich gleichzeitig gerne, er würde vieles vielleicht falsch sehen, die Welt sei vielleicht nur aus einer bestimmten pessimistischen Perspektive grauenerregend, oder, wie ein Philosoph einmal sagte, die Dinge an sich wären meistens weder gut noch schlecht, sondern erst durch unsere Sichtweise erscheinen sie uns gut oder schlecht. Mit solchen Sprüchen bewahrte er sich dann die letzten Illusionen, er retuschierte an dem hässlichen Bild der Erwachsenenwelt so lange herum, bis er es sich einigermaßen erträglich gemacht hatte. Das war ihm lieber, als sich dieses Bild durch eine durchweg schwarz gefärbte Sichtweise zerfetzen zu lassen, mit der Folge, dass er dann in deprimierendes, krank machendes Grübeln verfallen müsste.
Elmar hielt inne, sein Gedankenstrom brach ab. Warum waren gerade jetzt diese niederschmetternden Vorstellungen wie eine Springflut aus seinem Seelenabgrund hervorgestürzt? Es konnte doch nicht allein am Anblick des heruntergekommenen Gartens liegen, dass er sich zu solch beklemmenden Assoziationen über den düsteren Lauf der Welt hatte hinreißen lassen!? Elmar vermutete, die Erzählungen von Holger Jörns seien daran schuld; sie hatten etwas in ihm ausgelöst, hatten Ereignisse aus seiner Vergangenheit in ihm hochgewirbelt, die er bislang verdrängt hatte. Das rücksichtslose, egoistische Verhalten jenes gefährlichen Mädchens, welches das Glück einer Braut zerstörte, konnte er mit seiner Auffassung von Anstand, Redlichkeit und Ehrenhaftigkeit nicht vereinbaren. Gleichzeitig fielen ihm parallel zu diesem schäbigen Vorgehen des Mädchens noch andere Schlechtigkeiten ein, ausgeführt von Menschen, mit denen er zu tun hatte, jedoch geriet ihm die Erinnerung daran nur vage, im Einzelnen waren ihm diese furchtbaren Erlebnisse entfallen. Nur dass es gewissenlose Individuen gegeben hatte und dass sie auch nach ihm wie mit ausgefahrenen Krallen gelangt hatten, um ihn zu verletzen - daran erinnerte er sich, das heißt: er stellte sich in diesem Augenblick vor, dass es solche dramatischen Begebenheiten gegeben haben muss. Denn er hatte ja in seinem Leben mehrmals die Welt aus der Sicht eines Verlierers betrachten müssen. Diese Sicht aber ist grauenhaft; die Welt verwandelt sich in einen düsteren Ort, und die Menschen legen ihre liebenswürdigen Masken ab; dahinter tritt dann grinsend ihre Bosheit und eine erschreckende Verdorbenheit zutage.
Doch rasch beendete Elmar seine unseligen Grübeleien. Er wollte in die Zeit jener Blicke damals, die sich notgedrungen auf das Hässliche, Fatale gerichtet hatten, nicht mehr zurückkehren. Er wollte jetzt nur noch, auch wegen der ganzen Ernüchterung, die ihn beim Betrachten des Hauses und des ungepflegten Gartens erfasst hatte, mit dem nächsten Bus nach Waldstädten zurückfahren. Außerdem war er entschlossen, seiner Verabredung dort nur kurz nachzukommen und anschließend eilig nach Hause, zu Lisi und seinen Kindern, zu fahren.
Doch ob er diesen eher vagen Entschluss auch in die Tat umsetzen würde, erschien ihm kurz darauf wieder zweifelhaft. Denn er tat etwas, was diesem Entschluss in einer Weise entgegenarbeitete, dass ihm praktisch schon der Boden entzogen war: Elmar blickte zu den bewaldeten Hügeln der Steinfirst hinauf. ‚Ah’, dachte er, ’der Steinfirstsee! Ja, da liegt er, jenseits der Hügelkette, verborgen in einem stillen Fichtenwald - der abergläubisch gefürchtete, von vielen gemiedene und doch von mir einst so geliebte Steinfirstsee!’ - Durfte er ihn dort, in seiner verzauberten Einsamkeit, für immer ruhen lassen, diesen Ort der Sehnsucht und der erregenden Erinnerungen, durfte er morgen einfach lieblos nach Hause fahren, ohne noch einmal hinzufahren, um den See - vielleicht ein letztes Mal in seinem Leben - zu begrüßen und nachzuschauen, ob sich irgend etwas in seinem Umkreis und an seinen Ufern verändert hatte? Könnte er das fertig bringen?
Ja, könnte er - sagte er zu sich - jedenfalls heute! Es wurde schon langsam dunkel, und jetzt noch zum Steinfirstsee zu gehen, der immerhin 4 km von Enkdorf entfernt lag, war unvernünftig. Morgen hatte er ja auch noch Gelegenheit dazu. Heute wollte er nur noch zurück nach Waldstädten, allerdings mit dem Bus, nicht zu Fuß. So ging er also entschlossen zurück zur Bushaltestelle, wo er erst noch einige Zeit warten musste, und als der Bus schließlich eintraf und er bald darauf zurück nach Waldstädten fuhr, überlegte er unterwegs, wie er den nächsten Tag verbringen sollte. Den Plan, sofort nach Hause zurückzufahren, ließ er endgültig fallen. Zunächst wollte er Frau Lambertz anrufen und seine Ankunft nicht für den nächsten, sondern für den übernächsten Tag ankündigen. Am nächsten Tag, morgen also, beabsichtigte er, erneut nach Enkdorf zu fahren, denn die Aussicht, noch einmal den Steinfirstsee aufzusuchen, hatte in ihm ein geradezu unbezwingbares Verlangen ausgelöst, nicht nur den See, sondern auch das Wochenendhaus wiederzusehen, das