Heinz-Jürgen Schönhals

Ulrike D.


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ausfüllenden Ziga­retten­dunst auf­ging.

      Elmar hatte genug gesehen; er sprang von dem Mauervorsprung herunter und ging in den Vorgarten zurück. Aus seinem Elternhaus war ein Büroge­bäude geworden, viel­leicht eine Filiale der städtischen Gemeindeverwaltung. Und richtig: Neben der Ein­gangstür bemerkte er jetzt ein Amtschild, das ihm vor­her nicht aufgefallen war. „Wasserwirtschafts­amt Waldstädten - Bezirk Süd“ stand dort zu lesen.

      Enttäuscht schloss er das Eingangstor. Sich umdrehend, warf er noch einen letzten Blick auf die ihm so wohlvertraute Fassade des Hauses mitsamt den Fenstern und ih­ren verschlissenen Gardinen. Hinter ihnen konnte man auch nur nüchterne Büroräu­me mit Regalen voller Leitzordner vermuten. Dann wandte er sich ab und ging lang­sam den Weg zurück zur Bushaltestelle. Der verwahrloste Garten, die kalte Büroat­mosphäre in dem hinteren Zimmer, dazu die Funk­tionsmöbel und der ganze Büro­kram - wie ernüch­ternd hatte alles auf ihn gewirkt, wie dämpfend auf seine Einbil­dungskraft. Unentwegt hatte sie ihm neue Bilder aus der Erinnerung hervorgezau­bert, ständig nach neuen Anläs­sen gesucht, ihm noch schönere, noch phantasti­schere Eindrü­cke aus frühester Zeit zu vermitteln - musste ihr nicht jede Lust zur romanti­schen Rückschau abhanden kommen und auch seine Bereitschaft betäuben, noch ein­mal auf den Pfaden der Erinnerung zu wandeln? Ihm kam die rüde Entzauberung dieser von ihm bislang verklärten Stätte wie ein symbolischer Akt vor, wie eine ein­zige Metapher auf die schrittweise Desillusionierung, die er im Laufe seines Lebens über sich ergehen lassen musste: Am Anfang seines Weges, der ihn ins Leben hinausf­ührte, bestand die Welt für ihn nur aus diesem Garten hinter dem Haus. Mit seiner Unmenge an Sträuchern und Blumenrabatten, seinen von Bü­schen eingefass­ten, verwinkelten Wegen, seinen Obstbäumen, seinen Boh­nenranken und Erbsen­sträuchern war er für ihn, der dies alles mit den Augen des Kleinkindes betrachtete, das erste Abenteuergelände von un­geheueren Ausmaßen. Er glaubte, dieses Gelände sei die Welt, die es zu entdecken gelte, und sonst gebe es nichts an­deres mehr; ein Abenteuerspielplatz, in dem alles um ihn herum schön, geheimnis­voll und be­glückend war, als be­wegte er sich in den verzauberten Gefilden eines Elysiums: Es blühten im Frühsommer die Rhododendren und die Ro­sen, die Hyazinthen und der Jasmin ließen ihre betörenden Düfte verströ­men, und der Rasen war grün und dicht wie ein weiches Kissen. Seine Katze, die sich ebenfalls in diesem herrlichen Garten Eden nur wohlfühlte, schnurrte behaglich, wenn er sie graulte; er liebte sie wie einen echten Freund, und als sie eines Tages starb, weil sie etwas Giftiges gefressen hatte - seine Mutter meinte, irgendein bösartiger Zeitgenosse habe das Tier vergiftet - weinte er bitterlich, als hätte er wirk­lich einen echten Freund verlo­ren; erst recht heulte er bei dem „Begräbnis“ seines Lieblings. Sein Großva­ter, der gerade zu Besuch weilte, ließ den toten Körper der Katze aus dem Karton, in den ihn Elmars Mutter liebevoll auf feines Seidenpapier gebettet, mit einem rüden Stoß in das ausgeschachtete Grab kullern. Elmar konnte da nicht anders, er musste ob dieses Kalther­zigkeit herzzerreißend aufschluch­zen.

      So also war er damals, als Kind, später auch noch als älterer Knabe: gefühl­voll, emp­findsam, gutherzig, weltentrückt. Und heute? Seine Enttäuschung über den herunter­gekommenen, verwahrlosten Garten, über die Zerstörung seines einstigen Paradieses ist gewaltig, genauso wie seine Enttäuschung und Ernüchterung gewaltig ist, wenn er als Erwachsener heute in die Welt hinausblickt, wenn er sie so zu verstehen sucht, wie sie in Wahrheit ist. Manchmal ist er geradezu entsetzt über den Kontrast zwi­schen seiner kind­lich-naiven Vorstellung von einst und der Welt, die er viel später in ihrer wah­ren Gestalt entdeckte, eine Welt, die sich meist hinter Fassaden versteckt, weil man sonst ihre Gemeinheit, ihre Niedertracht nicht ertragen könnte. Jedoch der Drang, diese eigentlich grauenerregende Welt zu vernebeln, zu kaschieren, zu senti­mentalisieren ist immer noch stark in ihm lebendig, so­dass er dem Wunsch oft nach­gibt, das Gemeine zu übertünchen. Dabei sug­geriert er sich gleichzeitig gerne, er würde vieles vielleicht falsch sehen, die Welt sei vielleicht nur aus einer bestimmten pessimistischen Perspektive grauenerregend, oder, wie ein Philosoph einmal sagte, die Dinge an sich wären meistens weder gut noch schlecht, sondern erst durch unsere Sicht­weise erscheinen sie uns gut oder schlecht. Mit solchen Sprüchen bewahrte er sich dann die letzten Illusionen, er retuschierte an dem hässlichen Bild der Erwach­senenwelt so lange herum, bis er es sich einigermaßen erträglich gemacht hatte. Das war ihm lieber, als sich dieses Bild durch eine durchweg schwarz gefärbte Sichtwei­se zerfetzen zu lassen, mit der Folge, dass er dann in deprimierendes, krank machen­des Grübeln verfallen müsste.

      Elmar hielt inne, sein Gedankenstrom brach ab. Warum waren gerade jetzt diese nie­derschmetternden Vorstellungen wie eine Springflut aus seinem Seelenabgrund hervorgestürzt? Es konnte doch nicht allein am An­blick des heruntergekommenen Gartens liegen, dass er sich zu solch be­klemmenden Assoziationen über den düsteren Lauf der Welt hatte hinreißen lassen!? Elmar vermutete, die Erzählungen von Holger Jörns seien daran schuld; sie hatten etwas in ihm ausgelöst, hatten Ereignisse aus sei­ner Vergangenheit in ihm hochgewirbelt, die er bislang verdrängt hatte. Das rück­sichtslose, egoistische Verhalten jenes gefährlichen Mädchens, welches das Glück ei­ner Braut zerstörte, konnte er mit seiner Auffassung von Anstand, Redlichkeit und Ehrenhaftigkeit nicht vereinbaren. Gleichzeitig fielen ihm pa­rallel zu diesem schäbi­gen Vorgehen des Mädchens noch andere Schlech­tigkeiten ein, ausgeführt von Men­schen, mit denen er zu tun hatte, jedoch geriet ihm die Erinnerung daran nur vage, im Einzelnen waren ihm diese furchtbaren Erlebnisse entfallen. Nur dass es gewissenlo­se Individuen gege­ben hatte und dass sie auch nach ihm wie mit ausgefahrenen Kral­len gelangt hatten, um ihn zu verletzen - daran erinnerte er sich, das heißt: er stellte sich in diesem Augenblick vor, dass es solche dramatischen Begebenheiten ge­geben haben muss. Denn er hatte ja in seinem Leben mehrmals die Welt aus der Sicht eines Verlierers betrachten müssen. Diese Sicht aber ist grauenhaft; die Welt verwandelt sich in einen düsteren Ort, und die Menschen legen ihre liebenswürdigen Masken ab; dahinter tritt dann grinsend ihre Bosheit und eine erschreckende Verdorbenheit zuta­ge.

      Doch rasch beendete Elmar seine unseligen Grübeleien. Er wollte in die Zeit jener Blicke damals, die sich notgedrungen auf das Hässliche, Fatale ge­richtet hatten, nicht mehr zurückkehren. Er wollte jetzt nur noch, auch we­gen der ganzen Ernüchterung, die ihn beim Betrachten des Hauses und des ungepflegten Gartens erfasst hatte, mit dem nächsten Bus nach Waldstädten zurückfahren. Außerdem war er entschlossen, seiner Verab­redung dort nur kurz nachzukommen und anschließend eilig nach Hause, zu Lisi und seinen Kindern, zu fahren.

      Doch ob er diesen eher vagen Ent­schluss auch in die Tat umsetzen würde, erschien ihm kurz darauf wieder zweifelhaft. Denn er tat etwas, was diesem Entschluss in ei­ner Weise entgegenarbeitete, dass ihm praktisch schon der Boden entzogen war: El­mar blickte zu den bewaldeten Hügeln der Steinfirst hinauf. ‚Ah’, dachte er, ’der Steinfirstsee! Ja, da liegt er, jenseits der Hügel­kette, verborgen in einem stillen Fich­tenwald - der abergläubisch gefürchtete, von vielen gemiedene und doch von mir einst so geliebte Stein­firstsee!’ - Durfte er ihn dort, in seiner verzauberten Einsamk­eit, für immer ruhen las­sen, diesen Ort der Sehnsucht und der er­regenden Erin­nerungen, durfte er morgen einfach lieblos nach Hause fahren, ohne noch einmal hinzufahren, um den See - vielleicht ein letztes Mal in seinem Leben - zu begrüßen und nachzuschauen, ob sich irgend etwas in seinem Umkreis und an seinen Ufern verändert hatte? Könnte er das fertig bringen?

      Ja, könnte er - sagte er zu sich - jedenfalls heute! Es wurde schon langsam dunkel, und jetzt noch zum Steinfirstsee zu gehen, der immerhin 4 km von Enkdorf entfernt lag, war unvernünftig. Morgen hatte er ja auch noch Gele­genheit dazu. Heute wollte er nur noch zurück nach Waldstädten, allerdings mit dem Bus, nicht zu Fuß. So ging er also entschlossen zurück zur Bushal­testelle, wo er erst noch einige Zeit warten musste, und als der Bus schließ­lich eintraf und er bald darauf zurück nach Waldstäd­ten fuhr, überlegte er unterwegs, wie er den nächsten Tag verbringen sollte. Den Plan, sofort nach Hause zurückzufahren, ließ er endgültig fallen. Zunächst wollte er Frau Lam­bertz anrufen und seine Ankunft nicht für den nächsten, sondern für den übernächsten Tag ankündigen. Am nächsten Tag, morgen also, beabsich­tigte er, er­neut nach Enkdorf zu fahren, denn die Aussicht, noch einmal den Steinfirstsee aufzu­suchen, hatte in ihm ein geradezu unbezwingbares Ver­langen ausgelöst, nicht nur den See, sondern auch das Wochenendhaus wiederzusehen, das