wollte er gar nicht mitkommen. Die Ehe zwischen den beiden......., na ja, Klara hat dir ja sicher davon erzählt, nicht?“
„Nein!“, erwiderte er, und seine Erregung steigerte sich.
„So! Na, dann können wir ja morgen darüber....., ich meine, falls Julia noch nicht da ist..... - Ja, ja, Elmar, du kannst dir’ s ja denken, wenn man so viele Kinder hat, dann vervielfachen sich auch die Sorgen.... Na ja, wir können morgen weiter darüber sprechen, nicht!“
„Gut!“, sagte Elmar und konnte jetzt ein freudig-erregtes Gefühl kaum noch unterdrücken, „dann also bis morgen Nachmittag, Frau Lambertz, sagen wir so gegen halb vier?“
„Ja, eine gute Zeit! Ich erwarte dich also und vielleicht wartet auch schon Julia auf dich, ja?“
„Tschüss, Frau Lambertz!“
„Tschüss, Elmar!“
Er legte auf - und schaute sinnend vor sich hin. Seine Hand fuhr mechanisch an seine Stirn, rieb an ihr eine Weile, dann fuhr er mit ihr in seine Haare und wühlte dort einige Zeit herum. Er war drauf und dran, die Fassung zu verlieren, so hatte ihn die Ankündigung von Frau Lambertz erschüttert. Sollten sich seine heimlichen Mutmaßungen nun doch nicht als Hirngespinste herausstellen, wovon er gestern noch überzeugt war, sollte es also doch eine neue Heimat für ihn geben, und alle vernünftigen Einwände gegen dieses Wunschdenken, wie er es gestern noch nannte, sich als Geschwätz, als Makulatur herausstellen? Er wollte es nicht glauben, noch nicht, aber es schien aller Voraussicht nach genau auf das hinauszulaufen, was er insgeheim und uneingestanden erhofft hatte, wovor er allerdings nicht wenig Angst verspürte, weil sich ja in seinem Leben womöglich eine Umwälzung anbahnte, die einigen Menschen, vor allem denen, die ihm nahe standen, wenig Freude bereitete, genauer gesagt: die ihnen Schrecken und Angst einjagen musste.
Elmar erhob sich mit einem Ruck. Ob alles wirklich so dramatisch ablaufen würde, wie er es sich gerade vorstellte, dessen war er sich noch gar nicht sicher. Bis jetzt konnte er bei all diesen Erwartungen nur auf Andeutungen verweisen. So beschloss er, diese Kapitel, welche noch der unentdeckten, noch nicht ins Leben getretenen Zukunft angehörten, nicht weiter zu erörtern. Zunächst galt es ja, den Plan auszuführen, den er sich für den heutigen Tag zurechtgelegt, und der hieß nicht Besuch ehemaliger Freunde, wie er Frau Lambertz, nicht ganz bei der Wahrheit bleibend, versicherte, sondern einzig und allen hieß das heute: Wanderung zum Steinfirstsee. Damit er keine Zeit verlor, wollte er dieses Mal nicht nach Enkdorf laufen, sondern mit dem Bus hinfahren und anschließend den Weg zu dem vier Kilometer entfernten See zu Fuß zurücklegen.
Nachdem er die für die Wanderung nötige Wanderkluft angezogen hatte, verließ er das Hotel und begab sich zum Bahnhof. Der Bus nach Enkdorf – Waldgirmes stand dort bereits, er brauchte nur eine Fahrkarte zu lösen, schon fuhr der Bus los, fuhr zunächst durch die Innenstadt von Waldstädten, um kurz danach in die ihm so vertraute Straße nach Enkdorf einzubiegen. Nicht lange dauerte es, und der Mönchswald, jener breite, zwischen Waldstädten und Enkdorf gelegene Waldrücken ließ sein Ausläufer, die er am Horizont über eine Anhöhe schob, in prachtvollem herbstlichem Gold aufscheinen. Da Elmar jetzt auf seiner zweiten Fahrt nach Enkdorf genauer auf diese Einzelheiten achtete, kam es ihm vor, als winkten ihm die ersten Boten seiner Heimat einen freundlichen Willkommensgruß entgegen. Er wusste, hinter dieser Anhöhe folgte eine steile Talfahrt mitten ins Herz des Mönchswaldes hinein. Die Straße, dicht umsäumt von mächtigen Buchen und Eichen, hoch überwölbt vom Blätterdach ihrer Kronen, glich einem Tunnel, der selbst bei strahlender Sonne seine beklemmende Düsternis nicht verlor. Nur im Winter, wenn kahle Äste das Tageslicht ungehindert durchließen, erhellte sich vorübergehend die Miene des Waldes.
Am Ende der Talfahrt würde dann wie gehabt der Wald zur linken Seite auflockern und den Blick auf jene ausgedehnte Talmulde freigeben, in der Elmars Heimatdorf lag. Jetzt also, nicht mehr abgelenkt durch das Palavern eines aufdringlichen Begleiters, konnte er auf alle diese Besonderheiten, die ihm am Herzen lagen, genauer achten, auf das weißangestrichene Haus seiner Eltern zum Beispiel, welches auf der gegenüberliegenden Seite des Tales sofort ins Auge fiel, daneben ein anderes umfangreiches Waldgebiet, die schon genannte Steinfirst. Ungefähr in der Mitte ragte das weiße Haus aus einem Kranz hochgewachsener Ahorne hervor, und blickte kraft seiner herausgehobenen Lage über die tiefer liegenden Häuser von Enkdorf hinweg.
Als nun der Bus die Stelle passierte, wo der Mönchswald sich zur Linken öffnete, lag das Dorf vor ihm, ausgebreitet zwischen den beiden Waldzügen, und er musste auch jetzt feststellen, nichts hatte sich aus der Ferne besehen geändert, alles sah so aus wie früher, als er noch zur Schule ging. Da kam es ihm wieder wie schon gestern vor, als wohnten seine Eltern immer noch in dem Haus da oben, und sie erwarteten zur Mittagszeit seine Rückkehr von der Schule, und er wäre gerade im Begriff, nach Hause zu kommen.
Doch sein Ziel war diesmal nicht sein Elternhaus; das interessierte ihn nicht mehr. Was hatte er noch mit einem Haus zu tun, welches man in eine städtische Behörde mit Büros unten wie oben verwandelt hatte. Nein, nur noch dem Steinfirstsee galt sein Interesse, nur ihn wollte er heute noch einmal aufsuchen, ein letztes Mal, so wie er es sich gestern vorgenommen. An die noch in der Zukunft schlummernden Ereignissen, die ihm gestern unaufhörlich durch den Kopf gingen, wollte er dieses Mal keinen Gedanken mehr verschwenden.
Der Runenweiher
„Steinfirstsee“ – der Name ließ sich nicht so gut aussprechen; besser schon geht einem das Wort ‚Runenweiher’ über die Lippen; so heißt der See nämlich im Volksmund. Richtiger müsste er ‚Rundhofweiher’ heißen, denn angeblich stand vor undenklich langer Zeit an seiner Stelle - so berichtet es eine alte Sage - eine kleine Stadt mit Namen Rundhof. Auch ‚Rundhofweiher’ war nicht gut auszusprechen, und so hatte man daraus bald einen ‚Runenweiher’ gemacht; vielleicht auch deshalb, weil so viele Sagen über den Steinfirstsee und die geheimnisvolle Stadt „geraunt“ wurden, uralte Sagen voller dunkler Begebenheiten. Viele Male - erinnerte sich Elmar - wurden sie ihnen als Kinder dargeboten, sei es von seiner Großmutter oder von ihrem Dorfschullehrer, die beide spannend erzählen konnten, und ihre Kinderherzen gerieten dann immer in furchtbare Aufregung.
Eine dieser Sagen, die Elmar niemals vergessen wird, weil sie ihm damals einen gewaltigen Schrecken eingejagt, handelte von den reichen Leuten von Rundhof, ihrem frevelhaften Ehrgeiz, ihrem Hochmut, ihrem lasterhaften Leben. Selbstsucht, Hartherzigkeit und protzende Angeberei hätten sie mit zügellosem, die niedrigsten Sinne aufreizenden Genussleben verbunden. Keine Ausschweifung, keine Verdorbenheit sei ihnen fremd gewesen, sprach Elmars Großmutter einst mit schauerlich verfremdeter Stimme; keine Schlechtigkeit bis hin zum Verbrechen, zum Mord blieb bei ihnen ausgespart, und als das Maß ihrer Sünden endlich voll war, als selbst der Himmel, an viele Schandtaten der Menschheit durch die Jahrtausende hindurch gewöhnt, nicht mehr gleichmütig zuschauen konnte, schickte er seine Strafengel herab, die ein furchtbares Strafgericht über die Rundhofer abhielten, in Gestalt eines gewaltigen Erdbebens, durch das die Stadt Rundhof samt ihren Einwohnern auf immer ausgetilgt wurde. Alle ihre Häuser stürzten in einen gigantischen Krater, der sich während des Bebens öffnete, und verschwanden in seiner unermesslichen Tiefe, ohne eine Spur zu hinterlassen. Mit Schaudern dachte Elmar noch daran, wie seine Großmutter das Aufbrechen des Kraters mit einem fürchterlichen Gähnen verglich, zu welchem die Erde angesetzt; ungeheuer weit habe sie ihren Schlund aufsperrt und ihn anschließend nicht mehr zubekommen, weil ein Krampf in der Muskulatur des Schlundes zu einer Art ewiger Maulsperre führte, und aus dem Abgrund des Riesenloches sei allmählich, durch Sickerwasser und Zuflüsse kleiner Bäche Jahrhunderte lang gespeist, der klare Spiegel eines Sees emporgestiegen und hätte das Kraterbecken bald vollständig ausgefüllt. So also sei der Runenweiher entstanden. Staunend hatte Elmar als kleiner Junge damals dieser unheimlichen Schilderung gelauscht, und immer, wenn er als Kind an den einsamen Ufern des Sees entlangging und sich vorstellte, unter seiner regungslosen, grauen Fläche, tief unten auf zerklüftetem Grunde, lägen die Trümmer der untergegangenen Stadt samt den Überresten ihrer bösen