Heinz-Jürgen Schönhals

Ulrike D.


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dann über dem Wasser ihr Unwesen und kämen auch hin und wieder durch die Lüfte herangesaust, um das eine oder andere Menschen­kind, weil es sich zu sehr dem Bösen geöffnet, zu quälen und zu piesacken. Ja, wenn es gar zu verstockt sei, wenn es kein Bitten um Verzeihen oder sonst ein liebes Wort mehr über die Lippen bringe, packten sie es und - hui!! - schleppten es mit sich durch die Lüfte und tauchten - platsch! - mitsamt dem verstockten, unverbesserlichen Kind hinab in das Reich der bösen Geister, wo es dann auf Nimmerwiedersehen verschwindet!

      Es war schon ’starker Tobak’, was seine Großmutter ihnen da hin und wieder an den Kopf warf, an schrecklichen Warnungen und beängstigenden Dro­hungen! Und war eine solche Erzählstunde erst einmal richtig in Gang ge­kommen, so konnte die alte Frau, angespornt durch weit aufgerissene Kin­deraugen, die nach immer neuen, noch unglaublicheren Geschichten ver­langten, ihren Erzähldrang und ihre Phantasie nicht mehr zügeln; dabei scheute sie auch nicht davor zurück, verschiedene Sagenkreise, die über­haupt nichts miteinander zu tun hatten, zu vermischen. So reicherte sie eines Tages die finsteren mittelalterlichen Gestalten der Rundhofsage mit den be­kannten Helden aus der Antike an, ließ Julius Caesar bis zur Steinfirstge­gend vorpreschen und den angeblich auch im antiken Rom hochberühmten Rundhofweiher nicht nur besichtigen, sondern auch schwimmend durchque­ren. Die Varusschlacht verlagerte Großmutter in den Steinfirstwald, unweit vom Runenweiher, und sie behauptete in entschiedenem Ton, Varus habe sich in seiner Verzweiflung nicht ins Schwert, son­dern mitsamt seinen Prä­fekten und Tribunen in den See gestürzt, die Konsequenzen aus seiner Nie­derlage ziehend, die ihm nicht nur Arminius, sondern auch die Rache­götter des Himmels ob seines Hochmuts und seiner Bosheit bereitet hätten. Schließ­lich ließ die Großmutter noch einen dritten antiken Helden sich auf die Wanderschaft zum Runenweiher begeben: Orpheus, den begnadeten Sänger, der um Eurydike trau­erte und nach der Verblichenen lechzte. Ihm sei angeblich zu Ohren gekommen, nicht der Berg Tainaros, sondern der Runenweiher sei einer der wenigen Eingangs­pforten zur Unterwelt, einer der wichtigsten und bequemsten. Also machte sich Or­pheus von Thrakien aus auf den Weg und begab sich, von Sehnsucht nach seiner im Schattenreich weilenden Eurydike getrieben, auf eine lange Wanderschaft, bis er schließ­lich hierher, zum Runeweiher, kam, begleitet von Hermes, dem Götterbo­ten, und er sei in den See hinabgetaucht und dadurch zur Geisterwelt vorgedrun­gen.

      Diesmal allerdings, bei Orpheus, hatte sich Elmars Großmutter mit ihren phantas­tisch kombinierten Sagengeschichten verrechnet, das heißt, sie hatte nicht damit ge­rechnet, dass die Knaben, welche eine Erzählrunde um sie bildeten, in der Schule schon im ersten Schuljahr von Orpheus und der Nymphe Eurydike gehört hatten, und zwar aus den Erzählungen ihrer Lehre­rin, die gleichfalls fesselnd Geschichten zum besten geben konnte und eine eben­so reiche, aber doch mehr an den Tatsachen orien­tierte Phantasie be­saß.

      „Großmutter“, rief Elmar als Knabe aufgeregt und schaute sie mit ernsten, skepti­schen Blicken an; „das ist gar nicht möglich, dass Orpheus hier war. Der Runenwei­her ist doch erst im Mittelalter entstanden! Orpheus aber lebte viel früher, er war im Mittelalter schon lange tot.“

      Die Großmutter stutzte und schaute einige Sekunden verblüfft drein. Ihr Ge­sicht, oh­nehin schon vom Erzählen der schrecklichen Rundhofgeschichte ernst und grimmig verzogen, wurde noch um einige Grade grimmi­ger, was wohl von der steilen Senk­rechtfalte herrührte, die wie hingezaubert auf ihrer Stirn lag und diese in zwei Ab­schnitte unterteilte. Der Knabe Elmar wusste, das war immer ein Zeichen, dass sie angestrengt nachdachte. Einige Se­kunden saß sie so da und schien nachzugrübeln. Dann plötzlich verschwand die steile Falte, die Stirn wurde wieder einheitlich und das bitter ernste Ge­sicht heiterte sich auf.

      „Du hast recht, Elmar“, sagte sie mit fester, keine Spur von Unsicherheit ver­ratender Stimme, „der Runenweiher kann ja gar nicht im Mittelalter entstan­den sein, wenn Orpheus hier war. Aber, habe ich euch das nicht erzählt? Der See stammt doch aus der Atlantiszeit. Rundhof war eine Siedlung der At­lanter, die viele Jahrhunderte vor den Griechen bis hierhin zur Stein­first vor­gedrungen waren!“

      Ja, das schien plausibel und logisch, zumindest war der är­gerliche Wider­spruch be­seitigt, dass der wandernde antike Sänger einen im Mittelalter ent­standenen See als Einlasspforte zur Unterwelt benutzt hätte.

      „Der Runenweiher also war ein in Griechenland bekann­ter Einstieg in die Schatten­welt“, behauptete die Großmutter weiter, ohne dass ein unsicheres Tremolo ihre Stimme verfremdete; „Orpheus musste erst mit einem Boot den Unterweltfluss Styx entlang fahren; der mündete direkt im Runenweiher. Dann also - riet ihm Charon, der Fährmann des Styx, der ihn ruderte - müsse er sich an einer bestimmten Stelle, die er ihm zeigen werde, die Nase zuhalten und rückwärts in den See fallen lassen. Kei­ne drei, vier Meter unter der Oberfläche sehe er dann das Eingangstor zur Unterwelt. Das könne er gar nicht verfehlen, denn es schimmere ihm mit vielen flackernden, rötlichen Lichtern entgegen. Er brauche dann nur noch das Tor zu öffnen, schon sei er im Trockenen, könnte dann auch wieder atmen.“ - Dass wegen des Wasser­druckes das Tor gar nicht geöffnet werden konnte, verschwieg die Groß­mutter, und Klein-El­mar und seine Mitschüler waren in ihren physikalischen Kenntnissen halt noch nicht so weit fortgeschritten, dass sie auch hier sofort Protest hätten einlegen können. Und immer weiter sollte Orpheus dann - fuhr die Oma mit ihrer Erzählung fort - einen Gang hinuntergehen, so habe man ihm gesagt, bis er im Reich der unseligen und der seligen Geister an­gekommen sei. Und das habe Orpheus auch getan. Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, habe er sich vom Boot des Charon ins Wasser plumpsen lassen, vier Meter unter der Wasseroberfläche dann das rot leuchtende Tor zu Unter­welt geöffnet und sei von dort hinabgestiegen.

      Da Elmar damals den Rest der Orpheusgeschichte schon kannte, stellte er keine wei­teren Fragen mehr. Die dreiste Lügengeschichte der Großmutter durchschaute er als Knabe zunächst noch nicht; seine Gedanken waren al­lein auf diese unerhörte Ver­lagerung der Orpheussage in die Gegend um den Runenweiher gerichtet, und allein das hatte ihn in helle Aufregung ver­setzt. -

      Einsam war es zumeist an den Ufern des Steinfirstsees; man konnte früher dort stun­denlang verweilen, ohne eine Menschenseele zu Gesicht zu be­kommen. Das hing nicht zuletzt mit der Aura des Mystischen zusammen, welche den See, vor allem ein angrenzendes, hügelartig ansteigendes Waldstück, genannt der Topenbühl, umgab. Dieser hieß im Volksmund auch ’Totenbühl’, weil es dort nachts angeblich spuken soll. So war es nicht ver­wunderlich, dass diese Orte als unheim­lich und dämonisch verschrieen wa­ren und von Wanderern und Ausflüglern gerne gemieden wurden.

      Elmar dagegen hatte als Heranwachsender jedem Aberglauben abgeschwo­ren, auch eingedenk der phantastischen Erzählungen seiner Großmutter, die er schließlich als Knabe doch bald durchschaute. Fortan kümmerten ihn die zahlreichen Schauerges­chichten nicht weiter, welche um den Runeweiher und den „Totenbühl“ gesponnen wurden. Er hielt sie allesamt für Hirnge­spinste. Der See verlor für ihn nicht nur die Aura des Schreckens, er avan­cierte sogar zu einem bevorzugten Ziel sei­ner Wande­rungen und Radaus­flüge, ja es gab schließlich keinen Ort, den er zusammen mit sei­nen Freun­den lieber aufgesucht hätte, um entweder mit ihnen auf die silbrige Was­serfläche hinauszuschwimmen oder - alleine in einem Ruderboot treibend - mitten im einsam ruhenden und wie verzaubert daliegenden See vor sich hinzuträu­men.

      Auch sein Vater hielt nichts von dem abergläu­bischen Geraune, welches man immer wieder in den Dörfern diesseits und jenseits des Stein­firstsees vernehmen konnte. Alle diese Schauer­märchen hielten ihn nicht davon ab, ein klei­nes, direkt am Seeufer gelegenes Grundstück vom Gemeindefiskus zu pachten in der Absicht, dort, in der Stille des Runenwaldes, ein Blockhaus mit kleinem Garten zu errichten. Es sollte sei­ner Familie als Wochenendhaus dienen, damit sie an langen, heißer Sommerwochen­enden sich erholen und einen kurzer Badeurlaub bequemer genießen könnte. Dieses Häuschen wurde denn auch innerhalb kur­zer Zeit errichtet, und zwar im Selbstbau­verfahren - nur das Fundament mit einem Kriech­keller für Gartengeräte ließ El­mars Vater von einem professionellen Maurer aus Backsteinen anlegen.

      Im übrigen übernahm er selbst die Aufgaben des planenden Architekten, während die übrige Familie, allen voran Elmar und sein Freund Joachim Schaller, bei der Ausfüh­rung fleißig mit Hand anlegten, ja beide Jungen wa­ren oft die einzigen, die sich auf der Baustelle abrackerten, derweil Elmars