dann über dem Wasser ihr Unwesen und kämen auch hin und wieder durch die Lüfte herangesaust, um das eine oder andere Menschenkind, weil es sich zu sehr dem Bösen geöffnet, zu quälen und zu piesacken. Ja, wenn es gar zu verstockt sei, wenn es kein Bitten um Verzeihen oder sonst ein liebes Wort mehr über die Lippen bringe, packten sie es und - hui!! - schleppten es mit sich durch die Lüfte und tauchten - platsch! - mitsamt dem verstockten, unverbesserlichen Kind hinab in das Reich der bösen Geister, wo es dann auf Nimmerwiedersehen verschwindet!
Es war schon ’starker Tobak’, was seine Großmutter ihnen da hin und wieder an den Kopf warf, an schrecklichen Warnungen und beängstigenden Drohungen! Und war eine solche Erzählstunde erst einmal richtig in Gang gekommen, so konnte die alte Frau, angespornt durch weit aufgerissene Kinderaugen, die nach immer neuen, noch unglaublicheren Geschichten verlangten, ihren Erzähldrang und ihre Phantasie nicht mehr zügeln; dabei scheute sie auch nicht davor zurück, verschiedene Sagenkreise, die überhaupt nichts miteinander zu tun hatten, zu vermischen. So reicherte sie eines Tages die finsteren mittelalterlichen Gestalten der Rundhofsage mit den bekannten Helden aus der Antike an, ließ Julius Caesar bis zur Steinfirstgegend vorpreschen und den angeblich auch im antiken Rom hochberühmten Rundhofweiher nicht nur besichtigen, sondern auch schwimmend durchqueren. Die Varusschlacht verlagerte Großmutter in den Steinfirstwald, unweit vom Runenweiher, und sie behauptete in entschiedenem Ton, Varus habe sich in seiner Verzweiflung nicht ins Schwert, sondern mitsamt seinen Präfekten und Tribunen in den See gestürzt, die Konsequenzen aus seiner Niederlage ziehend, die ihm nicht nur Arminius, sondern auch die Rachegötter des Himmels ob seines Hochmuts und seiner Bosheit bereitet hätten. Schließlich ließ die Großmutter noch einen dritten antiken Helden sich auf die Wanderschaft zum Runenweiher begeben: Orpheus, den begnadeten Sänger, der um Eurydike trauerte und nach der Verblichenen lechzte. Ihm sei angeblich zu Ohren gekommen, nicht der Berg Tainaros, sondern der Runenweiher sei einer der wenigen Eingangspforten zur Unterwelt, einer der wichtigsten und bequemsten. Also machte sich Orpheus von Thrakien aus auf den Weg und begab sich, von Sehnsucht nach seiner im Schattenreich weilenden Eurydike getrieben, auf eine lange Wanderschaft, bis er schließlich hierher, zum Runeweiher, kam, begleitet von Hermes, dem Götterboten, und er sei in den See hinabgetaucht und dadurch zur Geisterwelt vorgedrungen.
Diesmal allerdings, bei Orpheus, hatte sich Elmars Großmutter mit ihren phantastisch kombinierten Sagengeschichten verrechnet, das heißt, sie hatte nicht damit gerechnet, dass die Knaben, welche eine Erzählrunde um sie bildeten, in der Schule schon im ersten Schuljahr von Orpheus und der Nymphe Eurydike gehört hatten, und zwar aus den Erzählungen ihrer Lehrerin, die gleichfalls fesselnd Geschichten zum besten geben konnte und eine ebenso reiche, aber doch mehr an den Tatsachen orientierte Phantasie besaß.
„Großmutter“, rief Elmar als Knabe aufgeregt und schaute sie mit ernsten, skeptischen Blicken an; „das ist gar nicht möglich, dass Orpheus hier war. Der Runenweiher ist doch erst im Mittelalter entstanden! Orpheus aber lebte viel früher, er war im Mittelalter schon lange tot.“
Die Großmutter stutzte und schaute einige Sekunden verblüfft drein. Ihr Gesicht, ohnehin schon vom Erzählen der schrecklichen Rundhofgeschichte ernst und grimmig verzogen, wurde noch um einige Grade grimmiger, was wohl von der steilen Senkrechtfalte herrührte, die wie hingezaubert auf ihrer Stirn lag und diese in zwei Abschnitte unterteilte. Der Knabe Elmar wusste, das war immer ein Zeichen, dass sie angestrengt nachdachte. Einige Sekunden saß sie so da und schien nachzugrübeln. Dann plötzlich verschwand die steile Falte, die Stirn wurde wieder einheitlich und das bitter ernste Gesicht heiterte sich auf.
„Du hast recht, Elmar“, sagte sie mit fester, keine Spur von Unsicherheit verratender Stimme, „der Runenweiher kann ja gar nicht im Mittelalter entstanden sein, wenn Orpheus hier war. Aber, habe ich euch das nicht erzählt? Der See stammt doch aus der Atlantiszeit. Rundhof war eine Siedlung der Atlanter, die viele Jahrhunderte vor den Griechen bis hierhin zur Steinfirst vorgedrungen waren!“
Ja, das schien plausibel und logisch, zumindest war der ärgerliche Widerspruch beseitigt, dass der wandernde antike Sänger einen im Mittelalter entstandenen See als Einlasspforte zur Unterwelt benutzt hätte.
„Der Runenweiher also war ein in Griechenland bekannter Einstieg in die Schattenwelt“, behauptete die Großmutter weiter, ohne dass ein unsicheres Tremolo ihre Stimme verfremdete; „Orpheus musste erst mit einem Boot den Unterweltfluss Styx entlang fahren; der mündete direkt im Runenweiher. Dann also - riet ihm Charon, der Fährmann des Styx, der ihn ruderte - müsse er sich an einer bestimmten Stelle, die er ihm zeigen werde, die Nase zuhalten und rückwärts in den See fallen lassen. Keine drei, vier Meter unter der Oberfläche sehe er dann das Eingangstor zur Unterwelt. Das könne er gar nicht verfehlen, denn es schimmere ihm mit vielen flackernden, rötlichen Lichtern entgegen. Er brauche dann nur noch das Tor zu öffnen, schon sei er im Trockenen, könnte dann auch wieder atmen.“ - Dass wegen des Wasserdruckes das Tor gar nicht geöffnet werden konnte, verschwieg die Großmutter, und Klein-Elmar und seine Mitschüler waren in ihren physikalischen Kenntnissen halt noch nicht so weit fortgeschritten, dass sie auch hier sofort Protest hätten einlegen können. Und immer weiter sollte Orpheus dann - fuhr die Oma mit ihrer Erzählung fort - einen Gang hinuntergehen, so habe man ihm gesagt, bis er im Reich der unseligen und der seligen Geister angekommen sei. Und das habe Orpheus auch getan. Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, habe er sich vom Boot des Charon ins Wasser plumpsen lassen, vier Meter unter der Wasseroberfläche dann das rot leuchtende Tor zu Unterwelt geöffnet und sei von dort hinabgestiegen.
Da Elmar damals den Rest der Orpheusgeschichte schon kannte, stellte er keine weiteren Fragen mehr. Die dreiste Lügengeschichte der Großmutter durchschaute er als Knabe zunächst noch nicht; seine Gedanken waren allein auf diese unerhörte Verlagerung der Orpheussage in die Gegend um den Runenweiher gerichtet, und allein das hatte ihn in helle Aufregung versetzt. -
Einsam war es zumeist an den Ufern des Steinfirstsees; man konnte früher dort stundenlang verweilen, ohne eine Menschenseele zu Gesicht zu bekommen. Das hing nicht zuletzt mit der Aura des Mystischen zusammen, welche den See, vor allem ein angrenzendes, hügelartig ansteigendes Waldstück, genannt der Topenbühl, umgab. Dieser hieß im Volksmund auch ’Totenbühl’, weil es dort nachts angeblich spuken soll. So war es nicht verwunderlich, dass diese Orte als unheimlich und dämonisch verschrieen waren und von Wanderern und Ausflüglern gerne gemieden wurden.
Elmar dagegen hatte als Heranwachsender jedem Aberglauben abgeschworen, auch eingedenk der phantastischen Erzählungen seiner Großmutter, die er schließlich als Knabe doch bald durchschaute. Fortan kümmerten ihn die zahlreichen Schauergeschichten nicht weiter, welche um den Runeweiher und den „Totenbühl“ gesponnen wurden. Er hielt sie allesamt für Hirngespinste. Der See verlor für ihn nicht nur die Aura des Schreckens, er avancierte sogar zu einem bevorzugten Ziel seiner Wanderungen und Radausflüge, ja es gab schließlich keinen Ort, den er zusammen mit seinen Freunden lieber aufgesucht hätte, um entweder mit ihnen auf die silbrige Wasserfläche hinauszuschwimmen oder - alleine in einem Ruderboot treibend - mitten im einsam ruhenden und wie verzaubert daliegenden See vor sich hinzuträumen.
Auch sein Vater hielt nichts von dem abergläubischen Geraune, welches man immer wieder in den Dörfern diesseits und jenseits des Steinfirstsees vernehmen konnte. Alle diese Schauermärchen hielten ihn nicht davon ab, ein kleines, direkt am Seeufer gelegenes Grundstück vom Gemeindefiskus zu pachten in der Absicht, dort, in der Stille des Runenwaldes, ein Blockhaus mit kleinem Garten zu errichten. Es sollte seiner Familie als Wochenendhaus dienen, damit sie an langen, heißer Sommerwochenenden sich erholen und einen kurzer Badeurlaub bequemer genießen könnte. Dieses Häuschen wurde denn auch innerhalb kurzer Zeit errichtet, und zwar im Selbstbauverfahren - nur das Fundament mit einem Kriechkeller für Gartengeräte ließ Elmars Vater von einem professionellen Maurer aus Backsteinen anlegen.
Im übrigen übernahm er selbst die Aufgaben des planenden Architekten, während die übrige Familie, allen voran Elmar und sein Freund Joachim Schaller, bei der Ausführung fleißig mit Hand anlegten, ja beide Jungen waren oft die einzigen, die sich auf der Baustelle abrackerten, derweil Elmars