Heinz-Jürgen Schönhals

Ulrike D.


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er in den Wald hinein, und hinten verliert er sich im Ungewissen, Dunklen! Ja, er ist es, ich bin ihn so oft mit meinen Eltern gegangen.’

      Es war keine erbauliche Geschichte, die sich da in seine Gedanken drängte, zuerst in flüchtiger Gestalt, mit wenigen schemenhaften Erinnerungsfetzen, doch nicht lange dauerte es, bis die Bruchstücke sich mehr und mehr zu wahren Schreckensbildern formten, und er war außerstande, sich der Gewalt dieser unentwegt aus seinem See­lenabgrund emporschießenden düsteren Erinnerungen zu entziehen. Einst nämlich - so erzählten ihm diese Bilder - war er in sein Elternhaus zurückgekehrt, nicht ge­schmückt mit dem Lorbeer irgendeines gelungenen Abschlusses, auch nicht gestählt durch einen anderen Erfolg, auf den er stolz hätte verweisen können; nein, er konnte auf nichts verweisen, er war buchstäblich mit leeren Händen zurückgekehrt, er war beruflich gescheitert! Ohne fremde Hilfe konnte er damals nicht existieren, und also blieb er lange bei seinen Eltern wohnen, die ihn wie in früheren Zeiten umsorgten und ernährten. Zu allem Unglück hatte noch eine gefährliche Viruskrankheit alle sei­ne Kräfte gelähmt.

      ‘Himmel noch mal’, dachte er, ‘was für Zeiten waren das! Wären seine Eltern nicht gewesen, er wäre jämmerlich zugrunde gegangen, in jenen dunklen Verliesen, die das Schicksal für manchen Zeitgenossen bereithält.’

      Nachdenklich schaute er den Weg entlang. Er führte zunächst durch ein Stück Hoch­wald, um bald darauf im schwarzen Nadelgehölz eines Fichten­waldes zu verschwin­den. Da es schon lange aufgehört hatte zu regnen, stieg er aus und schloss den Wa­gen ab. Dann, nach einigem Zögern, indessen er sich weiter jene fernliegende, un­glückliche Lebensphase vergegenwärtigte, gab er sich einen Ruck und bog in den Weg ein, der auf den genannten Fichtenwald zulief. Die Vergangenheit hielt ihn jetzt fest im Griff, und er konnte sich diesem nicht entziehen; ja, das Merkwürdige war: er wollte das gar nicht. Als ob er auf seine Vergangenheit süchtig geworden wäre, hielt er seinen Blick, beinah wie ein Voyeur, unverwandt auf all das Unangenehme, Kata­strophale gerichtet, das ihn einst heimgesucht. Und Julia Lambertz hatte dabei eine wichtige Rolle gespielt, eine verhängnisvolle Rolle! Doch er war redlich genug, nie­mand anderem als sich selbst die Schuld an sei­nem Unglück zu geben, ein Unglück, das sich bald verschärfte, dass sich wie ein scheußlicher, triefäugiger Begleiter an ihn kettete, als hätte dieser Ge­selle eine maßlose Zuneigung zu ihm entwickelt und er wäre außerstande gewesen, dieses hässliche, pockennarbige und krankmachende In­dividuum abzuschütteln. Als Unbill und Verhängnis bei ihm nicht aufhören wollten, glaubte er sich schon von wütenden Erinnyen verfolgt; dann wieder verglich er seine heillose Lage mit einem Labyrinth, in das man ihn zur Strafe hineingestoßen. Aber zur Strafe weswegen? Und wer hätte die Strafe befohlen? Das Schicksal? Gott? - El­mar hatte sich schon Hunderte Male über diese Fragen das Hirn zermartert. Doch an irgendeine gemeine, niederträchtige Tat, die er je begangen haben könnte und die vielleicht die rächende Nemesis auf den Plan gerufen, erinnerte er sich nicht. Jeden­falls fühlte er sich damals wie in einem Labyrinth gefangen: Monate­lang, wenn nicht Jahre kam es ihm vor, als stolperte er auf endlosen Wegen umher oder er irrte in ver­schachtelten Gängen von Tür zu Tür, ohne eine offen zu finden, offen für einen Weg zurück in die Freiheit, zurück in ein halbwegs normales, bürgerliches Dasein. Hinzu kam die rätsel­hafte Erkrankung: Ein unbekanntes Virus sei schuld an den wiederkeh­renden Fieberschüben, sagten ihm die Ärzte, schuld auch an der nur schwer zu behe­benden körperlichen Schwäche. Auch Gedächtnis- und Konzentrations­störungen suchten ihn heim, verbunden mit Reizbarkeit und Grübelzwang!

      Erst nach langer Zeit wendeten sich die Ereignisse wieder zu seinem Vorteil, und sein Leiden fand allmählich ein Ende: Ein Arzt entdeckte gegen alle Erwartung ein Medikament, welches seiner Krankheit endlich Einhalt gebot; die Fiebersymptome verschwanden, die Reizbarkeit und die körperliche Schwäche ließen nach, die alten Kräfte kehrten zurück. So konnte er endlich doch noch einen Ausweg aus diesem un­heimlichen Labyrinth finden, in dem er sich die ganze Zeit wähnte, buchstäblich in letzter Sekunde kroch er aus den Gewölben seiner Erniedrigung heraus und kehrte in ein freies, respektables Leben zurück. -

      Elmar schaute auf die Uhr. Er musste seinen fatalen Überlegungen Einhalt gebieten, denn er hatte noch viel vor in Waldstädten. Vor allem wollte er Frau Lambertz und Julia, falls sie schon eingetroffen war, nicht zu lange warten lassen. So schob er die unaufhörlich auf ihn einstürzenden Erinnerungen beiseite, warf sie einfach weg, wie man ein zu schwer gewordenes Gepäckstück wegwirft, und kehrte eiligen Schrittes zu seinem Wagen zurück. Rasch ließ er den Motor an und fuhr bald darauf auf der Landstraße weiter, Richtung Waldstädten.

      Nicht lange dauerte es, und er war in Waldstädten angekommen. Da er nun seit lan­ger Zeit wieder einmal in seiner alten Heimatstadt weilte, überlegte er, ob dieser Auf­enthalt nur dazu dienen sollte, einer Bekannten, die ihm eigentlich herzlich fremd ge­worden, einen Besuch abzustatten. Gewiss, seine einstige Verlobte sollte auch zuge­gen sein, und nicht zuletzt diese Aussicht, Julia wiederzusehen, hatte den Ausschlag gegeben, dass er sich zu diesem Abstecher nach Waldstädten heute früh entschloss. Aber Julia wäre ja morgen auch noch da und übermorgen ebenso. Die erneute Be­gegnung mit ihr könnte er also verschieben, ja, der Gedanke eines Aufschubs war ihm ganz recht, er könnte sich dann auf dieses Zusammentreffen, das ihn bereits seit seinem Aufenthalt bei den Kerners in eine lange nicht gekannte Erregung versetzte, etwas besser einstimmen. Die Zwischenzeit könnte er dazu nutzen, Waldstädten und Umgebung neu zu entdecken und natürlich auch alte Orte seligen Angedenkens auf­zusuchen, an denen er früher oft verweilte und mit denen er viele gute, leider oft auch unschöne Erinnerungen verband. Da er ohnehin schon auf zahlreichen Wegen der jüngeren und auch der ferneren Vergangenheit gewandelt war, sträubte er sich gar nicht mehr gegen dieses Verlangen, in die früheren Zeiten zurückzublicken, ja, er war fast schon, wie auch zuvor in dem Waldstück nahe Waldstädten, auf seine Ver­gangenheit süchtig geworden. Dieses Suchtempfinden war sogar noch stärker, noch über­wältigender geworden als vor einer halben Stunde. Erinnerungen voller Weh­mut zogen ihm auf einmal in bunten Bildern durch die Seele, bemächtigten sich ihrer mit betörender Zaubergewalt und brachten alle seine Ent­schlüsse des Vortages, unter kei­nen Umständen in die Vergangenheit zurückzutauchen, zum Einsturz. Von der Faszi­nation ständig neu aufsteigender Erinnerungen überwältigt, war er jetzt fest ent­schlossen, länger in Waldstädten zu bleiben, nicht nur einen Tag, sondern zwei, viel­leicht sogar drei Tage länger, und die Gelegenheit wollte er dazu nutzen, sein Eltern­haus und seine nähere, ihm einst so teure Umgebung noch einmal zu besuchen, ein letztes Mal und dann nie wieder! Oder sollte es vielleicht doch noch mehrere, am Ende sogar viele, viele Male geschehen, dass er solche erinnerungsseligen Streifzüge in die Vergangenheit unternehmen könnte; dann nämlich, wenn Waldstädten und auch seine Umgebung für ihn zur neuen alten Heimat avancierte? Doch solche Vorstellungen entsprangen zunächst nur seinen irrationalen Wünschen - rief er sich zur Ordnung - , man könnte das auch törichte Spekulation nennen – oder noch besser: Hirngespinste! Als ob Julia zu so etwas.....; doch er wollte diesen Wahnsinnsgedanken nicht zu Ende

      denken. Es war einfach...., und er sagte das jetzt laut zu sich: „Es ist alles zu albern, was ich mir da zurechtphantasiere!“ – So sprach er, im entschiedenen Ton. Vielleicht aber, überlegte er weiter, seinen ursprünglichen Plan endgültig über den Haufen wer­fend, vielleicht könnte er dem einen oder anderen Be­kannten aus alter Zeit einen Be­such abstatten, vorausgesetzt, sie lebten noch in Waldstädten oder in seinem Heimat­dorf, sie seien zurückgeblieben dort in dem Nest hinter den Wäldern, seien von An­fang an sesshaft geworden, heimatverbunden, verwurzelt mit ihrer Scholle, von der sie nicht lassen konnten oder nicht lassen wollten.

      Da der Herbstregen, der ihn auf der Fahrt vorübergehend begleitete, schon lange auf­gehört, die dunklen Wolken sich längst verzogen hatten und die Sonne immer öfter durch die nun aufgelockerten Wolken hindurchschaute, zuerst schüchtern, verstoh­len, dann immer ungenierter, schließlich ihr volles strah­lendes Antlitz vorzeigend und ein freundliches Licht über die Lande ausgießend, beschloss er, sein Vorhaben sofort in die Tat umzusetzen. Er fuhr zu dem Hotel Krone, das ihm von früher her ein heimatlicher Begriff war, buchte dort ein Zimmer für zunächst eine Nacht. Dabei blickte er neugierig in das Gesicht der Hotelangestellten, ob es ihm bekannt vorkam und das Mädchen vielleicht, einen Alteingesessenen wiedererkennend, freudig rea­gierte. Jedoch stand da eine fremde Person vor ihm, die ihn nur geschäftsmä­ßig-freundlich