Heinz-Jürgen Schönhals

Ulrike D.


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gesetzt zu haben. Eine Zeit­lang hatte noch die Eifersucht an seiner Seele genagt, denn der Zauber, den Ju­lia auf ihn ausübte, verlor nur langsam an Kraft. Zu oft war er ihr noch in Waldstädten be­gegnet, dabei versuchte er sie immer zu ignorieren, gleichwohl entging ihm nicht, wie ihn ihr ernster, verführerischer Blick traf, und er, immer noch berührt vom Blitz­strahl ihrer Augen und von der Schönheit und liebli­chen Anmut ihrer Gestalt, über­legte manchmal, ob er nicht versuchen sollte, ihre Liebe zurückzugewinnen. Doch aus Gründen, die ihm heute entfallen sind, war das wohl nicht möglich. Da er bald darauf Waldstädten endgültig Lebe wohl sagte, konnte er sich langsam aus dem noch nachwirkenden Bann seiner zerbrochenen Liebe befreien.

      „Julia wird übrigens auch in Waldstädten sein“, sagte Klara nun doch den Satz, den er auf einmal insgeheim fürchtete, „sie möchte sich ein paar schöne Tage bei ihrer Mutter machen.“

      Das also hatte Klaus am Telefon gemeint; er hatte ihn also doch falsch verstanden; Julia besucht ihre Mutter, nicht ihre Schwester!

      „Sie kommt doch sicher mit ihrem Mann?“, fragte er und ärgerte sich über das leich­te Vibrieren seiner Stimme.

      „Nein, sie kommt alleine. Ihr Mann hat keinen Urlaub bekommen!“

      Nach einem Moment des Schweigens griff Klara nach einem Kuvert, das auf dem Tisch lag, und zog eine Fotographie heraus. Indem sie gleichzeitig das Foto einige Momente betrachtete, reichte sie es ihm. Dabei musterte sie ihn mit einem Blick, als wollte sie sagen: das wird dich garantiert brennend interessieren!

      „Hier, ein Bild von Julia“, hörte er sie mit merkwürdig hohem Ton in der Stimme sprechen, „gerade erst aufgenommen, ich glaube, vor zwei Wo­chen. Da kannst du mal sehen, wie sie heute aussieht.“

      Er betrachtete das Bild, eingehend. Zu seiner Überraschung oder richtiger müsste er sagen: zu seiner Bestürzung lächelte ihm auf dem Foto eine Julia entgegen, so wie er sie früher kannte, die Jahre schienen an ihr beinah spurlos vorübergegangen. Sofort wieder empfand er Sehnsucht nach ihr, es überkam ihn das unbedingte Verlangen, von diesen schillernden Augen leib­haftig angeblickt zu werden und von diesem wahnsinnig sinnlichen Mund noch einmal geküsst zu werden. Wenn es denn also passierte - sprach er zu sich - vielleicht schon in der nächsten halben bis dreiviertel Stunde, dass er Julia erneut verfiel...... Verfiel? Abrupt hielt er inne; denn er war ent­setzt über die­ses Wort; entsetzt auch über sich selbst, über seine, wie ihm beinah schien: frevelhaften Überlegungen; entsetzt auch darüber, dass er, solche Eventualit­äten in seinen Gedanken formulierend, das bisher Undenkbare überhaupt erst ins Le­ben rief. Was hätte das alles für Konsequenzen? Für Lisi, für seine Kinder, für Julias Mann? Oder war Julias Ehe sowieso schon gescheitert, genau wie vielleicht auch sei­ne Ehe vor dem Aus stand, und also könnte er sich doch ruhigen Gewissens in eine neue Heimat flüchten, in ein neues Zu­hause, das er bei Lisi nicht mehr vorfand? Kam seine einstige Verlobte nach Waldstädten, um ihm erneut die Hand zu reichen, ihn erneut „heimzuführen“, in eine neue Geborgenheit?

      Energisch versuchte er diesen Gedanken beiseite zu schieben, obwohl er ihn anderer­seits auch wieder für nicht völlig abwegig hielt. Warum sollte ihm Klara den Besuch ihrer Schwester in Waldstädten ankündigen und gleichzei­tig ausdrücklich darauf ver­weisen, Julia käme ohne ihren Mann, gerade zu der Zeit, wo auch er, ihr Ex-Verlob­ter, nach Waldstädten reiste? Klara hatte gestern Abend bei Julia angerufen, verriet sie ihm jetzt! Lag also nicht offenkundig die Absicht vor, Julia und ihn wiederzusam­menzubringen?

      Doch im selben Moment fiel ihm ein, er war als junger Mann ja gar nicht glücklich gewesen mit Julia, ja er hatte eines Tages sogar genug von ihr gehabt, er war - jeden­falls vorübergehend - geradezu von dem Wunsch beseelt, sich von ihr zu trennen. Auch meinte er, er wäre noch aus manch anderen Gründen dieser eventuell auf ihn zukommenden Veränderung in seinem Leben nicht gewachsen: Könnte er es zum Beispiel fertig bringen, seiner Ehe, die vielleicht noch nicht völlig am Ende war, den Todesstoß zu versetzen? -

      Rückkehr in die alte Heimat

      Elmar machte sich also auf den Weg nach Waldstädten. Kaum hatte er die letzten Häuser des Dorfes hinter sich gelassen und die Auffahrt zur Autobahn genommen, als es heftig zu regnen anfing. Herbstlich kühle Schauer stürzten pausenlos vom Himmel, nicht enden wollende Wolkenbrüche peitschten heran und trommelten von links, rechts, von oben und von vorne an die Scheiben seines Wagens. Der Wald, die hügelige Landschaft, die er eben noch deutlich sehen konnte, waren hinter einer ge­waltigen Regenwand verschwunden. Sturmböen trieben den Regen vor sich her, wir­belten die Tropfen immer wieder gegen die Fenster, wo sie prasselnde und knisternde Geräusche verursachten. Blitze jagten in grotesk gezackten Linien über den Himmel und schleuderten ihr fahles Licht über die Lande, und als der Wald, bislang nur als dunkle, unförmige Masse sichtbar, im bengalischen Licht der Blitze kurz aufschien, krachte es auch schon, beängstigend lange mit einem Getöse, als splittere im nahen Wald ein Baumriese auseinander. Fasziniert betrachtete er das Naturschauspiel. Gleichzeitig wunderte er sich, war doch ein Gewitter zu dieser Jahreszeit, im Okto­ber, nicht gerade üblich. Obwohl die Regengüsse die Sicht erschwerten und er nur mit gedrosseltem Tempo fahren und konzentriert auf den Verkehr achten musste, eil­ten seine Gedanken öfter zu den Ereignissen voraus, die in Waldstädten vermut­lich auf ihn zukamen. Vor allem stellte er sich die Situation vor, wie er wohl von Frau Lambertz empfangen und in ihr Haus geführt werde. Das große Wohnzimmer der Lambertz, eigentlich eine größere und kleinere Zimmerhälfte, stieg mit all sei­nem Inventar in seiner Erinnerung auf. Wie oft hatte er dort auf dem langen Famili­ensofa gesessen, verabredet mit Julia, die er abholen wollte, um sie Gott weiß wohin auszuführen, wie viele Feste hatte er mit ihr und ihren zahlreichen Geschwistern in diesen Räumen gefeiert! Über zwanzig Jahre waren das nun her. Im Geiste schon wandelte er durch die beiden Zimmer, warf Blicke auf den massiven Bücherschrank mit all den unbenutzten Klassikerreihen, oder er inspizierte die Gemälde in der klei­neren Zimmerhälfte. Zeitlebens war ihm eines in Erinnerung geblieben, welches das Werk eines Großonkels von Julia war, eines ehemaligen Rektors der Realschule von Waldstädten. „Der Geist des Bettelweibes“, lautete sein Titel oder so ähnlich. Gemalt war eine unheimliche Szene aus einer Novelle von Heinrich von Kleist, die der Rek­tor vermutlich sehr geschätzt hatte. Ein Ritter mit blutrotem Umhang steht in der Mitte einer Kemenate, schlägt mit seinem Degen wild in die Luft, als kämpfe er ge­gen einen unsichtbaren Feind. Seine Augen starren voller Entsetzen auf eine Stelle des Zimmers. Neben ihm weicht sein Hund mit gefletschten Zähnen vor irgend et­was zurück, vermutlich vor dem unsichtbaren, aber hörbaren Geist des Bettelweibes. Der Ritter sollte der Marchese der Kleist - Novelle sein. Er hatte das Bettelweib einst in barschem Ton hinter den Ofen verwiesen, wo das Weib zusammenbrach und verstarb. Später erschien es ihm als Gespenst, das heißt, er hörte stets nur ihre schlur­fenden Schritte; immer wieder schlurfte es nachts in dem Zimmer und an dem Ofen, wo das arme Weib jämmerlich zugrunde gegangen war. Der Marchese aber, wahnsin­nig geworden, zündete sein Schloss an und kam in den Flammen elendig um. Was für eine rätselhafte, absonderliche Verstrickung!, dachte Elmar immer, wenn er das Bild betrachtete oder die Novelle von Kleist las; er kannte sie von seinen Deutsch­stunden her. Irgendeine Schuld des Marchese am Tod des Bettelweibes war nicht er­sichtlich, ja man konnte noch nicht einmal annehmen, er hätte sich später, als das Gespenst auftauchte, an den Vorfall überhaupt erinnert; trotzdem erscheint das Ge­spenst, als wäre es sein personifiziertes schlechtes Gewissen, als wäre es von der Göttin Nemesis geschickt, um ihn für eine schlimme Tat büßen zu lassen.

      Noch an andere düstere Gemälde in diesem Zimmer glaubte sich Elmar zu entsinnen, und er wundert sich noch heute, warum Julias Vater an solchen wenig anheimelnden Schicksalsbildern Gefallen fand. Denn nicht nur das „Bettelweib“ erzählte von ei­nem furchtbaren Geschick, auch die anderen kündeten - soweit er sich erinnerte - von Verhängnis und Unglück. Sollte das Unheilvolle, Chaotische dieser Bilder an die ewige Drohung der Himmelsmächte gemahnen, oder hatte Herr Lambertz aus die­sem Kontrast zu seinen wohlgeordneten Verhältnissen ein überhöhtes Selbstbewusst­sein geschöpft?

      Elmar hatte inzwischen die Autobahn verlassen und war Waldstädten schon recht nahe gekommen. Auf einem Schild las er: „Waldstädten, 15 Kilometer“. In den nächsten Minuten durchfuhr er ein größeres