Klaus’ Ehefrau Klara und die anderen Kerners, die kleinen Zwillingssöhne Alfred und Andreas sowie die 14-jährige Tochter Kirsten begrüßt hatte, bezog er zunächst das Gästezimmer im Kernerschen Haus und richtete sich für eine Nacht häuslich ein.
Ob auch Julia schon da war? Irgendeinen Wagen mit dem Autokennzeichen von Weiden / Niederbayern konnte er vor dem Haus seines Cousins nicht entdecken! Na, vielleicht kommt sie noch!?
Sie alle setzten sich schließlich an den schon zubereiteten Kaffeetisch, aßen Kuchen und tranken Kaffee, sprachen über Alltägliches und Aktuelles, über Elmars lange Autobahnfahrt, über das Wetter und die Verwandten und Freunde, was man sich so alles erzählt, wenn man nach langer Zeit wieder einmal Gelegenheit bekommt, miteinander zu plaudern, und so zogen sich ihre Unterhaltungen den ganzen Nachmittag hin.
Allerdings, seine Ex-Verlobte ließ sich immer noch nicht blicken. Vielleicht hatte er seinen Cousin am Telefon doch falsch verstanden!?
Ihre Unterhaltungen gingen sogar am Abend munter weiter, nur unterbrochen durch das Abendessen, das Klara, eine sehr geübte Köchin, mit besonderer Raffinesse und liebevoll ausgewählten Zutaten für ihn, den seltenen Besuch, zubereitet hatte.
Trotz des kleinen Wehrmutstropfens, dass die Hausklingel der Kerners immer noch nicht die Ankunft Julias meldete, fühlte sich Elmar bei Klara und Klaus wohl. Ja, als sie später im Wohnzimmer, plaudernd und Gebäck knabbernd, zusammensaßen, geriet er sogar in eine ungewohnt fröhliche Stimmung. Er hatte auf dem Sofa der Kerners Platz genommen, neben ihm knisterte ein lustiges Kaminfeuer, Klara servierte einen feinen Bordeaux, und zwei, drei Gläser von dem edlen Wein fegten alle bedrückenden, schwermütigen Gedanken aus seiner Seele. So musste das passieren, was er an sich gerne vermied, weil er den bitteren Geschmack der Ernüchterung am nächsten Tag schon mehrmals gekostet: Er blickte zurück, er erinnerte sich, zusammen mit seinen Gastgebern, den Weggefährten früherer Zeiten. Zwar taten sie es in heiterster Stimmung, und alle Abenteuer ihrer Jugend ließen sie in phantastischen Erzählungen aufleben, doch dieses wehmütige Schwelgen in alten Zeiten - Elmar kam sich dabei immer vor wie einer, der in einem Wald voller Trugbilder herumalbert, oder wie jemand, der ein Haus bewundert, nur weil es mit hübsch gemalter Vorderfront glänzt, die dürftige Rückseite aber nicht zur Kenntnis nimmt, die Seite mit der schmutzigen, abblätternden Fassade, den vor Dreck starrenden Innenhof oder den unansehnlichen, verwilderten Garten. Obwohl er von dem Schmutz wusste, blendete er bei diesem Herumalbern das Hässliche einfach aus, vor allem das Bedrohliche, und er gab sich dann dem falschen Gefühl hin, das Leben sei in der Jugend unbeschwert und heiter gewesen, als hätte es um ihn herum damals einen schützenden Wall gegeben, von dem alle gefährlichen Sturzwellen des Lebens wie an einer ehernen, unbezwingbaren Mauer abprallten. Dieses trügerische Empfinden!, dachte er hinterher immer, wie oft hatte es ihn schon überwältigt, wie oft hatte es alle seine klaren, beherrschten Gedanken zum Schweigen gebracht und die Vergangenheit, in der er zusammen mit seinen Freunden heiter herumspazierte, mit rosigem Nebel gefüllt, wie leicht vergaß er, dass seine erinnerungsseligen Gedanken eigentlich durch leere, öde Räume fuhren, wo nur Erinnerungsmüll herumlag oder bleiche Gestalten schemenhaft geistern, Gestalten, die früher quicklebendig seinen Weg kreuzten, heute aber nur noch als Schreckgespenster hin und wieder sein Denken behelligen. Und erst die gefahrvollen und zugleich verlockenden Abwege, welche ihn damals faszinierten und zugleich ängstigten. Dann die bezaubernden Figuren, die verführerische Blicke nach ihm warfen; einige aber, die gefährlichen, langten nach seiner Seele wie Raubtiere, die ihre Krallen ausfahren, um sie ins Fleisch eines Beutetiers zu schlagen. Alles schien in diesen Augenblicken der seligen Erinnerung wie weggefegt oder sonst wie auf wundersame Weise getilgt, alles Widrige, Schicksalhafte! Natürlich, der Zauberer Alkohol gab ihm das ein: er ließ das Schwere, das ihm früher oft wie ein Mühlstein auf der Seele lag, leicht und flockig werden und wischte es mit eleganter Gebärde weg, als wäre es Schaum.
Am nächsten Tag sollte es mit der Illusion allerdings rasch vorbei sein: Klara bat ihn, einen Abstecher zu ihrer alten Mutter zu machen, die in Waldstädten am See wohnte.
„Meine Mutter war vor ein paar Tagen hier zu Besuch“, sagte sie, „und hat ihren Haustürschlüssel vergessen. Könntest du ihn ihr nicht vorbeibringen, Elmar? Waldstädten liegt doch auf deinem Weg!“
Der Name Waldstädten weckte in ihm keine angenehmen Erinnerungen.
„Meine Mutter wird sich über deinen Besuch sehr freuen!“
Klara bemerkte sein Zögern, doch da der Schlüssel offenbar so schnell wie möglich nach Waldstädten befördert werden sollte, streckte sie ihn Elmar, dem Zögernden, mit beinah flehender Gebärde entgegen.
„Immerhin hat sie dich seit 25 Jahren nicht mehr gesehen. Erst neulich sprach sie von dir.....“
Elmar konnte dem Bettelblick Klaras nicht widerstehen. Da er zudem nicht nur in ihren graublauen Augen, auch in den dunkelblonden, schulterlangen Haaren und dem hübsch geformten, vollen Mund die Ähnlichkeit mit der Schwester wahrnahm, sagte er, ohne weiter zu überlegen:
„Klar erfülle ich den Wunsch deiner Mutter!“
Auch wollte er nicht unhöflich sein; immerhin hatte er so einen netten, erinnerungsseligen Abend mit Klara und Klaus verbracht, und er war auch auf das Angenehmste verköstigt worden. Allerdings ein Abstecher nach Waldstädten, seiner alten Heimat.... - Elmar machte sich keine Illusionen, was das für ihn bedeutete: unweigerlich eine zweite Rückkehr in die Vergangenheit; diesmal nicht mehr auf malerischen Pfaden, hin zu den anmutigen Gefilden, wo er gestern Abend noch mit Klaus und Klara so gerne verweilte; diesmal musste er sich auf Ernüchterung gefasst machen und auf Desillusionierung. Denn er sah sich gezwungen, dieser anderen Vergangenheit gegenübertreten, dieser hässlichen, brutalen, und er musste dann unverhüllte, illusionsfreie Blicke auf öde Hinterhöfe und verwilderte Gärten werfen. Jedes Haus in Waldstädten, jede Gassenbiegung, jeder verwinkelte Vorgarten erzählten ihm eine andere Geschichte, eine, die er gerne in jene genannten Abstellräume für immer verbannen möchte, am besten zusätzlich eingehüllt in undurchdringlichen Nebel, hingezaubert von Meister Lethe!
Waldstädten galt ihm nicht als eine Stadt wie irgendeine, die man vielleicht ihrer reizvollen Lage wegen gerne aufsucht; Waldstädten war die Stadt seiner Jugend! Er war dort geboren; beinah 25 Jahre hatte er dort gelebt. Aber heute? - Schlug er lieber einen Bogen um das Städtchen. Und das hing mit gewissen aufwühlenden Erlebnissen zusammen, an die er sich höchst ungern erinnerte und an denen Frau Lambertz gewiss nicht wenig, um nicht zu sagen: lebhaften Anteil genommen; Frau Adele Lambertz, die Mutter von Klara Kerner; aber nicht nur von Klara, auch von - Julia! Julia Lambertz, seiner langjährigen Freundin. Um ein Haar nämlich wäre Julia seine Frau geworden und die alte Frau Lambertz infolgedessen seine Schwiegermutter, wenn....., ja, wenn diese Freundschaft nicht nach einigen Jahren in die Brüche gegangen wäre.
Dennoch, trotz aller Furcht, dieser bedrückenden Vergangenheit in Waldstädten erneut ins Auge blicken zu müssen - er konnte es nicht lassen, sich beiläufig nach Julia zu erkundigen, jetzt allerdings insgeheim hoffend, Klara werde nichts mehr von einem bevorstehenden Besuch Julias erzählen, und er könnte alle Hoffnung, seiner Ex-Verlobten noch einmal gegenüberzutreten, zu Grabe tragen.
„Julia geht es nicht so gut“, sagte Klara, „sie ist nicht ganz gesund. Ständig leidet sie an zu hohem Blutdruck. Und ihre Tochter Jana.... - sie studiert Kunstgeschichte an der Uni Regensburg - aber Jana ist auch krank....“
„Sie war krank..., wolltest du sagen...!“
Klaus, der sich einschaltete, wollte die Erzählfreude seiner Frau bremsen; auch mit auffällig bohrendem Blick versuchte er ihren Mitteilungsdrang zum Schweigen zu bringen, doch vergebens.
„Warum soll Elmar es nicht wissen?“, ereiferte sie sich; „schließlich kannte er Julia einmal näher! - Also: Jana litt an einer geharnischte Depression. Das Kind wurde deswegen schon öfter behandelt....“
Arme Julia!, dachte Elmar, während Klara, munter weitererzählend, sich über die Arten und Unterarten der Depressionen ausließ. Zwar hatte er so gut wie alle Erlebnisse mit Julia