Karlheinz Franke

Wicherns Genossen der Barmherzigkeit – Diakone des Rauhen Hauses


Скачать книгу

      Ich hatte an alles andere eher gedacht, als Stadtmissionar in einer Großstadt zu werden. Wegen meiner praktischen Begabung hatte ich mit einer Heimleitung gerechnet, auch schon im Hinblick auf meine Verlobte, die ja in diakonischen Anstalten gearbeitet hatte. Aber es half alles nichts. Wichern sagte: „Sie fahren nach Bremen und stellen sich vor, und es wird schon gehen.“ So fuhr ich im Februar 1899 nach Bremen und suchte den dortigen Vorstand auf. Einen Inspektor der Inneren Mission gab es damals noch nicht. Pastor Cuntz von St. Pauli (Neustadt) vertrat die Sektion Stadtmission. Ihn besuchte ich zuerst. Als er hörte, dass ich aus Nassau sei, sagte er: „Da komme ich auch her.“ Und damit war die Sache eigentlich in Ordnung. Weiter sagte er zu mir: „Setzen Sie sich auf Ihr Sofa.“ Als ich ihn fragend ansah, erwiderte er: „Dieses Sofa schenke ich Ihnen für Ihren künftigen Haushalt.“ Damit hatte ich nicht nur eine Anstellung gefunden, sondern auch ein Sofa. Es war ein altes Stück mit einem defekten Überzug, aber mit einem wundervollen Gestell, um welches ich später oft beneidet wurde.

      Aber es hatte noch der Vorsitzende der Inneren Mission in Bremen, Landgerichtsdirektor Carstens, sein Ja-Wort zu geben. Ich suchte ihn auf. Er war der typische vornehme, gütige Bremer Richter, der schon durch seine ganze Persönlichkeit Ehrerbietung erheischte. Er ließ mich in einen Schaukelstuhl neben seinem Schreibtisch setzen. Das Biest wollte gar nicht stillstehen und irritierte mich, während ich aus meinem Leben erzählen sollte. Ich wurde dann freundlich mit dem Bescheid entlassen, dass ich bald wieder von ihm hören werde. So erfolgte dann auch meine Berufung zum 1. Mai 1899 als Stadtmissionar in Bremen, wo ich den Bezirk Gastfeldstraße übernehmen sollte.

      Diesen Bezirk hatte bisher Bruder Konrad Drojewski betreut, aber nun einen neuen Bezirk in der Bahnhofsvorstadt übernommen. Da er aber zunächst noch die zu meinem neuen Bereich gehörige Wohnung in der Kinderbewahranstalt inne hatte, nahm ich vorläufig meine Wohnung in der Herberge 2 an der Schlachte. Hier hatte ich ein kleines Zimmer mit einem Bett und dazu meinen Schließkorb, was mir völlig genügte. Bald zog ich aber zu Bruder Palm in die Süderstraße, bei dem ich Wohnung und Verpflegung hatte, auch dann noch, als Drojewski die Wohnung frei gemacht hatte. Das erste Halbjahr wurde als Probezeit angesehen, und bis dahin musste ich unverheiratet bleiben. Bruder Palm hatte ich bei meinem Eintritt ins Rauhe Haus kennen gelernt. Er war Gehilfe in der Arbeiterkolonie Lühlerheim und dann später als Stadtmissionar nach Bremen berufen worden. Ich hätte damals nicht gedacht, dass wir uns hier in Bremen wieder treffen würden.

      Bruder Drojewski sollte noch 14 Tage mit mir zusammen sein und mich einführen. Er redete den ganzen Tag so auf mich ein, dass mir abends der Kopf weh tat. Er meinte es gut und war überzeugt, dass er mir damit einen großen Dienst tun würde. Wir besuchten viele Leute, auf die es in der Arbeit besonders ankam. Dazu gehörten die zwei Pastoren der St. Pauli- und der Jacobi-Gemeinde, sowie auch andere Pastoren, die mit uns zusammen arbeiteten. Er erklärte mir auch den Unterschied zwischen den lutherischen und den reformierten Gemeinden. Ich sollte mir alles notieren und möglichst auswendig lernen. Dies hielt ich jedoch für höchst überflüssig, aber es musste zunächst geschluckt werden. Beim Besuch eines Bauern, der sehr wortkarg war, sagte Drojewski zu mir: „Wenn du aus dem fünf Worte herausbekommst, kannst du etwas.“ Wir kamen hin, bekamen ein Glas Wein vorgesetzt, und Drojewski führte das Wort. Der Bauer nickte nur und schwieg still vor sich hin. Beim Hinausgehen fragte ich den Bauern, ob er mir nicht einmal seinen Viehstall zeigen wolle, ich sei vom Lande und hätte Tiere gern. So kam ich mit dem wortkargen Bauern in ein anregendes Gespräch über das Vieh.

      Ich hatte die Aufgabe, in Gemeinschaft mit den Pastoren Cuntz und Leipold von St. Pauli die Vereine, Gemeindekreise und Kindergottesdienstarbeit zu übernehmen. So hatte ich einen Jünglingsverein, einen Bläser- und einen Männerchor. Der Anfang war nicht leicht. Ich hatte wohl ein Gefühl für Musik, aber mir fehlte die Ausbildung. So musste ich jede freie Stunde einsetzen, das Fehlende nachzuholen. Im Kindergottesdienst hatte ich den alten Auswanderermissionar Krone zur Hilfe. Gleichzeitig mit der Arbeit in der Gastfeldstraße hatte ich auch meinen Dienst an der St. Jacobi-Gemeinde. Während ich in der Gastfeldstraße mit Pastor Müller zu tun hatte, war ich hier mit Pastor Valkmann zusammen. Wir wechselten uns mit den Bibelstunden ab, und zwar einmal im Gemeindehaus der Jacobi-Gemeinde, zum anderen in der Schule Kattenturm.

      Da man in Bremen mit meiner Arbeit zufrieden war, stand unserer Verheiratung jetzt nichts mehr im Wege. Meine Braut, die eine verantwortliche Stelle in einem Haushalt in Wiesbaden hatte, war im Sommer 1899 nach Hause gegangen, um ihre Aussteuer fertig zu machen und alles für die Übersiedlung nach Bremen vorzubereiten. Die Hochzeit sollte in der zweiten Septemberhälfte stattfinden. Da erhielt ich plötzlich die Nachricht, dass die Mutter meiner Braut an Herzschlag verstorben war. Unglücklicherweise lag ich mit einer Magen-Darm-Erkrankung im Bett, machte mich aber trotzdem auf die Reise nach Koblenz, um bei der Beerdigung dabei zu sein. Nach der Beerdigung berieten wir, wie wir es mit der Hochzeit halten wollten. Wir fanden es richtig, uns dort in Koblenz ganz still trauen zu lassen und anschließend nach Bremen zu fahren. Unsere Papiere waren bereits in Ordnung, so dass dem nichts mehr im Wege stand. So wurden wir also am 12. September 1899 in aller Stille getraut. Die standesamtliche Trauung war wenig feierlich. Der Standesbeamte saß mit seiner Pfeife in seinem Amtszimmer und die Formalitäten waren ein reiner Aktenvorgang. Er zog noch einmal kräftig an seiner Pfeife, dann traute er uns und freute sich, dass die Pfeife danach noch brannte. Um so angenehmer war für uns die kirchliche Trauung, zumal ja dieser Pfarrer wenige Tage vorher unsere Mutter beerdigt hatte. Wir besuchten noch einmal alle Verwandten und Bekannten in der Umgebung und fuhren dann über Elberfeld nach Bremen. Hier wurden wir durch einen großen Empfang überrascht. Der Bläserchor brachte uns ein Ständchen, und die Frauengruppe unter Leitung von Frau Baronin Uexküll hatte unsere Küche mit allen Lebensmitteln versehen, die für einen Anfang notwendig waren. Schon nach kurzer Zeit hatte man festgestellt, dass Lina die richtige Frau für einen Stadtmissionar sei. Meine Frau besuchte die Armen des Bezirkes. Es war ein schöner Anfang unserer gemeinsamen Arbeit. So wohnten wir nun zusammen bis zum 1. April 1901 im Hause der Kinderbewahranstalt in der Gastfeldstraße, auch noch, als unser erstes Kind schon geboren war. Dann siedelten wir in das Vereinshaus der Inneren Mission, Süderstraße 30a, um. Hier haben wir 43 Jahre lang unseren Dienst getan und Freud und Leid in Familie und Beruf gemeinsam durchlebt, bis unser Haus am 6. Dezember 1944 vernichtet wurde. Im Parterre war unsere Wohnung, bestehend aus vier Zimmern. In der ersten Etage befand sich der Saal für Versammlungen. Daneben gab es noch einige Abstellräume und zwei kleine Zimmer im Dachgeschoss, die von unseren Kindern bewohnt wurden. Das Haus, in dem sich einmal eine sogenannte Klippschule befunden hatte, war 1856 in einem verwahrlosten Zustand von der Inneren Mission gekauft worden, um es als Vereinshaus zu nutzen.

      So gingen zwei Jahre dahin. Da sollte Bruder Palm, der die Stadtmissionsarbeit in der Süderstraße betrieb, als Vorsteher das hiesige Altenheim übernehmen und musste ersetzt werden. Pastor Cuntz, der mich gerne in der Süderstraße haben wollte, setzte es durch, dass ich die dortige Arbeit übernahm und Felix Hoffmann in die Gastfeldstraße versetzt wurde. Mein Hauptarbeitsgebiet war nicht in der Süderstraße, sondern zog sich mehr zum Hohentor hin, einem aufblühenden Vorort. Dort wurde unter Leitung von Pastor Cuntz, dem Ehepaar Uexküll und mir als Stadtmissionar, der Aufbau einer eigenen Kirchengemeinde vorangetrieben. 1907 kam es zum Bau des Pfarrhauses, später auch der Kirche.

       Unser Familienleben

      Nach unserer Hochzeit am 12. September 1899 wohnten wir die ersten zwei Jahre unserer Ehe in der Gastfeldstraße, wo auch am 10. August 1900 unser Sohn Gustav geboren wurde. Am 1. April 1901 zogen wir in die Süderstraße. Pastor Cuntz half uns kräftig beim Umzug. Unser kleiner Gustav blieb den Tag über bei Pastor Müller. Das neue Haus befand sich in einem sehr schlechten baulichen Zustand. Als Beleuchtung hatten wir Gaslicht mit zwei offenen Gasflämmchen, die in der Mitte des Zimmers aus zwei Röhren von der Decke hingen. Nach wenigen Wochen sah unsere Wohnung aber schon anders aus. Die Fenster bekamen Gardinen und an Stelle der offenen Gasflämmchen schafften wir uns Gasglühlicht an, damals ein Fortschritt.

      Die Näherinnen der Inneren Mission waren mit in unserer Wohnstube untergebracht, so dass unsere Familie noch sehr eingeengt war. Damals gab es in der Neustadt noch keine Spülklosetts, sondern nur das Tonnensystem. In einem kleinen Anbau hinter der Waschküche war der Standort der Tonne. Dahin musste alles, was in unserem Hause ein und aus ging,