Sanne Prag

Bob Lennce und der fremde Klang


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hing über der Brüstung und schaute fasziniert die Säule an, als sich kleine Brocken losmachten. Und dann sah Ezra einen Fetzen weißes Plastik durch den Raum schweben. Ein Stück dünner Folie bewegte sich seltsam. Es war als ob etwas in der Folie wäre, etwas Langes, Rundes das flog. Es schwebte über Bob hinweg. Was war das Seltsames?

      Ezra nahm gleichzeitig aus dem Augenwinkel wahr, dass das winzige Männchen aus den Gerüsten herunterturnte. Es lief auf ob zu, der immer noch voll Faszination dem Zerstörungswerk zusah. Die Macht der Klänge machte ihn reglos vor Bewunderung.

      Der kleine Mann aus den Gerüsten lief mit ausgestreckten Händen die Balustrade entlang. „Aufhören“, brüllte er. „Sofort aufhören!“ Ezra sah ihn zum ersten Mal aus der Nähe, oder zumindest näher als sonst. Er hatte einen grauen Bart und war gar nicht so klein. Eine lange, hagere, sehnig muskulöse Figur mit wütenden Augen. Bob war gut einen Kopf kleiner.

      Mit geballten Fäusten kam der Mann aus dem Baugerüst auf den Musiker zu: „Du mieses, kleines, hinterfotziges Dreckschwein“, brüllte er. „Es ist ein Malheur, dass ich dich nicht früher erwischt und kalt gemacht habe. Immer schon war Kaputtmachen das einzige, was du kannst.“ Er war außer sich. Bob grinste den Wutentbrannten an und verschwand hinter eine Säule.

      Der Bassist zog seinen Bogen zurück. Der Klang versiegte. Alle schauten gebannt nach oben. Die kleinen Wölkchen Staub hörten auf, aus der Mauer zu steigen, weil keine Töne mehr auftrafen. Die Zerstörung war unterbrochen, und so schien die Säule weiter in den Himmel ragen zu wollen.

      Der Mann vom Gerüst aber fischte mit Krallenhänden hinter der Wand, dort wo der Musiker verschwunden war. Bob tauchte an einer anderen Stelle der Balustrade auf, er hatte es anscheinend geschafft, aus der Gefahrenzone zu kommen. Er lief eilig die Wendeltreppe hinunter, um sich in den Schutz seiner Gruppe zu flüchten.

      Als er unten ankam, warf sich der andere nach vorne. Genau wie Bob vorher hing er nun über den Rand. Seine Stimme wurde anscheinend von der Klangform erfasst, und verändert, als ob sie aus den Wänden der Kathedrale käme. „Eve ist tot und deshalb ist jetzt alles anders. Und du wirst dafür büßen. Nichts ist mehr so, wie es war, und deshalb wirst du nicht mehr Gottes Liebling sein. Keiner wird dich in den Himmel heben, dir Goldstaub auf deinem Weg streuen. Was übrig bleibt, ist ein kleines, mieses Würstchen ohne Charakter.“ Sein aufgestauter Zorn brach sich einem Tsunami gleich in dem unfertigen Raum. Ezra spürte die Wellen der Wut, die von der Balustrade nieder brandeten und ein Opfer wollten. Bob gab keine Antwort, aber es war klar, dass er dieses Opfer nicht sein würde.

      NACHT

      Weiterarbeiten war nicht möglich gewesen mit dem wütenden Kathedralenbauer. Sie beschlossen, am nächsten Tag die Arbeit mit der Akustik wieder aufzunehmen. Vielleicht war der dann doch einmal schlafen gegangen?

      Wolfgang ließ seine Klangformen nur ungern aus den Augen. Aber das große Konzert sollte ja auch erst in eineinhalb Monaten stattfinden. So hatte er sich genötigt gesehen, umzudenken. Er konnte nicht eineinhalb Monate seine Klangformen bewachen. Er begann daher, sich mit den unfertigen Toren zu befassen. Vielleicht konnte man das Areal abschließen? Er begann, das mächtige, alte Eisenschloss an der Türe genau zu untersuchen und zu ölen…

      Zur gleichen Zeit überlegte Ezra, dass er mit dem Mann hoch oben im Gerüst ins Gespräch kommen wollte. Der Mann, der hier Tag und Nacht unter dem Stück Himmel zwischen den Mauern der Kathedrale lebte, war wohl ein wichtiger Teil des Projektes. Auf Dauer würde es sich nicht vermeiden lassen, mit ihm zu reden. Er, Ezra, musste sich dem Minotaurus stellen, der hier allein in den verschlungenen Gängen des Kathedralen- Labyrinthes hauste. Er musste ihn in die Organisation einbinden, anders ging es nicht. Der Mann hatte sich inzwischen wieder seinen Gerüsten zugewendet, als Bob die Instrumente einpacken ließ. Einem Sieger gleich, mit verächtlichem Blick auf die Band war der Minotaurus wieder arbeiten gegangen und turnte bereits hoch oben.

      Ezra folgte ihm an der Balustrade entlang und eiserne Leitern hinauf. Die Landschaft fand er ziemlich beunruhigend. Durch dünne Aluminiumsprossen blickte er immer tiefer in den mächtigen Raum hinunter, und er war nicht schwindelfrei. Seine Knöchel traten am Handrücken deutlich vor, als er sich gegen die Widerstände seines Magens und seines Bauches immer höher hinauf bewegte.

      Leichtfüßig turnte der Mann vor ihm immer weiter, bis in die Kuppel. Mit einem Kübel und einer Kelle ging er ohne Sicherung zu einer Stelle knapp unter dem Kuppelgerüst und strich braune Masse an die Wand. Er arbeitete konzentriert und sehr geschickt. Ezra hielt inne, um Luft zu holen und seine Strategie zu klären. Wie führt man Gespräche mit einem Minotaurus? Theseus hatte es sich entschieden zu einfach gemacht. Einfach abschlachten oder vertreiben kam nicht in Frage. Schließlich sollte die ganze Veranstaltung zu Gunsten des Kirchenbaues stattfinden.

      Wie funktionierte ein Mensch, der sein Leben mit dem Bau eines mächtigen Gotteshauses verbrachte, Tag und Nacht daran arbeitete? Fühlte er sich mächtig oder gestresst oder hatte er einen genauen Plan für den Tag? Ezra suchte in seiner eigenen Erfahrung, in seinem Leben. Er sah sich selbst mit fünf Jahren und einem sehr großen Kasten mit Legosteinen und dem Problem, ein Schloss zu bauen, dass so nicht hielt wie er sich´s vorstellte. Die frei schwebenden Rundbögen, die er formen wollte, fielen einfach immer wieder auseinander. Seine Wünsche und Vorstellungen der begrenzten Legowelt anzupassen, hatte er als Frust erlebt. Verbissen hatte er immer neue Bauten probiert, die von Zeit zu Zeit in sich zusammen fielen.

      Wie konnte dieser Mann es tatsächlich auf sich nehmen, die mächtigen Wände hochzuziehen? Wieso baute der Mann überhaupt Tag und Nacht allein an dem Riesending?

      Ezra näherte sich dem Ort, wo verputzt wurde, mit Vorsicht. „Sie waren gestern bei dem Treffen nicht dabei.“ Er bekam keine Antwort. „Ich habe Sie zumindest nicht gesehen, und ich denke, es wäre doch wichtig, dass Sie auch dabei wären. Immerhin sind Sie der, der baut…“

      Ohne mit dem Verputzen aufzuhören, pfauchte der Mann: „Was soll ich mir den Kerl geben, der da auf dem Podium ´rumeiert, dummes Zeug schwätzt – ich habe Arbeit.“

      Aha, dachte Ezra, der Baumeister hatte wohl geglaubt, dass Bob Lennce seine Rede halten würde. Er straffte seine Schultern stellte seinen Rücken gerade und sagte dann mit fester Stimme: „Aber es ist ja auch für Sie einfacher, wenn Geld da ist, um weiterbauen zu können.“

      Die Kelle in der Hand wie eine gefährliche Waffe, den Kübel mit der bräunlichen Masse in der anderen, kam der Mann bedrohlich auf Ezra zu. Um nichts in der Welt hätte der das Geländer ausgelassen. Während der andere mit seinem Werkzeug in der Luft herumfuhr, versuchte Ezra, die wacklige Stellung zu behaupten, ohne den festen Griff zu lockern, denn er musste ständig daran denken, dass unter ihm die leere Tiefe lauerte.

      Die Augen zu schmalen Schlitzen verengt, zischte der andere, frei stehend: „Glauben Sie wirklich, ich muss mir diesen dämlichen Walthen geben, mit seinem schicken Anzug und seiner großen Klappe, damit ich meine Aufgabe erfüllen kann? Jeden Stein hier, jedes Stück Wand habe ich selbst gemacht, und jetzt wollen alle die Finger in meinem Kuchen haben. Wollen auch beteiligt werden, ein Stückchen Ruhm erhaschen, etwas herausreißen.“ Er drehte sich wieder zu seiner Wand um und verputzte weiter. „Manchmal lasse ich es zu, dass jemand hilft, aber es wird gemacht, was ich will. Das da ist meines und niemand hat ein Recht darauf.“

      Der Minotaurus war der König in diesem Reich, der unumschränkte Herrscher. Ezra hatte mit seiner Haltung viel zu tun. Nicht nur musste er sich an dem wackligen Geländer verbissen festhalten, er musste auch cool und standfest eine Position vertreten, die er kaum kannte. Im Interesse des Projektes und in seinem eigenen musste er herausfinden, wie es weiter gehen sollte, und was bisher geschehen war. Wie genau war dieses Projekt zu Stande gekommen?

      Walthen hatte ihn engagiert, ihm die Forderungen hingeknallt: Journalisten, Essen, Auftritte, Veranstaltung planen, Eintritt, Sitzreihen, Wegweiser… Sonst nichts, keine Aufklärung, er war nicht eingeweiht. Er hatte angenommen, dass Walthen nicht genug Überblick hatte, es auch nicht so genau wusste. Er hatte sich daher auf das Notwendige konzentriert, nicht die Freiheit genommen, zu fragen. Aber jetzt war alles anders. Walthen war mit der Organisation überfordert