Sanne Prag

Bob Lennce und der fremde Klang


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gibt, informiert er sich. Die Zeit hatte er nicht.“ Ezra erinnerte sich daran, wie Walthen aufs Podium gestiegen war und ein gequältes Lächeln eingeschaltet hatte, und noch immer überkam ihn ein wohliges Gefühl gelungener Rache.

      „Ja, aber warum sollte er deshalb Eve ermorden?“

      „Weiß ich auch nicht, keine Ahnung. Ich hätte ihn nur gerne in der Hölle braten gesehen.“

      Die Bilder des Abends zogen vorbei. Ezra sah den kleinen runden Tisch, an dem Ro und Lennce mit Eve standen. Ein sehr schlanker, dunkler Typ kam lächelnd zu ihr. Sie wirkte erfreut. Später lief einer von den ausgeborgten Kellnern vorbei. Eve hatte etwas geschrieben und legte es ihm aufs Tablett, etwas Helles. Ein Blatt aus ihrem Notizbuch zusammengefaltet. Sie sagte ihm etwas. Für wen war die Nachricht? Dann unterhielt sie sich kurz mit einer Frau, jung, aber nicht der attraktive Typ, eher eifrig. Es war ein ernstes Gespräch ohne Getue. Nicht die übliche Bussi-Bussi Masche. Das Gespräch war sehr konzentriert. Da ging es um etwas. Das musste man genauer anschauen. Dann fiel Ezra noch etwas ein: „Hast du vielleicht gefragt, wo sie ihr Herzmittel gehabt hat? Ich meine, sie muss es doch mitgehabt haben.“

      „Ja, der Behälter war in ihrer Tasche, - es war nur mehr wenig drin, haben sie gesagt. Würde eigentlich dafür sprechen, dass sie es selbst genommen hat.“

      Ezra sah zum Fenster hinaus. Er konnte direkt auf die Kathedrale schauen, die golden und frühlingsrosa auf der anderen Straßenseite lag.

      Eve hatte sich nicht nach Selbstmord angefühlt. Natürlich wäre da die Möglichkeit, dass sie noch einmal das Leben genießen wollte, bevor sie Schluss machte, sozusagen ein fröhliches Ende inszenierte. Aber sie war auch nicht übertrieben ausgelassen gewesen. Eher ruhig, gezielt, orientiert – ein Arbeitstreffen mit einem klaren Zweck. So hatte sie sich angefühlt. Sie hatte sich für das Projekt sehr engagiert, hatte die junge Frau gesagt. Wohl, weil sie ja aus der Region stammte, fiel ihm ein. Genauso war die Stimmung. Sie wollte etwas weiterbringen. Sie wollte Fäden knüpfen, etwas auf die Beine stellen, Überblick haben. So verhält man sich nicht, bevor man aufs Klo geht und eine Überdosis nimmt.

      Und jemand anderer? Konnte jemand anderer ihr in Ezras Gegenwart das Herzmittel gegeben haben? Was konnte ein Grund sein, sie aus dem Leben haben zu wollen? Journalisten waren wohl gefährlich. Wer also hatte Angst vor ihr? Hatte sie besonderes Wissen über bestimmte Personen gehabt? Wahrscheinlich. Wie war sie mit besonderem Wissen umgegangen? Wie hatte sie ihren Beruf betrieben? Ezra kannte einige Artikel von ihr - sorgfältig recherchierte, wenig tendenziöse Stellungnahmen zu Politik und Wirtschaft. Nichts Reißerisches, keine billigen Aufmacher…

      Das Handy klingelte. Wolfgang brummte hinein, dann sagte er klar und deutlich: „Ja, wir kommen.“

      Trotz Eves Tod würde das Konzert stattfinden, alles lief weiter, als ob es keine Mordermittlung gäbe…

      ABEND

      Sie gingen schnell über die Straße. Es war schon dämmrig.

      In der Kathedrale waren mehrere große Scheinwerfer eingeschaltet. Dennoch war der Riesenraum nicht übersichtlich. Hellere Lichtkreise wechselten mit dunklen. Schummrige Ecken, in denen schemenhaft Betonengel zu erkennen waren, wechselten mit hell bestrahlten oder ganz schwarzen Plätzen. Hoch oben schwebten einige der Formen, die sie am frühen Nachmittag aufgehängt hatten, im Licht. In der Ferne sahen sie kleiner und glänzend aus - wie Christbaumschmuck.

      Bob Lennce begrüßte die beiden konzentriert, nicht sein übliches Ausweichen, er war voll bei der Sache, präsent. Im Dunkel hinter ihm standen die Musiker seiner Band. „Wie könnten wir die Versuche mit dem Klang angehen?“ Wolfgang hatte das Sagen, er wurde in dem Moment Herr über die Klänge. Herr auf Zeit, Bob Lennce übergab ihm kurz das Zepter und den Reichsapfel.

      Er und Ezra begaben sich daraufhin hinauf zu den Klangkörpern. Ezra sah sich als Assistent und Helfer ohne Fachwissen, oder mit nur sehr geringem Fachwissen. Wolfgang bedeutete ihm, sich zu einer bestimmten Form zu stellen und auf Kommando an Seilen so zu ziehen, so dass sich das Objekt an seiner Hängung drehte. Er selbst kletterte zu einer weit entfernten Stelle. „Wir beginnen mit dem Schlagzeug, denke ich, das ist am stärksten“, rief er hinunter zur Band. „Da hören wir am ehesten die Abweichung.“

      In die kleine Gruppe, die im Schatten der Apsis ihre Instrumente bereithielt, kam Bewegung. Schließlich schickte der Lautsprecher einige Passagen vom Schlagzeug hoch. Wolfgang und Ezra drehten vorsichtig und langsam zuerst das eine Objekt und dann das andere. Nach den Zeichen, die Bob machte, schienen die Klangkörper tatsächlich etwas zu bewirken. Ezra konnte keine Veränderung wahrnehmen, obwohl er lauschte. Schließlich kam ein Zeichen - alles perfekt.

      Ezra fixierte seine Seile und lief hinunter, während Bob mit Wolfgang Zeichen tauschte. Er stellte sich zur Gruppe und versuchte, einen neuen Klang wahrzunehmen. Er hörte nichts, aber er war ja auch kein Musiker.

      Ezra wartete neben Bob. „Und jetzt der Bass“, rief Wolfgang hinunter.

      Der Bassist entlockte dem Instrument tiefe Klänge, die der Lautsprecher nach oben schickte. Wolfgang hängte sich über die Brüstung, angelte nach einer der Formen und drehte sie leicht. Nun konnte auch Ezra eine Veränderung wahrnehmen. Der Ton breitete sich anders im Raum aus. Es klang, als ob er aus den Wänden der Kathedrale käme.

      Bob wirkte sehr aufmerksam, fast elektrisch geladen.

      Dann machte Wolfgang wilde Gesten, deutete auf eine der hängenden Formen. Ezra lief nach oben. Er fischte die Seile aus dem Abgrund und begann langsam zu ziehen, während der Bassist immer neue Klänge durch den Lautsprecher schickte. Vorsichtig zog er. Da nahm er plötzlich eine Schwingung wahr, nicht eigentlich einen Klang, es war wie eine Vibration ohne Ton. Eine mächtige Schwingung erfasste alles um ihn und seinen Körper. Es war, als ob der ganze Raum zu vibrieren begänne, die Wände arbeiteten mit. Ein Anstieg der Energie übertrug sich durch Wellen an der Frequenzschwelle, kaum als Klang wahrnehmbar, der Raum war plötzlich in Bewegung. Die vibrierende Luft griff auf die Mauer über. Ezra spürte es zuerst in Höhe des Zwerchfelles, dann in den Füssen, im Hinterkopf, im Magen. Seine Nackenhaare stellten sich auf.

      Es fühlte sich gar nicht gut an. So musste eine Katze knapp vor einem Erdbeben die Erde spüren. Angst setzte sich dunkel auf Ezras Nerven. Fast reflexhaft versuchte er, die Position des gehängten Hohlkörpers zu verändern. Nun war deutlich ein Brummton da. Bob zeigte an, dass Ezra die Form wieder zurückdrehen sollte.

      Hatten die unten nichts gehört? Alles in Ezra sträubte sich, sie wieder zurückzudrehen. Der Ton war Vorbote von etwas Bedrohlichem gewesen, wie das Knurren eines Tieres, das unsichtbar im Gebüsch lauert, oder eben das Grollen der verärgerten Erde, bevor sie sich kratzt. Er fixierte die Form und lief zu Bob.

      „Ich weiß nicht, wie das unten geklungen hat“, rief er noch im Laufen. „Aber oben hinter der Form war etwas seltsam.“

      „Seltsam“, wiederholte Bob.

      „Es war eine Vibration da, die sicher nicht gemeint war. Habt ihr das nicht gehört?“

      „Bass muss in den Magen gehen“, sagte der Bassist. Er hatte lange, blonde Haare. Ob sich die auch kräuseln würden wie Ezras Nackenhaare?

      Laut sagte Ezra: „Nein, es war ein anderer Ton, der hinter der Form entstanden ist. Es war keine Klangverstärkung oder eine neue Richtung der Bässe. Es war etwas Fremdes.“

      „Etwas Fremdes“, echote Bob und war schon auf dem Weg nach oben. Seine kleine Figur erschien über der Klangform und er zog an den Seilen. Der Bassist ließ Ton um Ton erklingen. Ezra konnte unten neben der Band keine Veränderung wahrnehmen. Plötzlich war wieder der Brummton da, Bob zog weiter an den Seilen. Der Brummton verschwand. Bob schien zu lauschen.

      Ein langgezogener Basston schwebte aus dem Instrument, durch den Lautsprecher und nach oben und weiter in den Himmel. Bob justierte sehr vorsichtig an der Form und plötzlich lösten sich kleine Staubwolken aus der Mauer. Die Töne schienen auf dem Mauerwerk aufzutreffen und Teilchen aus dem Verband zu reißen. Klanggeschoße gegen den Beton - die Trompeten von Jericho?