Dennis Herzog

Kinderspiel


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Fingern in die Seite, woraufhin dieser seine Aufmerksamkeit gleich wieder von „Erik Mama“ abwandte und seinerseits einige bunte Pappen aus seiner Hosentasche fischte.

      In großen, schnörkellosen Buchstaben konnte Yasmin die Worte „YU-GI-OH“ auf der Rückseite ausmachen. Sie fragte sich unwillkürlich was die leuchtend rot geschriebenen Lettern wohl bedeuten konnten, schluckte aber eine entsprechende Frage schnell wieder hinunter. Es hatte wohl keinen Sinn Interesse zu bekunden.

      Sie kannte bereits viele beleidigende und abwertende Antworten ihres Sohnes.

      Ein Schüler der vierten Klasse, der sich übertrieben gerne über die offensichtliche Unwissenheit seiner Mutter lustig machen konnte, wie ein Sportmoderator, über einen Boxer, der in der ersten runde k.o. geht. Erst würde er sie als soooo unmodern bezeichnen, dann … Gott weiß was noch.

      Er hatte sie schon als „dummes Huhn“ bezeichnet, als „alte Schnepfe“, und Schlimmeres. Sie hatte heute nicht die geringste Lust darauf, sich von ihrem Sohn beschimpfen zu lassen. Noch dazu im Beisein seines Freundes.

      Sie zog es daher vor, den Kindern einfach die Pfannkuchen stehen zu lassen, um es ihrerseits Rebecca gleichzutun und die Küche, mitsamt den mittlerweile in ihr Spiel vertieften, Jungen, zu verlassen. Also wandte sie den beiden den Rücken zu, ohne dem hektischen Geschwätz über Monster, Fallen und andere ominöse Begriffe, die sie nicht verstand, weitere Beachtung zu schenken.

      Wieder rüber zum Wintergarten und eine Flasche Wein öffnen? Danach stand ihr am ehesten der Sinn. Ob sie ein Alkoholproblem hatte? - Ja.

      Und warum zum Teufel auch nicht? Am frühen Nachmittag Wein trinken konnte wohl so mancher als „nicht gerade alltäglich“ ansehen. Dem stimmte Yasmin durchaus zu. Dennoch sah sie sich durchaus befähigt ihren Konsum in einem gewissen Rahmen zu halten. „Überschaubar“ nannte sie ihren Selbstbetrug.

      Es war schon einige Zeit her, dass sie so betrunken gewesen war, wie nach den anfänglichen schweren Abstürzen in der Zeit nach der Beerdigung. Streng genommen war es vor, während, und nach der Beerdigung gewesen. Am selben Tag hatte sie sich mehr als einmal schlichtweg aufs Maul gelegt, um am Ende sogar die Besinnung zu verlieren.

      Die Zeche dafür: Die quälenden Kopfschmerzen am nächsten Abend. Sie war tatsächlich erst achtzehn Stunden später wieder aufgewacht. Aber sie hatte sie gern bezahlt.

      Das war absolut Nichts! Kein Vergleich zum Schmerz in ihrer Seele, den sie hatte ertragen müssen, als Andreas von seinen Arbeitskollegen und Freunden zu Grabe getragen worden war. Außer dieser Handvoll Leute waren nur noch sie und die Kinder auf der Beerdigung gewesen.

      Yasmins Eltern lebten lange nicht mehr. Und Andreas Eltern? Nun, die waren in Kanada.

      Seine Mutter, die gute alte Dame hatte sich vor einigen Jahren, nur kurze Zeit nach dem Umzug der Zielkes von Hollenstedt nach Rosengarten, einfach in einen Flieger gesetzt.

      Die derzeit Dreiundsiebzig jährige war von Andreas so einige Male als „Cool drauf“ bezeichnet worden. Er hatte sich köstlich amüsieren dürfen, als sie im ersten Telefongespräch, das er und sie führten, nachdem sie in Kanada angekommen war, verriet, sie habe ihren Mann als Handgepäck aufgegeben.

      So waren die beiden eben. Er stand voll und ganz unter ihrem Scheffel, hatte nie etwas zu sagen gehabt, und das würde wohl auch ewig so bleiben.

      Bedauerlicherweise trieb Yasmin ein ungewollt böses Spiel mit ihren Schwiegereltern.

      Diese meldeten sich mittlerweile nicht öfter als ein-zweimal im Jahr. Sie hatte es bisher, nach fast sechs Monaten einfach nicht fertiggebracht Andreas Eltern darüber in Kenntnis zu setzen, dass deren Sohn verstorben war.

      Die beiden Anrufe, die Yasmin von ihrer Schwiegermutter bekommen hatte, seit der Tragödie im April, waren zur Farce geworden. Einmal hatte sie gesagt er habe geschäftlich nach Hamburg reisen müssen und komme erst in einer Woche wieder. Die zweite Lüge, vor knapp drei Wochen, war noch plumper ausgefallen, und beinahe wäre sie damit aufgeflogen.

      Eigentlich war sie damit sogar der Wahrheit ein kleines Stückchen näher gewesen, da sie vorgegeben hatte, Andreas habe sich ein Bein gebrochen und müsse, weil es ein komplizierter Bruch wäre, daher einige Tage stationär im Krankenhaus verbringen.

      Seine Mutter, geistesgegenwärtig und mit flinker Zunge ausgestattet, hatte umgehend verlangt die Nummer des Telefons zu erfahren, dass sie mit dem Krankenhaus und dem Apparat auf seinem Zimmer verband.

      Yasmin schämte sich noch immer dafür, und es tat ihr schrecklich leid, dass sie darauf erwidert hatte, die Klinik stelle keine Telefone zur Verfügung, was natürlich nicht stimmte.

      Sie war sich sogar sicher, ihre Gesprächspartnerin habe die Lüge ohne Mühe durchschaut, doch sie wurde nicht zur Rede gestellt, das Gespräch ging lediglich leicht unterkühlt weiter.

      Für Yasmin fand sich derzeit im Trinken einfach eine Art geruhsame Erholung. Nach Andreas Ableben konnte sie dadurch ein Stück weit ihrer erbärmlichen Realität entfliehen.

      Tatsächlich aber sah die Wirklichkeit ansonsten gar nicht so bitter aus. Etwa was den finanziellen Part anging. Für sie und die Kinder war mehr als gut gesorgt, obwohl sie weder einer Arbeit nachging, noch sonstige Einkünfte vorzuweisen hatte, da sie sich schlichtweg nicht mehr in der Lage sah ihren alten Job als Zahnarzthelferin jemals wieder auszuüben.

      Andreas und sie hatten vor siebzehn Jahren geheiratet, zwei Jahre darauf war Rebecca zur Welt gekommen. Yasmin hatte damals schon den Rat ihres Mannes beherzigt, - so wie sie eigentlich jeden seiner Ratschläge befolgte -, nicht wieder ins Berufsleben einzutreten.

      Beim zweiten Glas Wein angelangt, hing sie wieder ihren Erinnerungen an die Liebe ihres Lebens nach. Wäre ihr großer, attraktiver Mann nicht ebenso erfolgreich gewesen wie liebevoll, es stände weiß Gott schlechter um die Drei, die zurück blieben.

      Andreas war im fünften Jahr ihrer Ehe, Rebecca wurde bald drei, Yasmin war noch nicht mit Erik schwanger gewesen, zum Firmenleiter der Kronenberg AG in Buchholz ernannt worden. Für diesen Posten war schon von vornherein nur ein Mann in Frage gekommen.

      Man hatte schon Monate zuvor eine Abstimmung darüber abgehalten, wer dem amtierenden, kinderlosen Geschäftsführer nachfolgen sollte, wenn dieser abdankte und in Rente ging.

      So steigerte sich damals das, ohnehin schon sehenswerte Gehalt von Andreas um beachtliche fünfzig Prozent. Er hatte in dieser Firma seine Ausbildung zum Industriekaufmann abgeschlossen und sich kontinuierlich, durch überragende Leistungen und innovative Neuerungen und Ideen, bis an die Spitze des Unternehmens vorgearbeitet.

      Er hatte es damals so eingerichtet, dass für ihn und Yasmin eine hohe Lebensversicherung abgeschlossen wurde, die von der Firma bezuschusst wurde, und auf deren Beitrag er noch dazu erhebliche Vergünstigungen bekam.

      Der Erfolg der Firma profitierte von der Einfachheit ihres Produktes. Die Kronenberg AG stellte und stellt einen simplen Gegenstand des täglichen Bedarfs her: Die Fabrik in Buchholz, eine von sieben Filialen Landesweit, produziert einfache Kronkorken für Getränkeflaschen. Abnehmer des Millionenunternehmens sind namenhafte Hersteller von Bier, Mixgetränken und Softdrinks.

      Ende des letzten Jahrzehnts hatte dann die Kronenberg AG noch eine eigene Biersorte auf den Markt geworfen, das in einer aus dem Boden gestampften Brauerei hergestellt und abgefüllt wurde. Somit wurde ein zweites Standbein geschaffen, das sich auf Anhieb gut rentierte.

      Allein schon durch die Ersparnisse ihres Mannes, der generell wenig für Luxus ausgegeben hatte, und immer eine eiserne Sparpolitik durchgesetzt hatte, stand Yasmin ein Guthaben von mehr als 150,000 € auf zwei Bankkonten zur Verfügung. Durch gute Planung und einer eigentlich gar nicht notwendigen Sparsamkeit, hatten sie es sich auch erlauben können jedes Jahr Urlaub zu machen.

      Ausgenommen in den Monaten der beiden Schwangerschaften, hatten sie gerne ein bis zwei Wochen auf Kanarischen Inseln, in Griechenland