Dennis Herzog

Kinderspiel


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damit, dass besagter Mann der Verlobte von Claudia war, der schon im Augenblick ihres Anrufes drauf und dran war, aus seinem Auto zu steigen, das er gerade vor dem Kinderhort zum stehen gebracht hatte. Er wollte sie ursprünglich überraschen und zur Frühstückspause auf einen kleinen Imbiss einladen.

      Yasmin hatte darum bitten müssen, sich auf einen der winzigen Stühle für Kinder im Vorschulalter setzen zu dürfen, hatte dann aber einen „normalen“ Stuhl bekommen, den Frau Larkin ihr aus ihrem Büro geholt hatte.

      Sie hatte ihren Sohn erst in den Armen gehalten, nachdem Andreas eingetroffen war. Alarmiert durch die Polizei, die zeitgleich mit ihm zusammen eintraf. Er war sofort von seiner Arbeitsstelle aufgebrochen und kümmerte sich beherzt um seine jetzt hemmungslos weinende und verstörte Frau. Wie schon so oft zuvor, war auch damals Yasmins Handlungsfähigkeit stark eingeschränkt gewesen. Ihr Selbstbewusstsein war ohne ihren Mann kaum nennenswert vorhanden. Es fiel ihr einfach schwer Entscheidungen zu treffen, und die Situation hatte sie mit Recht völlig überfordert.

      Im Allgemeinen war es ohnehin so, dass Ideen und Wünsche mit Andreas abgesprochen und beratschlagt wurden. Sie fanden immer gemeinsam den besten Weg.

      So war es immer gewesen. Grotesk, dass ein so wohlwollender Versuch, ihrem Sohn ein solches, „Miteinander Kooperieren“ zu vermitteln, nun zu einer bitteren Tragödie geführt hatte.

      Das einzig ansatzweise erfreuliche aus ihrer Sicht an jenem Tag war, dass die Eltern von Matthias nicht im Kinderhort aufgetaucht waren. Sie hatten sich direkt auf den Weg ins Krankenhaus gemacht. Nachdem Claudia Sie erreicht und von einem „Unfall“ gesprochen hatte, wurde direkt nachgefragt was nun passieren würde und:

      „Ja natürlich, der Rettungswagen ist alarmiert“ war die Antwort der Erzieherin gewesen.

      Sie trafen sogar zwei Minuten vor ihrem Sohn in der Ambulanz ein.

      Etwa zur selben Zeit lenkte Andreas den Jeep Grand Cherokee auf den Hof der kirchlich/staatlichen Einrichtung St. Marien-Kinderhort.

      Als sie nach beinahe einer Stunde, nach Befragungen der Polizei und anstrengenden, aber misslungenen Versuchen, ihrem Sohn auch nur ein einziges Wort zu entlocken, nach Hause kamen, ahnte keiner der Familie Zielke, dass keiner von ihnen den Hort kein weiteres Mal betreten würde.

      Kapitel 3

      Drei

      Sieben Jahre waren seither vergangen. Nur allzu oft, wenn Yasmin sich einsam fühlte, so wie jetzt, schwebten ihre Gedanken in die Vergangenheit, und meist zurück zu diesem Tag.

      Sie konnte sich nicht daran erinnern, ob es geregnet hatte, oder ob damals die Sonne schien.

      Die Polizei hatte im Fall Erik natürlich nichts unternommen. Aber es war Matthias´s Eltern tatsächlich gelungen, das hieß, sie hatten es durch ihre Anwälte durchboxen lassen, dass die Zielkes eine horrende Geldstrafe, Schmerzensgeld zahlen mussten.

      Erik wurde als Dreijähriger zu einem Kinderpsychologen geschleppt; auf Anordnung des Gerichts; und musste dort an zehn Sitzungen teilnehmen. Auch diese Kosten trugen Andreas und Yasmin.

      Die Maßnahme der Begutachtung durch einen Psychotherapeuten führte letztlich nur dazu, dass dieser dem Jungen eine lediglich „leichte“ Konzentrationsschwäche nachwies, ihn als auffallend frech einstufte und dazu schrieb: „...was ihn im Allgemeinen als gesund ausweist...“

      Für die Anklage gegenüber Erik Eltern schien aber selbst ein so positives Gutachten keinen Wert zu haben. Es wurde eine gerichtliche Verfügung erwirkt, die tatsächlich einem Dreijährigen untersagte, den Kinderhort aufzusuchen. Natürlich könne er eine andere Tagesstätte besuchen. Doch „zum Wohle der anderen Kinder“ habe es eine von Matthias´s Eltern ins Leben gerufene Unterschriftenaktion bewirkt, dass: „Die Kleinen keiner Gefahr ausgesetzt werden dürfen, die vermeidbar ist!“

      Der nächste Kindergarten allerdings befand sich im Nachbarort, der gut vierzig Autominuten entfernt lag. Zu der Zeit, als Andreas und sie sich eben dieses Haus ausgesucht hatten, dass sie damals bewohnten, war die unmittelbare Nähe zum Hort eine der stärksten Kriterien dafür gewesen.

      Gegen diese Urteil gingen Yasmin und Andreas vehement an. Doch es wurde schnell bekannt, dass sich Erik nicht nur überhaupt falsch verhalten, sondern sich auch den denkbar schlechtesten Kandidaten für seine „Attacke“ ausgesucht hatte.

      Sein Vater war Anwalt.

      Sie hatten aufgrund der angespannten Situation, und auch weil in der kleinen Nachbarschaft eine üble Nachrede nicht lange auf sich warten ließ, beschlossen den Ort zu verlassen. Sie mussten umziehen. Rechtlich gesehen schafften sie sich damit eine neue Ausgangsposition, denn das Verbot einen bestimmten Kindergarten zu besuchen, bezog sich ja ohnehin nicht auf andere Einrichtungen.

      Damit galt es also damals nur den Bereich der Gemeinde Hollenstedt zu verlassen.

      Dennoch war es ein trauriger und alles andere als leichter Schritt. Besonders Rebecca, damals gerade neun geworden, wollte nicht so recht einsehen, warum sie nun plötzlich ihren Freundinnen und Schulkameraden Lebewohl sagen sollte.

      Das schon immer eher zurückhaltende und schüchterne Mädchen war für etliche Wochen noch ruhiger geworden. Sie hatte sich nach dem Umzug ins neue Haus in Rosengarten eingeigelt und wirkte, auch ihren Eltern gegenüber, sehr verschlossen.

      Sie waren mitten im Sommer umgezogen, so dass es in die Zeit der Schulferien fiel.

      Die Kinder sollten sich erst einmal in ihrer Freizeit an die neue Umgebung gewöhnen.

      Als in den Tagen nach dem Vorfall damals bekannt geworden war, dass sich Matthias kurzfristig sogar in Lebensgefahr befunden hatte, hatten Herr und Frau Kröger,- seine Eltern, besagte Lawine der Missgunst losgetreten und das Verfahren sowie die Hetzkampagne in Kreisen anderer Eltern in Gang gebracht.

      Nichts war leichter als das Misstrauen anderer mit noch mehr Misstrauen zu füttern.

      Der Junge musste heute, wie Erik auch, etwa acht oder neun Jahre alt sein. Sie hatte noch in besagtem Sommer von erbosten Nachbarn, die sie im Supermarkt traf erfahren: „Er wird für den Rest seines Lebens auf einem Auge blind bleiben!“

      Der Kleine tat Yasmin unendlich leid, aber sie hatte ihn seit dem Ortswechsel nicht wieder zu Gesicht bekommen.

      Jetzt verfolgte er sie ab und an in Erinnerungen, denen sie schon so viele Jahre nicht entfliehen konnte.

      Wie heute.

      Erik hatte damals schnell wieder zu seiner alten Form zurückgefunden, er war halt, und blieb ein dickköpfiger, frecher Bursche. Die Katharsis nach dem Schock im Kindergarten hatte nicht lange vorgehalten. Was er da angerichtet hatte, konnte ein Kind seines Alters einfach nicht in vollem Maße begreifen.

      Der Psychologe hatte den Eltern den Rat mit auf den Weg gegeben, „Es“ dabei zu belassen. Sie sollten dem Heranwachsenden schlicht und einfach ein liebevolles Zuhause bieten, wo auch immer das in Zukunft sein möge.

      Andreas hatte genau diesen Ratschlag in die Tat umgesetzt; die beiden verbrachten die ersten Wochen nach dem Einzug ins neue Haus, das Andreas zur Gänze aus Ersparnissen seiner verstorbenen Eltern und eigenen Rücklagen finanziert hatte, beinahe jede freie Minute miteinander.

      Erik war dabei, als Andreas den Teich anlegte, er baute dem Jungen ein kleines eigenes Baumhaus und sie spielten, wann immer das Wetter es zuließ, draußen im Garten.

      Es war stets herrlich Vater und Sohn in jenen Tagen, bei einigermaßen gutem Wetter, mit Wollmütze und Schal, in dicke Winterjacken gehüllt auf dem verschneiten Rasen Fußball spielen zu sehen.