Dennis Herzog

Kinderspiel


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ein halbes Jahr war vergangen, doch für Yasmin bedeutete jede Minute eine Ewigkeit in Einsamkeit.

      Täglich schwankte sie zwischen Trauer und Freude, in Gedanken an ihren wundervollen Mann. Er hatte es geliebt stundenlang im Garten zu arbeiten, wühlte im Unkraut, setzte Bäume, stutzte Büsche und kümmerte sich beherzt um Blumen und die kleine Teichanlage, die sein ganzer Stolz war.

      Seine schier unerschöpfliche Energie nutzte der stattliche Mann in beinahe jeder freien Minute, indem er entweder seine Freizeit für die beiden Kinder zu opfern bereit war, oder sich voll und ganz für seinen Garten hergab.

      Was nicht etwa hieß, dass Yasmin selbst dabei zu kurz gekommen wäre. Nein. Die Abende, wenn Rebecca und Erik im Bett waren, wenn die Sonne hinter den Hügeln verschwand, diese Zeit gehörte einzig ihrer Liebe.

      An so manchen Tagen hatte sie das Gefühl gehabt die wohl glücklichste Frau der Welt sein zu müssen. Weil sie einen Menschen wie Andreas zum Partner hatte.

      Warum nur? Wie hatte Gott zulassen können, dass ihr und ihren Kindern dieser wunderbarste aller Menschen genommen worden war?

      Den zuvor erlebten Traum zu erklären, die verschrobenen Bilder in Zusammenhang zu bringen, fiel ihr nicht einmal schwer: Es war die Leere in ihr, die ihr aufgezeigt wurde. Die Lücke, die entstanden war, durch den Tod ihres Mannes. Sie manifestierte in ihren Träumen ihre Einsamkeit mit dem Fehlen aller Dinge! Aller Notwendigkeiten. Obgleich sie die Meinung vertrat, dass es nicht einen einzigen, - und sei er noch so kostbar, - Gegenstand geben konnte, der jemals einen Menschen zu ersetzen vermochte.

      Ganz besonders nicht diesen Einen. Schrecklich und unmöglich jemals zu verkraften, dass alles was sie geteilt hatten, nun ihr allein überlassen sein sollte. So eingespielt, so vertraut waren beide im Umgang mit einander gewesen. Andreas hatte es fertiggebracht sich zeitweise buchstäblich „blind und taub“ auf sie zu verlassen.

      So war es in gegenseitigem Vertrauen immer gewesen, und niemals war einer von ihnen vom jeweils anderen enttäuscht worden.

      Wie beinahe täglich, liefen Yasmin jetzt warme Tränen die Wangen herab, sie wischte sie nicht weg, ließ wie immer ihren Gefühlen freien Lauf.

      Jedenfalls, wenn sie alleine war. Vor Rebecca kam es nur selten vor. Und in Gegenwart von Erik hielt sie sich generell tapfer zurück, mimte die Unerschütterliche.

      Ihr Make-up konnte nicht verlaufen, sie trug ja keines, tat dies ohnehin beinahe nie.

      Andreas hatte sie so immer am schönsten gefunden, wenn sie sich natürlich gab.

      Unzählige Male hatte er mit stets aufrichtiger Miene verkündet: „Du bist am herrlichsten anzusehen, wenn du gerade aufgewacht bist!“

      Es fand sich somit auch heute kein geeigneter Grund, daran jetzt etwas ändern zu wollen.

      Er hatte sie geliebt, so wie sie war. So wie sie ihn geliebt hatte. Dazu bedurfte es keiner Maskerade, hatte es nie.

      Langsam wagte sie es, sich in sitzende Position aufzurichten. Wenn sie so dasaß konnte sie beinahe den groß gewachsenen, attraktiven Mann dort draußen stehen sehen. Andi hatte oft bei schönem Wetter mit freiem Oberkörper gearbeitet.

      Er trug dabei immer seine alte, zerrissene Jeans, die nicht viel länger war, als ein Minirock. Das Innenfutter der Seitentaschen nach außen gekehrt, damit es nicht albern unter dem Saum herauslugte, was nur zur Folge hatte, noch alberner zu wirken.

      Sie hatte ihn so sehr geliebt! Sie tat es noch immer!

      So oft hatte es ihr genügt, ihm einfach nur zuzusehen, wenn sich seine Muskeln unter der verschwitzten Haut abzeichneten. Die verklebten, leicht lockigen Haare fielen ihm in die Stirn. Hals Brust mit feuchter Erde beschmiert. Er trug ein auffälliges Tattoo auf dem rechten Schulterblatt. Es zeigte einen grinsenden Harlekin, der seine Haare zu wilden Zöpfen geflochten, dem Betrachter den Rücken zu wand, aber mit stechendem Blick, über die Schulter zurückblickte.

      Nicht selten hatte Yasmin ihm gesagt, wie gut ihrer Meinung nach, diese Figur zu seinem Charakter passte. Er war oft am feixen und beinahe immer zu albernen Scherzen aufgelegt gewesen, was ihm besonders bei den Kindern, als sie jünger gewesen waren, viel Sympathie eingebracht hatte.

      Früher einmal, am Anfang ihrer Beziehung, aber auch danach, besonders in der Zeit ihrer ersten Schwangerschaft, hatte sie sich immerzu gefragt, wie er nur darauf gekommen war gerade sie zu wählen.

      Oftmals hatte sie die Befürchtung gehabt, sie allein könne so viel Glück gar nicht verdient haben, - oder es ertragen.

      Andreas war schon immer einer der beliebtesten und viel umschwärmten Typen gewesen. Während der Schulzeit, in der sie seiner zum ersten Mal gewahr wurde, hatten sie anfangs kaum mit einander zu tun. Darüber hinaus hätte er unzählige Liebschaften und so manches schöne Mädchen haben können. Doch Andreas hatte sich für Yasmin entschieden.

      Sie selbst hatte nie den Mut besessen sich an ihn heran zu wagen, - er war es gewesen, der ihr eines Tages entgegentrat und sie einfach einlud mit ihm auszugehen.

      Warum sollte dieser „Star“ der Schule nur mit einem unscheinbaren Mädchen, wie sie es war, verkehren? Sie hatte sich natürlich nicht getraut ihm eine solche Frage zu stellen. War so überglücklich gewesen. Und doch anfangs sehr besorgt; der junge Mann könne sich vielleicht einen Scherz mit ihr erlaubt haben. Oder gar schlimmer noch, - eine blöde Wette, wie sie Jungen in Post-pubertärem Alter gerne machten, verloren haben. Die unangenehme Konsequenz daraus könnte jetzt das „unfreiwillige“ Treffen mit einer Grauen Maus vom Schulhof sein.

      Damit hatte sie allerdings so falsch gelegen, wie es nur sein konnte. Ihre Befürchtungen hatten sich nicht nur sprichwörtlich, sondern real in „Wohlgefallen“ aufgelöst. All ihre Zweifel und Befürchtungen, seine Einladung könne nicht aufrichtig sein waren völlig unbegründet. Sie hatten einen herrlichen Abend verlebt. Andreas war ein höflicher, zuvorkommender und vor allem witziger Zeitgenosse, der sich ernsthaft und redlich für sie interessiert hatte. Er hatte sich um sie bemüht!

      Es hatte keine volle Stunde gedauert, da war Yasmins Herz für immer vergeben, und sie hatte Andi darin eingeschlossen. Ein Liebesgefängnis, - ohne Chance auf Bewährung.

      Damals war sie neunzehn, und er einundzwanzig Jahre alt gewesen. Der junge Mann stand kurz vor seinem Abitur. Sie hatte, mit dem selben Ziel, noch anderthalb Jahre Schulbank vor sich.

      Weder fand sich Yasmin zu dieser Zeit hübsch, noch hätte sie behauptet überhaupt bemerkenswert, oder gar interessant zu wirken. Ihrer Meinung nach war sie ein schlichtes, eher unscheinbares Mädchen.

      Doch dieser eine Junge, dem so viele hübsche Mädchen, mit ihren blonden Mähnen, langen Beinen und üppigen Brüsten, zu imponieren versuchten, ihm heimlich Briefe zusteckten, oder einfach plumpe Anmachen starteten, wies sie alle ab. Dieser außergewöhnliche Mensch hatte entschieden, dass ihm das langweilige, kleine Mädchen, mit den kurzen, braunen Haaren und der Brille besser gefiel. Keine blauen Augen, ein unansehnliches braun, fand sie.

      Keine großen Brüste, mit einem Meter vierundsechzig um einiges kleiner als die meisten Schulkameradinnen.

      Doch nie hatte er sie, wie andere es taten, spöttisch betrachtet.

      Auch noch zwei Tage nach ihrem ersten Date, als er zu ihr gekommen war und fragte, ob sie nicht vielleicht zusammen ins Kino gehen könnten, kam es ihr noch immer so vor, als habe er tatsächlich nicht gewusst, dass ihre Antwort in keinem Falle „Nein“ hätte lauten können.

      Sie hatte kaum zu atmen gewagt, als er noch anfügte: „Oder möchtest Du Dich lieber bei einem leckeren Eis mit mir zusammen setzen und reden?“

      Er hatte zuvor mit ein paar seiner Freunde während der großen Pause auf dem Schulhof gestanden, zu denen er nun zurück