Dennis Herzog

Kinderspiel


Скачать книгу

jauchzend und jubelnd in die Luft gesprungen, so sehr hatte sie sich damals gefreut.

      Sie erinnerte sich daran, dass jemand, - sie wusste nicht mehr wer -, mal gesagt hatte:

      „Es kann genauso sehr erdrückend sein, für jemanden Liebe zu empfinden, wie das empfinden von Trauer.“ Dieser Satz klang für sie noch immer so seltsam, so unrichtig, und unvollständig. Und doch hatte sie ungewollt erkennen müssen, welch unwiderlegbare Wahrheit sich in diesen wenigen Worten verbarg.

      Die Liebe kommt ganz plötzlich, sie überrascht und wird willkommen geheißen. Du stehst einfach nur da, du fühlst und fühlst. Du siehst nur noch das Großartige, siehst in der Welt nur noch die Schönheit. Du lässt keinen noch so geringen Gedanken an etwas Negatives zu. Du bist überwältigt von der Liebe. Doch dieses Gefühl umgibt dich gleichzeitig, wie ein enger Käfig. Es nimmt dir jede Chance an etwas anderes zu denken, oder gar nur zu glauben, als an die Liebe.

      Die Trauer hingegen, sie ist schlimm, sie engt dich ebenso ein, aber sie ist wie eine immer wieder kehrende Stimme. Sie sagt dir immerzu, dass es dir schlecht geht. Es gelingt dir nicht diese Gefühle der Trauer zu verjagen, plötzlich sind sie richtig, sie werden dir wichtig, obgleich sie dich bedrücken. Die Trauer schleicht sich ein, wie ein nerviger Vertreter, der unangemeldet herein schneit und mit unsinnigen Angeboten lockt, - er ist nicht wirklich böse, nicht absichtlich -, doch du erkennst auch, dass er nicht wirklich an deinem Wohlergehen interessiert ist, sondern vielmehr nur seinen eigenen Vorteil zu erringen versucht.

      Dennoch wirst du ihn nicht los, hältst an seinen Worten fest, sie ergeben sogar irgendwie noch einen Sinn, denn die Trauer ist auch eine Art zu fliehen: Die Flucht davor, zu wissen!

      Dieser unterschiedlichen Gefühlen Herr zu werden, die sich doch so ähneln sollten. Zugleich all die damit einhergehenden Eindrücke und Empfindungen zu verarbeiten, war beinahe unerträglich.

      Sie schwelgte in schönen Erinnerungen an eine wunderbare Zeit, empfand eine tiefe ehrliche, ausfüllende Liebe. Zugleich überwältigte sie die Trauer, legte sie in Ketten, grinste sie mit schiefen Zähnen an, um zu verkünden: „All deine Liebe war einmal! Sie ist nicht mehr! Wird nicht mehr sein!“

      Zwei der elementarsten Gefühle, die es gibt, prallen mit Wucht aufeinander. Sie zehren all deine Kräfte auf. Nach und nach.

      Yasmin bemühte sich aus ihrer melancholischen Tragträumerei aufzutauchen, zwang sich mit innerer Gewalt in die echte Welt zurück.

      Die Umgebung wahrzunehmen, wie sie nun einmal war, wollte ihr nicht recht gelingen. Die Triste Beklommenheit blieb ihr erhalten, hatte sich an ihr festgesaugt, wie einer dieser kleinen Putzer-fische am Leib eines Haies oder Rochens.

      Wie sollte man es denn auch jemals lernen, zu verkraften, dass einem das Wichtigste genommen worden war? Wer konnte einem helfen, der gezwungen worden war, einen geliebten Menschen gehen zu lassen? Andreas Zeit war noch nicht gekommen gewesen! Keine höhere Macht hatte entschieden, er habe seine „Aufgabe“ in dieser Welt erledigt. Dennoch war er unwiderruflich fort, kam niemals wieder.

      Die Endgültigkeit, diese eine Tatsache, die die weder er noch sie, noch sonst irgendjemand hatte voraussehen können, diese schiere Ungerechtigkeit, all das machte sie mürbe. Es nagte an ihrer Seele.

      Augenscheinlich war, dass Yasmin, gäbe es ihre Kinder nicht, sie längst jeden Lebenswillen verloren hätte. Es wäre ihr nicht weiter möglich gewesen einen Grund dafür finden zu sollen, fortan auf dieser Welt zu existieren.

      „Die Zeit heilt alle Wunden.“ Sagt man.

      Doch die Wirklichkeit und all Jene, die diese zu erkennen gezwungen sind, strafen derart Phrasen mit Gelächter und entlarven solch Wortgeflecht als das, was es ist: „Lüge!“

      Ihr Blick wanderte zur Uhr im angrenzenden Wohnzimmer, das sich natürlich nicht unbelebt und leer darbot, sondern einfach aussah wie immer. Wie viele andere Räume in Häusern dieser Gegend auch. Es beherbergte einen kitschigen, viel zu bunten Teppich, eine dreiteilige Sitzgarnitur und natürlich eine Ansammlung von Bildern und Schnickschnack, verteilt an Wänden und auf diversen Ablageflächen der Schränke und Regale.

      Auf dem schlichten, hölzernen Tisch lagen unordentlich eine Fernsehzeitung, Schalen mit Knabberzeug und die Fernbedienungen mehrerer Audio- und Videogeräte herum.

      Neben der Leidenschaft seines Grünen Daumens hatte Andreas Filme geliebt.

      Es gab im Raum eine Dolby Surround Anlage und eine sündhaft teure DVD/BlueRay/Fernsehapparatur in monströsem Ausmaß.

      Die Zeiger der Wanduhr, die designet war wie die Armbanduhr eines riesigen Zyklopen, etwa aus der Odysseus-Saga, waren auf Viertel vor Zwei vorgerückt.

      Die Mittagszeit war verstrichen, während sie lediglich ihren Gefühlen und einigen Erinnerungen nachgehangen hatte.

      Mit verheulten Gesicht zwar, aber innerlich gefasst und mit gelassener Miene schritt sie in die Küche. Noch einmal fühlte sie sich einen winzigen Augenblick an die Erlebnisse im Traum erinnert und widerstand dem Impuls das Haus zu durchlaufen. Sie würde alles so vorfinden wie es sein sollte, sie war wach und verdrängte die letzten Zweifel an diese Tatsache.

      Bald würden die Kinder aus der Schule kommen. Sie sollte sich langsam daran machen, das Mittagessen herzurichten. Ein erneutes weiches Lächeln umspielte ihre Lippen, als ihr kurz der Gedanke kam, vielleicht die Zubereitung eines Rollbratens mit Kartoffeln in angriff zu nehmen.

      Von ihren Alpträumen ließ sich Yasmin nicht mehr lange beeindrucken. Es war heute zwar ungewöhnlich emotional abgelaufen, doch anfangs, in den ersten Tagen nach Andreas´s Tod war es schlimmer gewesen.

      Als die Träume derzeit begannen, hatte sie kaum gewagt sich überhaupt schlafen zu legen. Aber auch die seltsamsten Phantasiegebilde und die grausamsten Monster verloren ihre Schreckenswirkung, wenn sie jede Nacht aufs Neue in Erscheinung traten.

      Während Yasmin den ersten Eierpfannkuchen wendete, - sie hatte sich natürlich gegen die Realisierung ihres „Festmahls“ aus dem Traum entschieden, da ihr ohnehin die benötigte Zeit fehlen würde, - hoffte sie, Erik würde heute ohne Blessuren oder schrammen heimkommen.

      Erst letzte Woche hatte sie eine kleine Platzwunde und ein blaues Auge verarzten müssen.

      In Folge dessen war sie am kommenden Montag zu einem Gespräch mit der Rektorin der Schule eingeladen. Der gerade einmal zehnjährige Junge hatte sich nach dem Tod seines Vaters zu einem kleinen Rowdy entwickelt. Im Laufe nur eines Monats war er ganze vier mal mit einigen seiner Mitschülern aneinander geraten. Zur Rede gestellt, und auf die Frage hin, worum es bei derart ausufernden Streitigkeiten eigentlich gegangen sei, bekam Yasmin lediglich ein Schulterzucken als Antwort.

      Sicher hatte man auch früher kaum behaupten können, der Kleine sei ein durch und durch lieber Kerl gewesen. Nein. Schon im Säuglingsalter war in Erik der Trotzkopf durchgedrungen. Sie hatte lange Zeit nicht geglaubt, dass es andere Mütter geben konnte, die es so schwer gehabt haben konnten. Ein Baby zu so etwas Selbstverständlichem wie sich stillen zu lassen, überreden, ja gar zwingen zu müssen, war doch wirklich schon recht eigenartig.

      Der Knirps hatte sich vehement gewehrt und sogar gerne mal zugebissen, was an so empfindlichen Körperteilen, wie Brustwarzen, gerade nach der Geburt, ganz und gar kein Spaß war. Viele Male war es vor gekommen, dass man ihm gerade die Windel gewechselt hatte, da war diese im nächsten Moment wieder prall gefüllt.

      Klar wurde Andi nicht müde immer und immer wieder derart Vorkommnisse als „unabsichtlich“ zu deklarieren. Was konnte denn ein Säugling auch schon für Absichten haben? Es wurde also entweder belächelt, oder stillschweigend hingenommen, dass der zweite Spross der Familie Zielke eben etwas mehr Arbeit machte, als die kleine Rebecca in ihrer Zeit.

      Unvermittelt schweiften Yasmins Gedanken abermals ab. Verfingen sich im Geflecht der Vergangenheit.