Anna Staub

Die neue Schulmeisterin


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      Charly musste plötzlich sehr heftig schlucken. Natürlich, sie war ja so dumm! Warum war ihr das nicht vorher aufgefallen? Beziehungsweise warum war sie nicht in der Lage gewesen, den entsprechenden Schluss daraus zu ziehen? Bill hatte einen goldenen Ring getragen. Er war verheiratet… Mit Steffiney Sullivan…

      Aus einem ihr völlig unerfindlichen Grund war Charlotte von dieser Erkenntnis enttäuscht. Dabei mochte sie Mrs. Sullivan sehr gern. Und diesen Bill hatte sie gerade einmal gesehen. Nein, es wäre weder angebracht noch sinnvoll enttäuscht darüber zu sein! Und mit diesem festen Vorsatz versuchte Miss Van Halen endlich einzuschlafen.

      13 blank geschrubbte Gesichter starrten sie am nächsten Morgen teilweise neugierig, teilweise herausfordernd an. Doch Charlotte Van Halen war wild entschlossen, sie alle mit einem fröhlichen Lächeln auf ihre Seite zu ziehen. Nachdem sie ihre neuen Schützlinge begrüßt hatte, ließ sie jeden Einzelnen aufstehen und etwas über sich erzählen. Die Kinder schienen zwar befremdet von dieser Aufgabe, doch ihre neue Lehrerin wollte jeden Einzelnen kennenlernen. Von den Kleinsten, die gerade mal sechs Jahre alt waren, bis hinauf zu den Ältesten, die bereits auf die 16 zugingen. Und so kam Charlotte in den Genuss der seltsamsten Erzählungen, denn die Kinder hatten die verschiedensten Ansichten darüber, was sie ihrer Lehrerin über sich erzählen sollten. Wie zum Beispiel der sechsjährige Frank Brunsberger, der heute seinen ersten Schultag hatte. „Ich war ganz aufgeregt deswegen, Miss. Und deswegen hab ich heute Nacht gekotzt, aber jetzt geht’s mir schon wieder ganz gut!“

      Miss Charly konnte sich gerade noch davon abhalten in ein herzliches Lachen auszubrechen, um dem kleinen Mann nicht das Gefühl zu geben, sie würde sich über ihn lustig machen. Sie erklärte ihm lediglich, dass man nicht gekotzt sagte, sondern sich übergeben. Natürlich in so vielen Worten, dass das Kind unmöglich verstehen konnte, was die neue Frau Lehrerin ihm denn sagen wollte.

      Der seltsame Wunsch jeden von ihnen persönlich kennenzulernen, überrumpelte die Kinder so sehr, dass sie sich während der ersten Stunde überraschend ruhig verhielten. Das Staunen ihrer Schützlinge sollte allerdings noch weiter steigen. Am Ende dieser Vorstellungsrunde fiel Charly siedend heiß ein, dass sie jetzt zwar jeden ihrer Schützlinge kannte, aber sie sich immer noch nicht vorgestellt hatte. Und so tat sie es den Kindern am Ende gleich und berichtete, dass sie Charlotte Van Halen hieß und gerade 21 Jahre alt geworden war. Dies hier sei ihre erste Stelle als Lehrerin, und wenn sie nicht unterrichtete, dann las sie für ihr Leben gern und malte. Manchmal saß sie auch abends auf der Veranda und beobachtete einfach die Sterne, weil sie so schön hell leuchteten.

      Nachdem die kleine Vorstellungsrunde also abgeschlossen war, bat Miss Van Halen die Kinder doch etwas über ihre frühere Lehrerin zu erzählen und wie der Unterricht dort vonstattengegangen war. Es folgte ein etwas betretenes Schweigen, da die gesamte Elternschaft ihren Zöglingen eingebläut hatte, ja nicht schlecht über Phillydia Frocker zu sprechen. So etwas gehörte sich nicht. Zumindest nicht, solange man nicht wusste, aus welchem Holz die neue Lehrerin geschnitzt war.

      Es war schließlich einer der etwas älteren Jungen, Benjamin Spencer, der sich über das elterliche Gebot hinwegsetzte: „Naja, Miss Van Halen, da gibt es nicht viel zu sagen. Wenn die Frau nen Raum betrat, dann streifte einen immer ein kalter Hauch. Als hätte der Tod grad mal vorbei geschaut.“

      Diese dramatische, aber doch so schnodderig vorgebrachte Beschreibung sorgte dafür, dass Charlotte kurz hinter ihrem Taschentuch verschwinden musste, um das Lachen als einen herzhaften Nieser zu tarnen. Aber diese Wortmeldung überzeugte sie davon, das Thema Phyllidia Frocker vorerst nicht mehr anzuschneiden.

      Sie warf einen Blick auf die Uhr an der Wand und musste feststellen, dass es schon auf 12 Uhr zuging. Nun würde es auch nichts mehr bringen irgendwelche Rechenübungen mit den Kindern zu machen.

      „Na gut, dann… Ich kann selten lange still sitzen“, lenkte Miss Charly gutgelaunt von diesem Bekenntnis ab und schaute strahlend in die Runde. Sie hatte eine Idee und da der Großteil ihrer Klasse aus Kindern zwischen sechs und zwölf bestand, würde sie wahrscheinlich auch Anklang finden. „Was haltet ihr davon, wenn wir ein wenig hinausgehen und Verstecken spielen?“

      Der Jubel war groß und schneller als die neue Lehrerin schauen konnte, waren ihre Schützlinge schon nach draußen gestürmt. Lediglich die drei Ältesten blieben mit langen Gesichtern sitzen. „Das ist sicher nicht ganz nach eurem Geschmack“, gab Miss Van Halen zu, als sie auf die zwei Jungen und das eine Mädchen zuging, die in der letzten Reihe saßen. „Ihr könnt gerne mit hinauskommen oder ich kann euch eine Rechenaufgabe geben, während ich mit den Kleinen spiele.“

      Bei so einem Angebot fiel die Entscheidung nicht allzu schwer und auch ihre drei ältesten Schüler schlossen sich ihr an.

      Charlotte teilte die Klasse in zwei Gruppen auf, von der eine sich verstecken und die andere suchen sollte und schon konnte es losgehen. Dachte sie zumindest. Eigentlich hatte sie vorgehabt, das Spiel von der Treppe, die zum Schulhaus hinaufführte, aus zu überwachen, doch unglücklicherweise hatte ihre Klasse eine ungerade Zahl. Lachend fügte sie sich schließlich in ihr Schicksal und schloss sich der Gruppe an, die sich verstecken sollte.

      Die Sucher hatten bereits angefangen zu zählen und der Großteil der Kinder war schon auf und davon, um sich zu verstecken, als Charlotte immer noch uninspiriert auf dem Rasen stand. Sie überlegte gerade, wo sie sich denn nun verstecken sollte, als plötzlich jemand an ihre Hand umfasste und hinter sich her zerrte. Ein kleiner, dicklicher Junge, der sich als Jimmy Paltrum vorgestellt hatte, wenn sie sich recht erinnerte.

      „Kommen Se, Miss. Ich weiß nen tollen Platz zum Verstecken, da finden uns die anderen nie!“ Und so landete Charly Van Halen in einer mannshohen Höhle aus Brombeergestrüpp, die direkt an einem schmalen Weg lag, der hinter der Schule entlang nach Green Hollow hineinführte.

      Die Höhle war in der Tat nicht nur ein gutes Versteck und hatte einen weiteren, nicht zu unterschätzenden Vorteil. Jimmy konnte sich die Wartezeit bis zum Gefundenwerden damit vertreiben, dass er sich den Bauch mit Brom- und Himbeeren vollschlug, die dort in Hülle und Fülle wuchsen. Eine Zeit lang hielt Charly mit ihrem unersättlichen Schüler mit, doch nach einer Weile erhob sie sich wieder. „Komm Jimmy, ich denke, wir sollten zurückgehen. Dein Versteck ist anscheinend so gut, dass uns hier niemand findet.“

      Zwar murrte ihr kleiner Gefährte ein bisschen, gab aber schließlich nach und folgte seiner Lehrerin hinaus ins Freie. Was Charlotte nicht bemerkt hatte, war die Tatsache, dass sich im Laufen ein Teil ihrer Locken aus der Hochsteckfrisur gelöst hatten und nun frei auf ihren Rücken hingen. Und so kam es, dass sich einige dicke Haarsträhnen in dem Brombeergestrüpp verfingen, als Charly gerade durch den Höhleneingang schritt und mit dem Kopf gegen einen der dicken Äste stieß. Sie bemerkte es erst, als ein scharfer Schmerz durch ihren Kopf zog und sie zwang, mit einem Ruck stehen zu bleiben. Miss Charly schossen augenblicklich die Tränen in die Augen, als das Gestrüpp so unsanft an ihren Haaren zerrte. Hektisch griff sie mit der rechten Hand nach ihrer Frisur, während sie sich fragte, was sie nun schon wieder angestellt hatte.

      „Ach verflixt! Jimmy, warte! Du musst mir helfen, ich hab mich irgendwie verhakt!“, rief sie ihrem Schützling nach, der ein Stück weiter den Weg entlang trottete. Jimmy kam ihrer Bitte auch augenblicklich nach, aber selbst das brachte Miss Van Halen nicht weiter. Der kleine Mann, der ihr gerade bis zur Taille reichte, konnte ihr bei ihrem Problem auch nicht behilflich sein. Charlotte hatte bereits aufrecht gestanden, als sie mit ihrer halb aufgelösten Frisur in die Ranken geraten war.

      Und während Jimmy sie mit großen Augen anstarrte, griff Charly mit beiden Händen nach ihrem Hinterkopf, um sich selbst aus der misslichen Lage zu befreien. Mit dem Ergebnis, dass sie hinterher noch weniger vom Fleck kam als vorher.

      Mr. Mortimer, einer ihrer ehemaligen Verehrer, hatte einmal gesagt, dass sie eine wandelnde Katastrophe wäre, die Missgeschicke anzog, wie Pferdeäpfel Fliegen. Das war kein besonders schmeichelnder Vergleich gewesen und selbst Miss Charly hatte sich schwergetan, darüber nicht ärgerlich zu sein, aber so langsam war sie gewillt, Mr. Mortimer Recht zu geben.

      Was sollte sie denn jetzt machen? Jimmy losschicken, damit er jemanden holte, der sie aus ihrer misslichen Lage befreite?