Geri Schnell / Dieter Thom

Der Drang nach Freiheit


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beschäftigt, als sie Siggi in die Strasse einbiegen sah. Ein grosser Stein fiel ihr vom Herzen.

      Als Siggi vom Fahrrad stieg, fiel sie ihm um den Hals und küsste ihn.

      «Wie war’s?», fragte sie, «komm rein ich wärme das Essen auf.»

      «Es war gar nicht so schlimm», erklärte Siggi auf dem Weg zur Küche, «ja, es war anstrengend und der Aufseher schreit den ganzen Tag herum. Aber die andern Arbeiter, die sind echte Kumpels. Wir hatten uns gegenseitig Mut gemacht, wir werden es gemeinsam durchstehen und den Aufseher werden wir auch noch in den Griff bekommen, aber noch nicht jetzt, der soll sich erst abreagieren.»

      «Da bin ich aber froh», flüsterte Maria ihrem Mann ins Ohr, «ich hatte den ganzen Tag Angst, dass du nicht mehr zurückkommst. Es sind so viele im Gefängnis gelandet.»

      «Ich denke, wenn wir uns ruhig verhalten und hart arbeiten, lassen sie uns in Ruhe. Das ist die Meinung derer, die schon länger dort arbeiten», meinte Siggi, «die sind froh, wenn sie günstige Arbeiter für den Unterhalt der Reichsbahn haben, so können sie Kosten sparen und den Fünfjahresplan erfüllen, denn ohne eine funktionierende Bahn würde es auch in Sozialstaat nicht gehen.»

      «Sei bloss vorsichtig! Lieber hart arbeiten und wenig verdienen, als im Gefängnis sitzen, die sind da nicht zimperlich.»

      «Wir werden das schon durchstehen», erklärte Siggi und drückte Maria fest an sich, «zur Not würde uns Opa sicher nicht im Stich lassen.»

      «Ich denke auch», bestätigte Maria, «lieber etwas weniger Luxus, dafür kann man sich im Spiegel noch in die Augen sehen, ohne dass man sich schämen muss. Vielleicht ändern sich die Zeiten wieder, du erinnerst dich wie das mit den Braunen war, plötzlich waren sie weg.»

      «Schon, aber das kann lange dauern», bestätigte Siggi, «entschuldige, aber ich bin müde und muss mich hinlegen. Ich will nur noch schlafen.»

      «Das verstehe ich», antwortete Maria, «geh schon ins Bett, ich mach noch schnell deine Stulle, dann komme ich nach.»

      Als Maria eine Viertelstunde später ins Schlafzimmer kam, schlief Siggi tief und fest, Wenigstens schlafen konnte er noch. Mit einem reinen Gewissen schlief man besser, dachte sie für sich und legte sich zu ihm in Bett um ebenfalls sofort einzuschlafen.

      Für die Eltern von Dieter wurde es ein harter Spätsommer. Die beiden Buben mussten für einen guten Klassenabschluss arbeiten. Natürlich hatte sich der Stellenwechsel von Siggi im Quartier herumgesprochen. Die Leute bemühten sich jedoch, weiter so natürlich wie möglich mit Familie Thom umzugehen. Die Arbeit bei der Reichsbahn war schliesslich ebenfalls wichtig. Geschätzt wurde auch, dass Siggi sich mit den Privilegien die er als Zollbeamter hatte, nie aufspielte.

      Die Beurteilung von Frau Müller zeigte dann, dass Dieter ein guter und fleissiger Schüler war. Er war einer der Besten in der Klasse.

      Dann gab es endlich Schulferien. Dieter konnte sich aufs Arbeiten konzentrieren. Vati war froh, wenn er sich eigenes Geld verdienen konnte. Im Herbst gab es nebst dem Sammeln von Flaschen noch die Möglichkeit, aufs Land zu den Bauern zu fahren. Dort gab es immer Arbeit. Sie bekamen kein Geld, aber es gab gutes Essen.

      Die neue Lehrerin

      Im September begann das neue Schuljahr. Dieter war gespannt auf seine neue Lehrerin. Die Klasse sass bereits auf ihren Plätzen, als Frau Doppeeser das Zimmer betrat. Schon das Eintreten ins Zimmer verriet den Kindern, dass sie es nicht mehr mit der lieben Frau Müller zu tun hatten.

      «Guten Tag!», war eher ein sanftes Brüllen, als eine freundliche Begrüssung, «hinsetzen. – Mein Name ist Frau Doppeeser!»

      Dann geschah vorerst nichts mehr. Sie schien eine Liste zu studieren. Natürlich nutzen die Pause, einige Buben zu einem kurzen Schwatz.

      «Ruhe! – Wer war das?»

      Niemand meldet sich. Alle schauten vor sich aufs Pult. Frau Doppeeser hatte keine Möglichkeit herauszufinden wer es war. Sie hatte die Liste studiert und die Stimmen der Schüler kannte sie noch nicht. Wieder entstand eine Pause. Diesmal wagte es niemand, die Stille zu durchbrechen.

      «Jeder sagt mir seinen Namen – Du fängst an.»

      Sie zeigte auf die Schülerin vorne links. Jeder Schüler stand kurz auf und sagte seinen Namen. Frau Doppeeser machte sich auf der Liste Notizen.

      «Dieter Thom», nannte Dieter seinen Namen.

      «Ah – Du bist also der Sohn des Landesverräters!», lautete der Kommentar von Frau Doppeeser.

      Er hatte sofort verstanden, alle würden unter Frau Doppeeser leiden, aber Dieter noch stärker. Das zeigte sich schon in der ersten Unterrichtsstunde. Damit sie sich ein Bild über den Ausbildungsstand ihrer neuen Schüler machen konnte, stellt sie verschiedene Fragen. Dieter könnte sie alle beantworten, immer war ein anderer Schüler an der Reihe. Doch dann stellt sie eine Frage zu einem Thema, welches die Klasse noch nicht behandelt hatte und deshalb wusste kein Schüler die Antwort. Also fragte sie Dieter, der natürlich die Antwort ebenfalls nicht kannte.

      «Natürlich!», ergänzte sie schnippisch, «wie soll der Sohn eines Landesverräters so etwas wissen, beim Westfernsehen schauen lernt man so was nicht.»

      Endlich war der erste Schultag in der neuen Klasse überstanden.

      Die Schule wurde für Dieter zur Qual. Wann immer es Frau Doppeeser für angebracht hielt, schikanierte sie Dieter. Er konnte ihr gar nichts recht machen. Seine Leistungen sanken und bald war er soweit, dass er sich auch nicht darum scherte, ob Frau Doppeeser mit ihm zufrieden war oder nicht, es kam auf das Gleiche heraus. Er ärgerte während der Stunde seinen Banknachbar, was natürlich von Frau Doppeeser bemerkt wurde. Zur Strafe schickte sie ihn vor die Türe. Diesmal liess sie einen Spalt weit offen. Dieter schlich sich zur Türe und lauschte, von aussen dem Unterricht. Er bemerkte nicht, dass Frau Doppeeser hinter der Türe darauf gewartet hatte, dass er neugierig wurde.

      Als Dieter nahe genug bei der Türe stand, schlug sie diese mit voller Wucht zu, respektive an Dieters Kopf. Er blutete stark aus dem Ohr. Die andern Schüler mussten sich das Lachen verkneifen. Frau Doppeeser legte los und schimpfte mit Dieter, als sie sich etwas beruhigt hatte, schickte sie Dieter nach Hause.

      Zu Hause musste Dieter Vati erklären, wie er zu seinem blutigen Ohr kam. Vati beruhigte Dieter und meinte, er werde versuchen etwas gegen die Lehrerin zu unternehmen. Am nächsten Tag sprach er bei der Schuldirektion vor und erzählte was vorgefallen war.

      In der Schule änderte sich deshalb nichts. Frau Doppeeser schikanierte Dieter weiter, so oft sie konnte, allerdings achtete sie jetzt darauf, dass er sich nicht verletzte. Dieter konnte ihre uniformähnliche Kleidung nicht mehr ausstehen und hasste die Frau aus ganzem Herzen, was bei Frau Doppeeser mit dem gleichen Gefühl erwidert wurde.

      Die Leistungen von Dieter gingen massiv zurück.

      Allmählich beruhigte sich die Lage soweit, dass Dieter unter den andern Klassenkameraden einige Verbündete fand, dies, obwohl Frau Doppeeser auch seine Freunde schikanierte. In der Schule lernten sie nicht viel, doch an den schulfreien Tagen, da waren sie bei den Bauern und halfen ihnen beim Arbeiten. Diese Schulung war praxisnahe und brachte ihnen mehr, als der Unterricht bei Frau Doppeeser.

      Vati gefiel es in seiner neuen Stelle immer besser, er gewöhnte sich an die harte Arbeit, auch wenn er dadurch weniger bei der Familie sein konnte, als damals, als er noch beim Zoll arbeitete. Die andern Arbeiter in seiner Gruppe waren tolle Kollegen, auf die man sich verlassen konnte. Auch der Aufseher fühlte sich nun mehr als Führer einer Arbeitsgruppe. Dies war am Anfang nicht unbedingt zu spüren, er spielte sich eher als Gefängniswärter auf, doch nun zogen alle am gleichen Strick, sie wollten gute Arbeit abliefern, das war alles.

      Auch in der vierten Klasse hatte Dieter Frau Doppeeser als Klassenlehrerin. Irgendwie hatten sie sich so gefunden, dass sie miteinander umgehen konnten. Der grenzenlose Hass war auf beiden Seiten spürbar. Im Alltag begegneten sich die beiden mit Verachtung. Für Dieter leider mit