Mira Birkholz

Dolúrna


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Zweifel daran, dass sie auf einer förmlichen Anrede bestand.

      „Guten Tag, Mrs. MacFarlane“, sprach Connor, „wie schön Sie es hier haben!“

      „Ach was, schön“, wehrte sie mit einer abfälligen Handbewegung ab, „hier gibt es immer Arbeit! Hier hat man keine Zeit, unnütz in der Gegend herumzustehen und...“, unterbrach sie sich selbst.

      Connor schmunzelte und erklärte: „Ich habe mir den Garten angesehen. Ich werde auf der Wiese einige Bäume pflanzen. Ich hoffe, das stört Sie nicht.“

      „Das ist schön, nicht wahr, Mary!?“

      Über den Zaun hinweg knuffte Matthew seine Frau aufmunternd in die Seite, doch sie drehte sich unwirsch um.

      „Man sagt“, berichtete der Farmer, „vor sechstausend Jahren sei Schottland zu achtzig Prozent von Wäldern bedeckt gewesen! Leider wurden die meisten Bäume zum Heizen verbraucht und für den Schiffs- und Hausbau, so dass es zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts nur noch vier Prozent gewesen sein sollen. Stell dir vor, Connor“, freundschaftlich legte Matthew ihm die Hand auf den Arm, „die haben einfach alles abgeholzt!“ Er überlegte. „Na ja, wer will schon frieren?!“

      „Matthew, ich friere!“ Das war Marys Stichwort gewesen.

      „Dann geh‘ doch schon ins Haus“, schlug ihr Mann vor.

      „Ich werde mich noch etwas mit Connor unterhalten.“

      „Matthew!“ Drohend bohrte sich Marys Blick in seine Augen.

      „Du wolltest doch essen!“

      „Stimmt!“, gab er lachend zu. „Aber woher weißt du das? Dann hast du mich also die ganze Zeit rufen hören?!“

      Empört stemmte er seine dicklichen Arme in die ebenso dicklichen Hüften.

      „Ach, Schluss jetzt“, bestimmte seine Frau, packte ihn energisch am Ärmel und zog ihn von Connor fort. Mühsam stieg er über den Zaun zurück.

      „Auf Wiedersehen, Connor!“, rief Matthew über die Schulter, während er unbeholfen hinter seiner resoluten Frau hinterher stolperte.

      „Wir reden morgen“, fügte er lachend hinzu, „oder übermorgen!“

      Verschmitzt zwinkerte er Connor zu. Übermorgen war Markttag und seine Frau in ihrem Element.

      Die Hände in den Hosentaschen vergraben schlenderte Connor nachdenklich zu seinem Haus zurück, das im Dämmerlicht weiß leuchtete. Die Sonne war längst untergegangen und hatte alle Makel im Dunkel versteckt. Graue Löcher im Putz, von den Fensterrahmen abblätternde rote Farbe, einen Sprung im Glas des Küchenfensters und das leicht eingesunkene graue Wellblechdach. Es gab noch viel zu reparieren, fürchtete Connor. Viel lieber wollte er mit der Arbeit im Garten beginnen. Und wer wusste schon, wie lange er hier wohnen würde.

      In der Küche beheizte er den alten Herd mit Torfsoden, die in einem geflochtenen Weidenkorb aufgeschichtet waren. Qualmend breitete sich der kräftige Geruch des Torffeuers im Zimmer aus, während Connor in einer schmiedeeisernen Pfanne Rührei zubereitete. Dazu gab es kerniges Bauernbrot und eine Flasche Schottisches Ale. Während er nun am Küchentisch seine erste warme Mahlzeit einnahm, seit er im Cottage eingetroffen war, ließ er den Tag noch einmal Revue passieren.

      Bei Sonnenaufgang hatte Connor Llanfairpwllgwyngyll verlassen und war mit seinem Auto die knapp vierhundertvierzig Meilen von Anglesey nordwärts bis nach Portmullen gefahren, wo Mr. Gillespie, der Makler, ihn empfangen und zum Cottage am Rande der Stadt geführt hatte. Nachdem die letzten Formalitäten erledigt worden waren, hatte Connor sein Gepäck ins Haus getragen und flüchtig die drei bescheiden möblierten Zimmer des alten Cottages begutachtet. Da die kleinen staubigen Fenster aber so wenig Licht hereinließen, hatte Connor nichts mehr im Haus gehalten. Er war durch die hintere Küchentür hinaus in das Sonnenlicht getreten, hatte tief die salzige Seeluft eingeatmet und war neugierig durch den Garten gestreift.

      Zu beiden Seiten der Holztür befanden sich schmale Beete, die einst mit Malven bepflanzt worden waren, welche nun aber eine wilde Gemeinschaft mit allerlei Zuwanderern aus der freien Landschaft eingegangen waren. Daran schloss sich eine Rasenfläche an, in der ebenfalls die wilden Verwandten die Regie übernommen hatten. Dadurch war die Gleichförmigkeit der Grünfläche verloren gegangen, und deutlich konnte Connor unterschiedliche Blattstrukturen und Farbschattierungen wahrnehmen. Vereinzelt wuchsen Heide- und Heidelbeersträucher dazwischen, die sich eng an den Boden schmiegten, damit der frische Seewind sie nicht auspeitschen konnte. Das hatte er bereits mit der Reihe Ebereschen getan, die grau und struppig, mit Flechten besetzt, der Naturgewalt standhielten und wie zum Trotz besonders üppig mit leuchtend orangeroten Früchten behängt waren.

      Connor lächelte. Sie waren also schon da. Ansonsten gab es einige Bäume weiter hinten auf der Weide, die wohl einst einer Schafherde als Futterplatz gedient hatte. Davon zeugten vertrocknete schwarze Hinterlassenschaften, mit denen Connor seine Neuanpflanzung düngen wollte.

      Er hatte seine Hemdsärmel aufgekrempelt und im Schuppen nach einem Spaten gesucht. Nur knapp war er dem Angriff einer metallenen Gießkanne entkommen, die sich aus einem der Regale auf ihn gestürzt und die komplette Webarbeit einer ganzen Spinnenkolonie mit sich geführt hatte. Doch nachdem Connor seine Haare von den feinen Fäden befreit und die Kanne nach draußen vor die Tür gestellt hatte, war er zwischen verrosteten Werkzeugen und alten Ackergeräten sehr bald auf einen Spaten gestoßen. Damit hatte er hinter dem Haus auf der Wiese ein Loch gegraben und den Erdaushub betrachtet. Sorgfältig hatte Connor an der Erde gerochen und sie zwischen den Fingern geknetet und zerrieben, bis er zu dem Schluss gekommen war, dass es sich um ausreichend fruchtbaren Boden handelte, der seinem Zweck dienen würde.

      Als die Sonne sich langsam den Berggipfeln genähert hatte, war Connor barfuß die Wiese hinunter gelaufen und hatte nach dem passenden Standort gesucht.

      Während Connor die letzten Brotkrümel vom Teller sammelte, erinnerte er sich wieder an die neugierige Mrs. MacFarlane im Haselbusch. Hatte sie wohl das Ritual mit dem Amulett beobachtet? Sicherlich hielt sie ihn für verrückt, und noch bevor er seine Arbeit antrat, würde der halbe Ort davon überzeugt sein, er sei ein irrer Fremder, der tagsüber mit der Sonne sprach und nachts den Mond anheulte. Connor schüttelte lachend den Kopf.

      Plötzlich überfiel ihn eine steinerne Müdigkeit. Schwerfällig erhob er sich von dem abgestoßenen Holzstuhl, auf dem ein gelbgrün geblümtes Sitzkissen lag, dessen Stoffbezug in der Mitte schon durchlässig war wie ein Sieb. Genüsslich streckte Connor sich, verzichtete auf das Zähneputzen im winzigen Bad und legte sich mit seinem Schlafsack auf das wenig Vertrauen erweckende alte Bett, auf dem möglicherweise der Vorbesitzer des Hauses verstorben war. Wo mochte seine Seele heute Nacht sein? Vielleicht würde Connor ihr begegnen, überlegte er schläfrig. Doch nicht immer erkannte man die Seele eines anderen. Und nur ganz selten kam es vor, dass man die Seele eines einst geliebten Menschen wiedertraf. Connor lächelte in die Dunkelheit hinein. Eines Tages würde er ihr begegnen.

      3 Misstrauen

      Mittwoch, 1. September 2010 – Portmullen, Schule

      Mit einem blauen Baumwollpullover bekleidet, dazu Jeans und sportliche Freizeitschuhe, stand Edwin Guthrie im Lehrerzimmer vor dem versammelten Kollegium der Portmullen Junior School. Um seinen Hals hing an einem Band eine braungeränderte Brille, die vor seiner Brust fröhlich hin und her pendelte, während er Connor kräftig die Hand schüttelte.

      „Und damit begrüße ich Sie im Namen aller Kolleginnen und Kollegen herzlich an unserer kleinen Schule, Mr. Wood!“, beendete der Schulleiter seine Begrüßungsrede.

      Alle Umstehenden applaudierten und schüttelten Connor der Reihe nach die Hand.

      „Vielen Dank, ich werde mein Bestes geben, um ihrem guten Ruf gerecht zu werden, von dem mir mehrfach berichtet wurde, seit ich vor vier Tagen in Portmullen eingetroffen bin.“