Mira Birkholz

Dolúrna


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und baut Schranken ab. In einem durch Unbefangenheit geprägten Umfeld wird es auch dem schwächsten Schüler gelingen, sich für Lerninhalte zu begeistern. Und mit der Begeisterung geht der Erfolg einher, Mrs. Montgomery! Dieser Erfolg wiederum führt zu einem friedvollen Miteinander, denn niemand mehr wird Neid, Versagensängste oder Konkurrenz spüren, die unweigerlich Aggressionen erzeugen. Überlegen Sie doch, Meredith“, geriet Connor immer mehr in Euphorie, während sein Gegenüber angesichts des offenkundigen Authoritätsverlustes sichtlich zusammenzuckte, als Connor sie beim Vornamen nannte.

      „Bedenken Sie, dass Aggression keinen Respekt kennt! Und disziplinieren lässt sie sich mit Worten schwer. Gewaltlosigkeit ist mein Ziel, Mrs. Montgomery! Und die erreicht man meiner Meinung nach mit Verständnis, Einfühlungsvermögen und Toleranz. Und mit gelegentlichem Kindsein, denn nur dadurch erhält sich der erwachsene Mensch das Verständnis für die junge Generation und kann sie lehren, durch ein vorurteilsfreies und gewaltloses Miteinander Frieden in der Welt zu schaffen. Und das ist es doch, was wir uns alle wünschen, nicht wahr, Mrs. Montgomery?“

      Mit diesen Worten ließ er sie stehen und begab sich zu seinen Schülern, die lärmend durch den Klassenraum liefen.

      4 Aquamarinfarbene Höhlen

      Donnerstag, 2. September 2010 – Portmullen, Hafen

      Frisch geduscht trat Hazel aus dem kleinen Haus in der Crosshill Avenue, wo sie bereits seit drei Jahren in einer Zwei-Zimmerwohnung lebte. Feucht glänzte noch ihr Haar, doch das Trocknen würde der Fahrtwind übernehmen. Mofa statt Föhn, das war ihre Devise, denn es machte doch viel mehr Spaß, mit fliegendem Haar durch die abendliche Stadt zu fahren, als im stickigen Bad kostbare Zeit zu vergeuden. Deshalb blieb der Helm auch heute am Lenker hängen, während Hazel in Jeans und Lederjacke auf ihr Fahrzeug stieg, die schwarze Sonnenbrille aufsetzte und das Mofa unter lautem Knattern startete. Blaugraue Abgaswolken stoben aus dem Auspuff, doch Hazel fuhr ihnen flink davon. Böse Blicke erntete sie regelmäßig von ihrer Nachbarin Jenny, die die erste Etage mit ihr teilte, denn Hazels Mofa stieß seinen giftigen Atem am liebsten unterhalb ihres Schlafzimmerfensters aus.

      Endlich hatte Hazel Feierabend. Magnus war heute wieder schwer zu ertragen gewesen, und sie war froh, den Hauch von Freiheit zu spüren, der zusammen mit dem spätsommerlichen Seewind um ihren Kopf wirbelte. Stürmisch zog er an ihrem Haar, während sie die Ralston Road hinunter zur Main Street fuhr, die geradewegs zum Hafen führte, wo Bens Boot am Kai lag.

      Sie liebte es, abends durch die Straßen der Stadt zu fahren, vorbei an Emilys Grundschule, der Royal Bank of Scotland und dem imposanten Town House, dessen Turm sich steil in den Himmel streckte, als wollte er nach schönem Wetter Ausschau halten. Unterwegs winkte sie Hannah zu, Caitlins älterer Schwester, die in der Main Street bei einem Juwelier arbeitete, und Riley, dem Mechaniker, der Hazels Mofa schon im Schlaf zerlegen und wieder zusammensetzen konnte. Gerade hatte er seine Werkstatt in der Shore Street abgeschlossen und fuhr nun in seinem grünen Pickup grüßend an Hazel vorbei. Aus dem offenen Fenster rief er laut: „Hi, Hazel!“, doch seine Worte verloren sich im Motorenlärm, so dass Hazel wie eine Taubstumme den Gruß von seinen Lippen ablas.

      Am liebsten hätte sie die Augen geschlossen und davon geträumt, irgendwo im Süden durch eine italienische oder französische Stadt zu fahren, den Geruch von Pizza in der Nase, melancholische Chansons im Ohr und die Lippen heiß von Giorgios Kuss oder Pierres, Philippes oder Antonios. Rotwein und Baguette, ein warmer Sandstrand, an dem glühend rot die Sonne unterging und sanfte Klänge auf der Gitarre, bis die Sterne hell am Himmel leuchteten.

      Möwen kreischten über dem Hafen, eine kühle Brise, die einen Hauch Malt mitführte, kroch in Hazels Nacken und holte sie nach Schottland zurück. Das Wasser war aufgewühlt, Boote tanzten auf den Wellen Ceilidh, Segel flatterten wie große Bettlaken an der Wäscheleine eines Meeresgotts, und Metallösen schlugen klingelnd an unzählige Masten. Viele Touristenyachten lagen unten am Steg. Doch mit dem Sommer würden sie den Hafen verlassen und das Regiment an die einheimischen Fischkutter zurückgeben, denen sie mit ihrem strahlenden Weiß und der exklusiven Ausstattung alljährlich die Schau stahlen. Nicht nur Bens altes Fischerboot hatte vom alltäglichen Kampf mit dem Meer Rost angesetzt, sondern auch die wenigen anderen, die noch übrig geblieben waren. Vorbei war die Zeit, in der die meisten Familien in Portmullen ihren Lebensunterhalt mit dem Fischen verdienten. Heute lebte man überwiegend von der Landwirtschaft und dem Tourismus. Selbst die Glanzzeit der Destillerien war Vergangenheit. Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hatte es im Ort vierunddreißig Whisky-Brennereien gegeben, und Portmullen hatte sich stolz als Whiskyhauptstadt der Welt bezeichnet. Doch lediglich drei Destillerien waren davon übrig geblieben. Ob allerdings der Konsum von Whisky abgenommen hatte, wagte Hazel zu bezweifeln. Auch ihr Freund Ben unterstützte die örtlichen Brennereien großzügig und sorgte somit dafür, dass sein hart verdientes Geld den Einwohnern die Arbeitsplätze sicherte.

      Häufig besuchte Hazel Ben abends im Hafen, wo sie an Deck seines Bootes das goldene Lebenswasser genossen, von dem immer eine Flasche an Bord war. Mit dem Rücken an die Kabinenwand gelehnt, das Glas in der Hand, saßen sie im Windschatten, beobachteten den Sonnenuntergang und sprachen über tägliche Ereignisse, Hazels Chef, Bens Fangstrategien, Musik, Sport und manchmal, wenn sie in Stimmung waren, auch über ihre Träume und Lebensziele.

      Es gab Leute, die ihre Nasen rümpften, wenn sie Hazel mit Ben sahen. Es gehörte sich einfach nicht, dass eine junge Frau abends im Hafen auf einem Fischerboot Whisky trank, noch dazu allein mit einem Mann, den sie laut Mrs. MacFarlane nicht einmal zu heiraten gedachte.

      Üblicherweise begegnete Hazel Mrs. MacFarlane nur im Ort, wenn sie mittags die Gärtnerei verließ, um schnell ihre Einkäufe zu erledigen. Dann hatte die alte Farmersfrau regelmäßig eine Gruppe ebenso alter Damen um sich geschart und vertraute ihnen hinter vorgehaltener Hand die neuesten Skandale an, von denen die betroffenen Personen häufig nicht einmal etwas ahnten.

      Doch heute Abend entdeckte Hazel die graue Dauerwellenfrisur zwischen den Yachten. Auf dem schmalen Holzsteg lief Mrs. MacFarlane unruhig hin und her und drehte dabei den Kopf nervös in alle Richtungen, gerade so, als wäre sie eine Schmugglerbraut und auf der Hut vor der Küstenwache. Hazel stellte ihr Mofa am Kai ab, drehte ihr zerzaustes Haar zu einem provisorischen Zopf und näherte sich den Fischerbooten. Was tat Mrs. MacFarlane dort zwischen den teuren Yachten der Urlauber? Die alte Dame im bunt gemusterten Nylonrock trippelte mit ihren ausgetretenen Kunstleder-Sandalen aufgeregt umher, bis sie sich plötzlich hinter einem der Schiffsrümpfe duckte und neugierig den Hals reckte. Wie eine Giraffe, die heimlich das saftige Laub vom verbotenen Baum naschen wollte. Hazel folgte ihrem Blick und entdeckte Ben, der an Deck seines Bootes stand und sich mit einem Mann unterhielt, den Hazel noch nie gesehen hatte. Er war so groß, dass er Ben in die Augen sehen konnte, obwohl der Steg tiefer gelegen war als das Bootsdeck. Im Näherkommen bemerkte sie, dass er zu einem rotkarierten Hemd eine dunkelbraune Wildlederhose trug und eine Weste aus dem gleichen Material, dazu derbe Wanderstiefel. Seine schwarzen Locken reichten bis auf den Hemdkragen und wirbelten im Wind wild um seinen Kopf herum. Wie zufällig sah Hazel zurück in Mrs. MacFarlanes Richtung, und tatsächlich schien sie die beiden Männer zu beobachten, die sich angeregt unterhielten. Kaum hatte Hazel die alte Frau entdeckt, verschwand ihr grauer Kopf hinter dem schützenden Bug der Yacht. Nicht zu glauben! Sie führte sich auf wie Miss Marple persönlich. Fehlte nur noch ihr Freund Mr. Stringer. Wer war wohl dieser große Mann neben Ben, und was hatte er zu verbergen, dass er hier zu dieser Tageszeit unter Mrs. MacFarlanes detektivischer Beobachtung stand? Plötzlich blickte Ben auf, zog sich die Mütze vom Kopf und schwenkte sie in der Luft.

      „Hi, Hazel!“, kamen seine Worte angeflogen.

      Ben wirkte kleiner als sonst und schmaler, obwohl der Wind seine blaue Arbeitshose und die leuchtend gelbe Windjacke tüchtig aufblies.

      „Hi, Ben!“, rief sie zurück und beschleunigte ihren Schritt.

      Gerade als Hazel die Männer erreicht hatte, drehte sich der Fremde um.

      Die tiefstehende Abendsonne verlieh seinem Gesicht einen goldenen Ton, in dem die Augen wie zwei Fremdkörper