Andreas Preiß

Tod am Fließ - Zaplinski ermittelt


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woran ist er denn nun letztendlich gestorben?“ Zaplinski war schon leicht genervt, weil die Antwort auf die Kernfrage immer noch ausstand.

      „An den Ohrfeigen sicher nicht. Und wegen der dicken cojones auch nicht“, erklärte die Richter mit ihrem süffisanten Grinsen und ließ die Ermittler weiter rätseln. „Und durch den Elektroschocker auch nicht. Der Strom sucht sich den kürzesten Weg zwischen den beiden Elektroden. Er dringt nur wenige Zentimeter in den Körper und kommt nie am Herzen an. Im Prinzip ist das äußerst schmerzhaft und macht kampfunfähig, ist grundsätzlich aber nicht tödlich. Es sei denn, das Gerät hat eine sehr hohe Stromstärke. Das können wir anhand der Strommarken aber hier ausschließen.“

      „Und was war es denn nun?“ Zaplinski wurde jetzt zunehmend ungeduldig. Eigentlich mochte er die Gerichtsmedizinerin, aber heute ging sie ihm langsam auf den Geist. Franziska Richter besaß wie scheinbar alle Frauen das soziale Auge, das Zaplinski und allen Männern, die er kannte, bei der Genzuteilung vorenthalten worden war. Daher spürte sie seinen aufkommenden Ärger und erlöste ihn.

      „Am Ende ist er ertrunken …“

      „Ertrunken, nicht ertränkt?“, hakte Zaplinski irritiert nach.

      „Schwer zu sagen, denn …“ Ihr Zeigefinger deutete auf den blau verfärbten Unterbauch: „… er hatte da ein Aneurysma, eine Schwachstelle an der Bauchschlagader. Das ist wie eine Zeitbombe. Das Fiese daran ist, dass man normalerweise keine Beschwerden hat, maximal vielleicht ein bisschen Rückenschmerzen. Aber wenn die Stelle reißt, muss sofort interveniert werden. Seine hier ist geplatzt wie ein alter Gartenschlauch. Mutmaßlich beim Sturz, weil ich an der Stelle ein Trauma gefunden habe. Alleine daran wäre er ohne schnelle Hilfe mit Sicherheit auch gestorben.“

      Zaplinski konnte mit dem ganzen „könnte“ und „wäre“ nichts anfangen. Mit Grautönen hatte er es nicht so. Ja oder Nein, hopp oder topp. .„Ertrunken oder ertränkt oder verblutet? Was denn nun?“

      „Suchen Sie sich was aus“, antwortete die Gerichtsmedizinerin und hob bedauernd die Hände. „Wie mit der Henne und dem Ei. Keiner kann sagen, was zuerst da war. Kann sein, die innere Blutung hatte ihn schon zu sehr geschwächt und er konnte nicht mehr aufstehen. Oder er hat versucht, hochzukommen und ist vor Schwäche ins Wasser gefallen. Lässt sich nicht mit Sicherheit sagen.“

      „Na toll.“ Zaplinski war ernüchtert. Ihm wurde soeben klar, dass es schwierig werden könnte, in diesem Fall die Mordabsicht nachzuweisen. Aber immerhin war das auch nicht auszuschließen. „Gibt es irgendetwas, was uns bei der Identifizierung weiterhelfen könnte, außer diesem schrecklichen Tattoo?“

      „Leider keine Implantate mit Seriennummern, wenn Sie daran gedacht haben sollten. Der Rest ist in Arbeit, Fingerabdrücke, Zahnschema und so weiter. Anhand der Zahnfüllungen würde ich sagen, er stammt aus der ehemaligen DDR“, antwortete Franziska Richter. „Übrigens tippe ich darauf, dass er früher geboxt hat. Kopf, Nase und Hände weisen alte typische Verletzungen auf, die man sich im Laufe der Zeit so zuzieht.“

      Zaplinski seufzte. Das hatte er sich alles sehr viel geschmeidiger vorgestellt. „Dann müssen wir wohl darauf hoffen, dass er schon einmal Kunde bei uns war und seine Fingerabdrücke einliegen. Oder, dass ihn jemand vermisst. Danke erstmal Frau Richter. Wie sieht’s aus mit dem Todeszeitpunkt?“

      „So weit bin ich noch nicht“, beschied ihn die Gerichtsmedizinerin. „Aber Sie erfahren es als Erster.“

      Spätschicht

      Der Leiter der Mordkommission Nord gähnte. Kurz vor zwei Uhr nachmittags erst aufgestanden und schon wieder müde. Ich glaube, ich werde langsam alt, dachte Zaplinski.

      Im Gehen nippte er an seinem Thermobecher, in dem der Latte aus der heimischen Kaffeemaschine vor sich hin dampfte. Zaplinski war wieder auf dem Weg zum Dienst. Nach der unbefriedigenden Obduktion war er kurz zu Hause gewesen, Duschen, Umziehen, den Geruch vom Leichenschauhaus loswerden.

      Zaplinski lebte in Berlin-Wittenau. Erst seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hieß dieser Ortsteil des Bezirks Reinickendorf so, benannt nach dem damaligen Ortsvorsteher Witte. Der alte Ortsname Dalldorf war zuvor allzusehr mit der dortigen „Städtischen Irrenanstalt“ assoziiert worden. Davon hatten die Leute hier schließlich die Nase gestrichen voll gehabt und vehement eine Umbenennung betrieben. Inzwischen war auch der Nachfolger der Irrenanstalt, die Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik – im Volksmund nur „Bonnies Ranch“ genannt – längst Geschichte.

      Rund um Zaplinskis Wohnung gab es Supermärkte, Restaurants, ein Tattoostudio und diverse Ärzte und Apotheken. Dazu eine Handvoll Dönerläden, einen großen türkischen Lebensmitteldiscounter mit Halal-Fleisch und einen arabischen Barbershop.

      Aber weder ein Geldinstitut noch eine Post. Irgendwie typisch für die Großstadt-Nahversorgung im 21. Jahrhundert.

      Vor nicht allzu langer Zeit war in einem ehemaligen Supermarkt zwei Straßen weiter eine Moschee eröffnet worden. Wittenau war eben jetzt Multikulti wie Neukölln oder der Wedding. Das galt auch für das nahegelegene Märkische Viertel. In die Hochhaussiedlung aus den 1960er mit knapp 40.000 Einwohnern, die hier jeder selbstironisch nur das „Merkwürdige Viertel“ nannte, zogen wegen der überwiegend großen Wohnungen halt vermehrt Familien mit mehreren Kindern. Und das waren eher die mit Migrationshintergrund und offenkundigem Bedarf an religiöser Betreuung. Die Ureinwohner hatten es ja nicht mehr so mit dem Kinderkriegen. Mit der Religion ebensowenig.

      Die knapp fünfzehn Minuten von zu Hause zum Büro ging Zaplinski manchmal zu Fuß, vorbei am Rathaus Reinickendorf und dann quer durch den Park. Vor einigen Wochen waren beim Discounter um die Ecke diese elektrischen Tretroller günstig im Angebot gewesen. Da hatte das Faultier in Dieter Zaplinski kurz über eine solche Anschaffung nachgedacht. Am Ende hatte jedoch die Vernunft knapp gesiegt. Mit dem Ding hätte er künftig die wenigen Strecken, die er jetzt zu Fuß ging, auch noch bewegungsarm zurückgelegt. Ein prüfender Griff an den über seinen Gürtel quellenden Bauch hatte handfest die Entscheidung eingefordert, den Kauf sein ja zu lassen.

      In dem Zusammenhang war ihm der Witz aus den Zeiten eingefallen, als es auf den Bahnhöfen noch Personenwaagen gab. Für zehn Pfennig verrieten sie einem das Körpergewicht, ausgedruckt auf einem kleinen Pappkärtchen. Auch bei ihm würde heute wahrscheinlich statt der Kilogrammzahl draufstehen: „Waage bitte nur einzeln benutzen.“

      Er näherte sich dem Dienstgebäude am Nordgraben, wo er sein Büro hatte. Der dreistöckige Zweckbau direkt neben dem Finanzamt stammte aus den 1960er Jahren. Zaplinski zog am Eingang seinen Dienstausweis durch das Kartenlesegerät und drückte die Glastür auf.

      Er machte noch einen kleinen Umweg zur Wache und rief den uniformierten Kollegen hinten im Aufenthaltsraum über den Tresen einen Gruß zu. Es gefiel ihm, dass jetzt wieder Schutz-und Kriminalpolizei unter einem Dach saßen. Der „kleine Dienstweg“ funktionierte fast wie früher, weil man sich persönlich kannte und täglich über den Weg lief.

      Außerdem wussten die Uniformierten immer mal Dinge, die in keiner Akte oder Datei zu finden waren. Schade nur, dass die Kontaktbereichsbeamten nicht wieder eingeführt worden waren. Diese Kiezpolizisten waren früher für einen kleinen überschaubaren Bereich zuständig gewesen, täglich zu Fuß unterwegs und hatten damit echte Bürgernähe praktiziert. Vorbei.

      Jetzt war es ein exotisches Ereignis, wenn die Kollegen aus dem Dienstwagen ausstiegen, ohne dass sie dorthin alarmiert worden waren oder es einen Imbiss zu holen galt.

      Wenn man die zahlreichen blau-weißen Fahrzeuge auf dem Hof so betrachtete, die da nur standen und eben nicht streiften, war der alte Begriff Streifenwagen sowieso irreführend. Wahrscheinlich hießen sie aus diesem Grund auch inzwischen Einsatzwagen.

      Mit solchen wehmütigen Gedanken an die guten alten Zeiten, also die in seiner Erinnerung guten alten Zeiten, steuerte der Erste Kriminalhauptkommissar Zaplinski in Richtung Aufzug.

      Drinnen drückte er den Knopf für den dritten Stock, wo die Büros seiner kleinen Truppe zu finden waren. Die Treppen hochlaufen könnte er dann beim nächsten Mal. Vielleicht.

      Der Saal