J.P. Conrad

totreich


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sich aber nicht so ganz sicher, worauf der Inspektor hinaus wollte.

      »Ich werde mich aber stattdessen nochmal mit dem Fall Moore befassen. Inoffiziell.« Es war eine unangenehme und zugleich erregende Premiere für Hubert. Noch nie hatte er wissentlich gegen den ausdrücklichen Befehl eines Vorgesetzten gehandelt. Allerdings war ihm der Bürokrat Crowe, der ihm erst vor einem halben Jahr vor die Nase gesetzt worden war, nicht sonderlich sympathisch, was ihm die Entscheidung leichter gemacht hatte. Zudem hatte er damals im Reisebüro, vielleicht aufgrund einer Eingebung, eine Reiserücktrittsversicherung abgeschlossen und in Anbetracht seines Berufes würde die auch greifen, wenn er den Urlaub nun kurzfristig abblasen würde. So hoffte er zumindest. Dass seine Frau seine Entscheidung mit Unverständnis aufnehmen und wahrscheinlich nie wieder ein Wort mit ihm wechseln würde, wusste er mit Sicherheit.

      »Ich bin sprachlos. Wie darf ich Ihren Sinneswandel verstehen, Sir?« hakte Jack unsicher und zugleich hoffnungsvoll nach.

      Hubert holte tief Luft, bevor er antwortete. »Mister Calhey, es ist doch offensichtlich, dass wir beide daran interessiert sind, ein Motiv für Mister Moores Suizid zu finden. Und genau wie Sie habe auch ich das eigenartige Gefühl, dass hinter seinem Freitod mehr steckt, als wir sehen.« Er hob die Einladung hoch und schwenkte sie durch die Luft.

      »So was bekommt man nicht alle Tage vorgesetzt. Ich will wissen, was es hiermit auf sich hat.«

      »Ich auch, Inspektor. Das können Sie mir glauben. Byron war mein Freund und wenn es eine Möglichkeit gibt, hinter die Umstände seines plötzlichen Selbstmords zu kommen, dann will ich sie auch nutzen. Ich kann also auf Ihre Hilfe zählen?«

      Hubert zögerte kurz, aber jetzt konnte er ohnehin keinen Rückzieher mehr machen. Ein Gentleman hielt sein Wort.

      »Das können Sie Mister Calhey. Ich bitte Sie aber, zu bedenken, dass ich als Privatperson wesentlich eingeschränkter sein werde, was meine Untersuchungsmöglichkeiten anbelangt. Wir werden also unsere Kräfte bündeln müssen. Sie sagen mir alles was Sie wissen, ich sage Ihnen, was ich weiß und die restlichen Teile des Puzzles müssen wir gemeinsam suchen.« Er trank den letzten Rest seines Tees. Dass er mit seinem loyalen Assistenten Steve Highsmith auch während seiner offiziellen Abwesenheit vom Büro eine wertvolle Hilfe haben würde, wollte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht verraten.

      »Inspektor, wir sind Ihnen sehr dankbar für dieses Angebot. Es bedeutet Jack wirklich sehr viel«, sagte Grace und lächelte freundlich, während sie Jacks Hand nahm und fest drückte. Hubert erhob sich, trat um den Tisch herum, um Jack die Hand zu reichen. Jack stand ebenfalls auf und tat es ihm gleich.

      »Ich danke Ihnen«, sagte er.

      In diesem Moment zirpte es in Macintoshs Jackett. »Einen Moment, bitte.« Er holte sein Handy hervor und sah auf das Display. Es war Highsmith, er rief aus dem Büro an.

      »Ja?«

      »Sir, gut dass ich Sie erreiche«, vernahm er die Stimme seines Assistenten. Der Inspektor glaubte, Aufregung in ihr zu spüren.

      »Was gibt es denn?«

      »Haben Sie heute schon die Times gelesen?«

      »Nein. Warum?«

      »Werfen Sie unbedingt einen Blick auf den Artikel auf Seite vier.«

      Tatsächlich hatte er die heutige Ausgabe der Times noch nicht ansatzweise gelesen, sondern sie bis jetzt nur als Regenschirmersatz missbraucht.

      »Was steht denn da?« hakte er, etwas energischer, nach.

      »Das sollten Sie vielleicht besser selbst lesen. Ich will hier nicht irgendwelche falschen Vermutungen ins Volk streuen«, kam die Antwort durch den Hörer. »Aber angesichts der Umstände…« Highsmith war ein brillanter Kopf und mit Sicherheit lag er mit seinem Gespür richtig, egal, um was es ging.

      »Okay, ich schaue es mir an und melde mich dann wieder. Bis später.« Er schaltete das Telefon ab und steckte es wieder in seine Tasche. Dann wandte er sich stirnrunzelnd an Grace.

      »Miss Martins, wären Sie wohl so freundlich, mir zu zeigen, wo ich meinen Mantel finde? Ich benötige die Times, die darin steckt.«

      »Ich hole sie für Sie, Inspektor, einem Moment.« Grace eilte davon und kam kurz darauf mit dem durchweichten Papierhaufen zurück, den sie zwischen Daumen und Zeigefinger hielt. Ein paar Wassertropfen fielen zu Boden, als er die Zeitung entgegen nahm.

      »Oh, das tut mir leid«, entschuldigte er sich peinlich berührt und sah auf die kleine Pfütze.

      Grace winkte ab. »Kein Problem. Ein nasses Parkett nehme ich gerne in Kauf, dafür, dass Sie Jack helfen wollen.«

      Hubert nickte freundlich und faltete dann die Zeitung in der Luft mit den Fingerspitzen auseinander. Glücklicherweise konnte man das Meiste noch gut lesen, obwohl der Text der anderen Seiten durchschien. Er blätterte: Seite zwei, drei – vier. Im oberen Teil stand ein Artikel über einen Wirtschaftsskandal mit frisierten Börsenberichten, daneben passender Weise eine Anzeige für Beruhigungsdragees. Dann fiel Huberts Blick auf eine weitere Überschrift und seine Pupillen weiteten sich schlagartig.

      Jack und Grace sahen sich fragend an.

      »Inspektor?«

      Hubert reagierte nicht, sondern breitete, wie in Trance, die Zeitung auf dem Tisch aus, ungeachtet der Flecken aus Wasser und Druckerschwärze, die auf der blütenweißen Rüschendecke entstehen würden. Neugierig beugten sich Grace und ihr Freund über das Papier und sahen auf den Artikel, der den Mann so in seinen Bann zog. Er trug die Schlagzeile:

       Lille, Frankreich: industrieller Philippe Perrant bei Absturz mit Privatflugzeug tödlich verunglückt.

      Nachdenklich rieb sich Hubert die Stirn und gab ein unverständliches Grummeln von sich. Jack und Grace lasen den Artikel quer: Demnach war Perrant mit seiner Sportmaschine alleine auf einem Rundflug unterwegs gewesen. Dann war der Funkkontakt abgerissen und man hat seine Maschine ein paar Stunden später im Wald gefunden. Sie war vollständig ausgebrannt und Perrant bei dem Feuer umgekommen.

      »Hat das was mit unserem Fall zu tun?« fragte Grace und sah die beiden Männer abwechselnd fragend an. Jack zuckte mit den Schultern; er hatte den Namen Perrant noch nie gehört.

      »Vielleicht nicht«, antwortete Hubert. »Aber Philippe Perrant stand als Kontakt in Moores Organzier.«

       Irgendwann am Wochenende

      Lee Ashton war ein ehrgeiziger Mensch. Er war es immer gewesen, denn schon als kleines Kind war ihm erklärt worden, dass er intelligenter sei, als seine Schulkameraden. Nicht intelligenter als seine Freunde, wohlgemerkt, denn er hatte keine. Ja, er hatte nicht einmal Neider. Sie waren alle nicht neidisch auf seinen schlauen Kopf, auf seine »Gabe«, wie es seine Mutter immer gerne schwärmerisch ausgedrückt hatte. Sie hatten ihn als Freak abgestempelt. Und mit einem Freak wollte man natürlich nichts zu tun haben. Außer vielleicht, man hatte sich durch kurzzeitiges Heucheln von Freundschaft seine Hilfsbereitschaft erhaschen können, um bessere Noten in der Klassenarbeit zu bekommen.

      Lee Ashton hatte schon sehr früh erkannt, dass sie alle dumm waren. Selbst seine Familie, seine Eltern und ganz besonders seine ältere Schwester. Auch sie hatte ihn oft genug als Irren, als abnormen Freak bezeichnet. Nur weil er Dinge schneller begriff, schneller eine Lösung für Probleme parat hatte und die Welt aus einem anderen Blickwinkel betrachtete. Aber das war nichts, wofür man vom Leben auch noch belohnt wurde. Seine Schulzeugnisse hatten zwar vor Einsern gestrotzt, doch in sozialer Kompetenz hatten die Lehrer ihm eine glatte Sechs bescheinigt. Ihm war es egal. Er fühlte sich auch trotz dieses Defizits nie alleine und kam auch ohne Freunde sehr gut zurecht.

      Er war ein Grübler. Und zum Grübeln braucht man Ruhe, keine Bande pickeliger und hyperaktiver Schreihälse, die ihn am Denken hinderten. Sein Verstand war seine größte Waffe, das hatte er früh erkannt und sich diese »Gabe« zu Nutze gemacht. Er hatte es sogar geschafft, seiner frechen und unbarmherzigen Schwester eins auszuwischen: Ohne sein direktes Zutun, nur durch geschickte Manipulation