J.P. Conrad

totreich


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mit einem Erklärungsversuch. »Moore liegt hinter seinem Schreibtisch, mit einem Dolch in der Brust.« Seine Stimme klang nasal, als hätte er Schnupfen.

      »Ein Brieföffner!« korrigierte ihn sein Kollege sogleich tadelnd.

      Hubert empfand das kleine Duell zwischen den Beamten irgendwie drollig. Sicherlich bekamen die beiden nur selten etwas so spektakuläres wie einen Mord vorgesetzt und sie versuchten sich nun in einem Kompetenzkampf.

      »Ja, ein Brieföffner. Die Spurensicherung ist da schon seit zwanzig Minuten am Werkeln. Bisher gibt es keine Anzeichen für einen Einbruch oder ähnliches.«

      Hubert ging ein paar Schritte in die Richtung, in welche die beiden Polizisten mehrmals unbewusst geschielt hatten. Dort grenzte ein weiterer Raum an den großen Salon an. Das Arbeitszimmer des Hausherrn.

      In diesem Moment betrat Doktor Rainard, aus eben diesem Zimmer, den Salon. Als er Macintosh sah, lächelte er freundlich und zog sich die Kapuze seines Papieranzugs vom Kopf.

      »Ah, guten Morgen, Chef.«

      Sie gaben sich die Hand. Rainard trug einen Plastikhandschuh. Hubert nickte und rang sich ebenfalls ein Lächeln ab. Der junge Arzt war zweifelsohne einer der fähigsten Männer auf seinem Gebiet, den er je kennengelernt hatte. Die seltenen Gelegenheiten, bei denen er mit ihm zusammen arbeitete, zeigten ihm allerdings, dass er sehr ehrgeizig war. Zu ehrgeizig, um sympathisch rüberzukommen.

      »Morgen, Doktor. Was haben wir denn da drin?« fragte Hubert und ignorierte damit bewusst die bisherigen Informationen, die ihm die beiden Beamten gegeben hatten.

      »Tja...« Rainard drehte sich nochmals nachdenklich um und befingerte den Mundschutz, der an seinem Hals hing. »Sieht mir ganz nach Suizid aus. Keine Kampfspuren, keine Fingerabdrücke und die Lage des Körpers ist so, als hätte er sich selbst gerichtet.«

      »Mit einem Brieföffner«, ergänzte Macintosh.

      Rainard nickte. »Sieht aus wie Elfenbein, jedenfalls ein ganz edles Ding. Naja, eigentlich so wie alles hier.« Er blickte durch den Raum.

      »Ja, der Mann lebte wohl nicht schlecht«, stimmte Hubert gleichgültig zu und zog dabei sein Smartphone aus der Manteltasche. Sofort formierte sich in seinem Kopf die erste Frage: Wie viel Überwindung und seelische Zerrüttung musste ein Mensch aufbringen, sich selbst zu erdolchen? Es gab wahrhaftig einfachere und schmerzfreiere Methoden, sich das Leben zu nehmen.

      »Naja. Es gibt auch Dummköpfe und Masochisten.« Hubert ließ sich ebenfalls einen Einweg-Schutzanzug geben und zog ihn über. Dann betrat den Ort des Geschehens.

      Das Arbeitszimmer stellte stilistisch einen Gegensatz zum Salon dar, denn es war wesentlich altmodischer eingerichtet. Es passte mehr zu dem, was man erwartete, wenn man das Herrenhaus von außen sah. Schweres Holz, Messing und Goldbeschläge bestimmten das Bild. Und der Raum war deutlich kleiner als der Salon, aber immer noch sehr großzügig dimensioniert, wie Hubert neidvoll feststellte. Er hatte zwei hohe Fenster, aber aufgrund der Lage des Raums fiel zu dieser Tageszeit nur indirektes Licht hinein. Die Beleuchtung kam von der Decke und von drei Halogen-Stativlampen, die ihr Licht auf den Boden hinter dem ausladenden und reich verzierten Schreibtisch warfen, der bestimmt dreimal so groß war, wie der von Hubert. An den seitlich gegenüberliegenden Wänden standen hohe Regale, die von einem Ende des Zimmers zum anderen reichten und mit hunderten von Büchern vollgestopft waren. Sie wirkten, als würden sie den Raum erdrücken; zumindest empfand Hubert es so. Hinter dem Schreibtisch erhob sich gerade ein Mann, der wie er vollständig in einem weißen Papieranzug vermummt war. Hubert erkannte ihn an seinen zusammengewachsenen Augenbrauen als Becker, Rainards tüchtigen, wenn auch, für seine Arbeitsauffassung, etwas zu lässigen Assistenten. Er bemerkte Hubert sofort.

      »Guten Morgen, Sir«, begrüßte er seinen Vorgesetzen mit einer knappen Handbewegung. Hubert grüßte zurück und trat um den Schreibtisch herum. Er sah zu Boden und dort den leblosen Körper eines Mannes um die vierzig Jahre liegen. Byron Moore. Er lag auf dem Rücken, sein leichenblasses Gesicht zur Decke gerichtet. Er wirkte mit seinem weichen, aber sehr männlichen Profil und seinem vollen schwarzen Haar recht attraktiv, soweit Hubert das beurteilen konnte.

       »Selbst jetzt noch.«

      Der Tote trug glänzende schwarze Maßschuhe, eine Nadelstreifenhose und ein feines Seidenhemd. Aus seiner linken Brust, etwas unterhalb des Herzens, ragte der verschnörkelte Griff eines Brieföffners. Die obere Partie des Hemdes war völlig von getrocknetem Blut durchtränkt und auch der schwere Teppich, auf dem die Leiche lag, hatte dunkle Flecken.

      »Nicht wirklich angenehm.« Obwohl ihm Anblicke dieser Art keineswegs fremd waren, schauderte Hubert innerlich. Eigentlich war er vor über zehn Jahren von Scotland Yard weggegangen, um nicht mehr solchen Bildern ausgesetzt zu sein.

      Und um der Quengelei seiner Frau Patricia Rechnung zu tragen. Mit Verärgerung dachte er daran, dass er in einer Woche schon mit ihr in der Dominikanischen Republik sein würde. Sich den etwas zu rundlichen Bauch bräunen und Cocktails mit Zuckerrand am Glas trinken. Hätte Mister Moore nicht bis dahin mit seinem Abgang warten können, damit sich ein anderer mit dem Fall rumschlagen durfte?

      Hubert konzentrierte sich wieder auf den Tatort und begutachtete das Stillleben eine Weile ohne Fragen zu stellen, um das aufzunehmen, in seinem Geist und auf elektronischem Weg im Smartphone speichernd, was der erste Blick ihm zeigte. Becker kannte diese Methode des Inspektors und sagte nichts, während er sich die Handschuhe abstreifte und langsam Richtung des Salons ging.

      Die Augen des Toten waren geschlossen oder von einem der Anwesenden geschlossen worden. Wie Rainard gesagt hatte, lag der Körper in einer Position, in die man geraten konnte, wenn man sich selbst auf diese Weise das Leben nahm. Er musste zusammengesackt und dann auf den Rücken gekippt sein. Der linke Arm Moors ruhte auf dem Drehkreuz seines Schreibtischsessels und der hochgerutschte Hemdsärmel legte den Blick auf eine goldene Rolex frei. Das linke Bein war leicht verdreht und angewinkelt. Über der Rückenlehne des Sessels hing Moores Jackett.

      Der Schreibtisch, den er als nächstes in Augenschein nahm, bot ein normales und geordnetes Bild: Eine lederne Schreibunterlage, ein Telefon, ein aufgeklapptes Notebook, aber keinerlei Papiere, die offen herum lagen.

      Hubert mutmaßte, dass Byron Moore auch auf seinem Computer keinen Abschiedsbrief hinterlassen hatte. Sein Bauch sagte ihm, dass die Entscheidung des Mannes, sich selbst ins Jenseits zu befördern, ein Kurzentschluss gewesen sein musste. Vielleicht hatte er kurz zuvor eine schlimme Nachricht erhalten?

      »Die Fotos will ich spätestens um Eins haben«, sagte der Inspektor, ohne von der Leiche aufzusehen.

      »Na klar,«, bestätigte Becker und verließ den Raum.

      Nun war Hubert alleine. Er trat etwas zurück, hinter den Toten und ließ nochmals seinen Blick aus dieser anderen Perspektive schweifen. Sein Smartphone hielt er weiterhin fest umklammert. Er würde es bald brauchen, denn er musste sich über die Person Byron Moore näher informieren; insbesondere über sein Verhalten am Abend vor seinem Tod. Gestern. Mit Unbehagen dachte Hubert an das bevorstehende Gespräch mit der Haushälterin. Er hätte ihr eine sofortige Befragung gerne erspart, aber es war wichtig, sie zu vernehmen, solange ihre Erinnerungen noch frisch waren. Langsam umrundete er den Arbeitsplatz; weitere Auffälligkeiten konnte er jedoch zunächst nicht finden. Vielleicht würden die Ergebnisse der Spurensicherung ja noch etwas aufzeigen. Er machte noch ein paar Schnappschüsse mit dem Handy.

      Als er wieder in den Salon kam, war die Haushälterin verschwunden, das Sofa leer. Grummelnd stieg er aus dem Schutzanzug und warf ihn samt der Plastikhandschuhe auf einen Ohrensessel in der Ecke. Der Mann, den die Polizisten als Doktor Drake identifiziert hatten, kam auf Hubert zu und lächelte zaghaft.

      »Sie sind Inspektor Macintosh, richtig? Doktor Timothy Drake.« Sie gaben sich die Hand.

      »Es ist einfach schrecklich«, kommentierte der Arzt mit dem vertrockneten Gesicht, den tief hängenden Tränensäcken und buschigen Augenbrauen unvermittelt und schüttelte schockiert den Kopf. »Ich kann mir überhaupt nicht erklären, was Mister Moore nur dazu gebracht hat. Es ist einfach unfassbar.«

      »Suizid