J.P. Conrad

totreich


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Ich werde ihr Bescheid sagen, dass sie hierher kommt.«

      Mrs Keller schüttelte den Kopf und starrte mit gläsernen Augen auf die Tischplatte. »Danke, das ist sehr nett von Ihnen, aber ich habe in meinem Leben schon viel ertragen - den Tod meines Mannes und unseres Sohnes. Das jetzt werde ich auch durchstehen.«

      »Hat Mister Moore Verwandte? Jemanden, den wir benachrichtigen sollen?«

      Sie schüttelte den Kopf. »Nein, zumindest keine, von denen ich wüsste. Er hat nie jemanden erwähnt.«

      Huberts Magen verkrampfte sich etwas. »Ich weiß, dass ich jetzt sehr viel von Ihnen verlange«, sagte er und zog seine Hand wieder zurück. »Aber ich muss Ihnen ein paar Fragen zu dem Unglück stellen.«

      Die Frau sah ihn angstvoll an, obgleich sie wusste, was ihr bevorstand. »Sie meinen, darüber, wie ich ihn gefunden habe«, schlussfolgerte sie. Noch ehe er etwas erwidern konnte, begann sie zu erzählen. Sie wollte wohl die Gedanken, die sich in den letzten Stunden in ihrem Kopf geformt hatten, endlich laut aussprechen und damit vielleicht vergessen.

      »Gestern Abend habe ich ihm das Essen im Speisezimmer zurecht gestellt. Er sagte mir, dass er mich nicht mehr brauche, da habe ich mich zurückgezogen. Ich kam erst heute Morgen wieder hinunter, um das Frühstück zuzubereiten. Normalerweise pflegt Mister Moore es gegen sieben Uhr einzunehmen. Als er nicht kam, habe ich zuerst an seine Schlafzimmertür geklopft, aber das Bett war unbenutzt. Dann bin ich in sein Arbeitszimmer und...« Sie stockte kurz. »Da lag er. Er trug noch immer die Sachen vom Vortag. Also hat er sich irgendwann am Abend...«

      Hubert nickte verstehend. »Den genauen Todeszeitpunkt wird die Obduktion zeigen. Was taten Sie, als Sie ihn fanden?«

      Sie überlegte kurz und wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. »Zuerst wurde mir schwindelig und übel. Ich bin fast umgekippt. Dann habe ich mich wieder gefangen und mich über ihn gebeugt. Ich wollte wissen, ob er tatsächlich... dann habe ich sofort Doktor Drake angerufen.«

      »Von welchem Apparat?«

      »Dem hier in der Küche.« Sie deutete auf ein Telefon an der Wand zwischen der Anrichte und einer niedrigen Tür, die auf den Hof zu führen schien.

      »Was haben Sie Doktor Drake gesagt?«

      Noch eine Träne rann über Mrs Kellers Wange. Sie zog ein zerknülltes Papiertaschentuch aus ihrer Schürzentasche und wischte sich über die Nase.

      »Ich war sehr aufgeregt. Ich habe nur gesagt, dass er schnell kommen solle, weil es Mister Moore nicht gut geht.« Die Aussage deckte sich mit dem, was ihm der Arzt gesagt hatte.

      »Was haben Sie getan, bis Doktor Drake eintraf?« hakte er weiter nach, während er die neuen Stichworte in das Gerät schrieb.

      »Hier gesessen und gezittert. Es waren schlimme Minuten.«

      Becker betrat den Raum. Er hielt etwas in seiner behandschuhten Hand. »Verzeihung, Sir...« unterbrach er taktlos das sensible Verhör und reichte Hubert das Objekt; ein Smartphone, ähnlich dem, das er selbst benutze. »Wir haben Mister Moores Handy gefunden.«

      Macintosh sah Becker fragend an. »Und?« Er wusste nicht so genau, was ihn jetzt erwarten würde. Moore hatte sicher keinen Abschiedsbrief auf diesem kleinen Gerät hinterlassen, wo man ihn nur durch Zufall finden würde.

      »Da drin sind seine letzten Termine verzeichnet.«

      Hubert nahm das Gerät, drückte einen Knopf und der Bildschirm erhellte sich. Er las die tabellarischen Eintragungen: Bis Anfang März hatte Moore täglich mehrere Meetings, Telefonkonferenzen und sonstige Geschäftstermine vermerkt, die als erledigt gekennzeichnet waren. Macintosh bedauerte den Mann um seine offensichtlich spärliche Freizeit und fragte sich unwillkürlich, ob dies nicht schon alleine ein Grund sein konnte, seinem Leben ein Ende zu setzen. Er scrollte weiter. Erst Anfang April setzten die Eintragungen, jedoch wesentlich weniger umfangreich, wieder ein. Dann stieß Hubert auf den jüngsten Termin. Er stammte vom vergangenen Sonntag.

      »Wer ist Jack Calhey?« fragte er Mrs Keller.

       Sonntag, 04. April

      17.22 Uhr

      Nach zwei recht unbeständigen Apriltagen mit viel Regen hatte sich das Wetter vorübergehend zum Positiven gewandelt. Jack Calhey heizte in seinem alten Mustang mit offenem Verdeck über die nur mäßig befahrene Landstraße. Der Wind wehte ihm immer wieder eine seiner Haarsträhnen, von denen seine Freundin immer behauptete, sie gehörten auf den Boden eines Friseursalons, vor die Augen. Er genoss diesen Augenblick der Freiheit, der sich in ihm regte. Es hatte etwas nahezu rebellisches. Im Radio lief ›Hot Stuff‹ von den Stones, Jacks Lieblingsband. Es passte alles einfach zusammen und ein zufriedenes Grinsen huschte über sein Gesicht.

      Alles in allem hatte er es wirklich gut. Er besaß einen angenehmen, abwechslungsreichen und vor allem nicht allzu stressigen Job als Journalist und Redakteur bei einem kleinen Tageblatt, eine attraktive und kluge Freundin, die obendrein noch von Haus aus wohlhabend war und – seinen weißen Mustang.

      Jack drehte die Lautstärke noch etwas auf, wodurch die Bässe ihr Äußerstes gaben und dieses besondere Gefühl in ihm seinen Höhepunkt erreichte. Ja, es ging ihm wirklich gut. Hier und jetzt, in diesem Augenblick spürte er es und dieses positivste aller Gefühle konnte durch nichts getrübt werden. Er dachte mit Vorfreude an den Besuch, den er gleich seinem besten Freund abstatten würde und den er so lange nicht gesehen hatte.

      Nachdem er die Ortschaft Sawbridgeworth passiert und die letzte der wenigen Kurven auf der Straße genommen hatten, kam das Ziel seiner Fahrt in Sicht: Das großzügige Anwesen von Byron Moore mit dem Herrenhaus aus dem neunzehnten Jahrhundert. Als er sich dem reichlich verzierten, massiven Eisentor näherte, öffnete sich dieses wie von Geisterhand. Jack ließ es sich nicht nehmen, nochmals zu beschleunigen und den Motor laut aufheulen zu lassen.

      Mehr als sieben Monate war es nun her, seit er das letzte Mal diesen Weg gefahren war, um Byron zu besuchen. Sieben Monate waren zwar nichts im Vergleich zu manch anderen langen Jahren oder Jahrzehnten, die gute Freunde durch Wiegungen des Schicksals getrennt waren, aber für Jack war es lange genug. Die Chemie zwischen ihnen stimmte einfach und mit kaum einem anderen Menschen konnte er sich stundenlang so angeregt unterhalten, wie mit Byron. Was ihn an dieser Freundschaft immer wieder faszinierte, war die Tatsache, dass sie trotz der so unterschiedlichen Lebenswege, die sie nach der gemeinsamen Schulzeit gegangen waren, und den daraus resultierenden gegensätzlichen gesellschaftlichen Stellungen, glänzend funktionierte. Er, Jack, war ein mittelmäßiger Journalist bei einer mittelmäßigen Zeitung mit einem mittelmäßigen Gehalt, der als Quereinsteiger ohne richtige Ausbildung einfach Glück gehabt hatte. Byron hingegen hatte nach der Schule studiert, hart geschuftet und war ins Big Business eingestiegen. Jack wusste gar nicht mal genau, in wie vielen Geschäftszweigen er überall seine Finger im Spiel hatte. Man konnte Byron Moore durchaus als Workaholic bezeichnen. Dass er trotz dieser fast 24-Stunden-Arbeitstage und unzähligen Geschäftsreisen pro Jahr ab und zu Zeit fand, sich mit seinem alten Freund zu treffen, war für Jack ein großes Lob. Immerhin hätte er sich genauso gut für eine Familie oder kostspielige Freundinnen Zeit nehmen können.

      Familie. Etwas, das für Byron, trotz seiner Genialität und seiner Bildung ein Buch mit sieben Siegeln war, wie er selbst zugegeben hatte; ein Thema, zu dem er nichts Geistreiches sagen konnte, da es ihm an Erfahrung mangelte. Seine Mutter war früh gestorben. Krebs. Und sein Vater, die Leitfigur in seinem Leben, war ihr einige Jahre später gefolgt. Danach hatte sich Byron nur noch in die Arbeit gestürzt. Sich hier und da mal sexuelle Eskapaden geleistet. Mehr aber nicht. Jack hatte oft das Gefühl gehabt, dass die Einsamkeit Byrons einziger, ständiger Begleiter war. Vielleicht war aber auch einfach nur die Lebensweise, für die er sich entschieden hatte, Jack so fremd und nicht nachvollziehbar, war er doch selbst in einer Familie mit drei Brüdern und zwei Schwestern groß geworden und hatte er nun seit mehr als zwei Jahren, nach einer gescheiterten Ehe und einigen, mehr oder weniger amüsanten Affären, seine Grace. Er war niemals einsam. Und er war auch nicht traurig darüber.

      Byrons Anwesen bot wie immer ein recht üppiges