J.P. Conrad

totreich


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wäre sein letzter Arbeitstag. Er hatte noch drei Tage für diesen Fall. Nein, eigentlich war es kein wirklicher Fall. Es war ein Suizid, das würde sicher auch die Autopsie bestätigen und deshalb nicht dahingehend besorgniserregend, dass ein Mörder sein Unwesen trieb. Trotzdem, die merkwürdigen Umstände kratzten an Huberts kriminalistischer Seele; er wollte für sich selbst einen akzeptablen Grund für Moores Freitod finden. Besonders interessant war für ihn der Punkt, dass der Mann sich, laut der Aussage von Haushälterin Martha Keller, nach der Rückkehr aus seinem Urlaub unerklärlich anders verhalten habe. Er zog mit diesen Gedanken im Hinterkopf die Mappe mit den Niederschriften der Zeugenaussagen aus dem Stapel, öffnete sie und suchte die entsprechende Stelle.

      Er hatte das Verhör von Mrs Keller, das er selbst geführt hatte, bereits dreimal gelesen. Und doch weigerte sich sein Magen, das Bild einfach so zu akzeptieren, wie es sich ihm darbot. Das Bild des erdolchten Byron Moore, das in dutzenden Fotografien aus jedem nur erdenklichen Blickwinkel seinen Schreibtisch bedeckte, ließ sich für ihn mit der Tat eines Selbstmörders einfach nicht überein bringen. Wer würde freiwillig eine solch schmerzhafte und mühsame Methode wählen, sich umzubringen? Und was hatte Mrs Keller mit dem unerklärlich seltsamen Verhalten gemeint? Hubert hatte sie mehrfach ersucht, diese Aussage zu präzisieren, doch sie hatte es nicht gekonnt. Und ein weiterer Punkt, der ihm Kopfschmerzen bereitete, war, dass niemand, nicht einmal seine langjährige Haushälterin, wusste, wo er seinen zehntägigen Urlaub verbracht hatte. Er war plötzlich und ohne ein Wort abgereist, mitten in der Nacht.

      Der Inspektor las Zeile für Zeile. Moore hatte nach seiner ebenso plötzlichen Rückkehr das Haus nur ein einziges Mal für eine halbe Stunde verlassen, um zur Bank zu fahren, wie er es auch sonst häufiger getan hatte. Danach war er nicht noch einmal fort gegangen, was Mrs Keller ebenfalls seltsam vorgekommen war. Mit Ausnahme von Mister Calhey, den sie ihm als engen Freund des Toten beschrieben hatte, konnte sie sich an keinen weiteren Besuch in der Villa erinnern. Beim letzten Wort des Textes angekommen, schaute Hubert auf den Aktenstapel und fischte zielstrebig eine weitere Mappe heraus. In ihr hatte sein Assistent die Telefonprotokolle des Moore’schen Anschlusses sowie die seines Handys zusammengestellt. Eine sich über mehrere Seiten erstreckende Liste empfing ihn, nachdem er den Deckel aufgeschlagen hatte. Die detaillierte Aufstellung reichte bis zum Februar zurück. Aber das, was ihn interessierte, musste sich, wenn überhaupt, unmittelbar vor seinem Tod abgespielt haben. Ein Anruf, eine schlimme Nachricht. Das hätte ein Auslöser sein können.

       »Motiv, komm endlich raus.«

      In weiser Voraussicht hatte sein Assistent, penibel wie er war, bereits zu den letzten Telefongesprächen kurze Notizen gemacht: Büro, Anwalt, Büro und so weiter. Martha Keller hatte nur am Rande mitbekommen, dass er mehrfach mit seinem Stellvertreter in seinem Unternehmen Kontakt gehabt hatte, um Anweisungen zu geben und nach dem Rechten zu hören und dass er eine längere Videokonferenz abgehalten hatte.

      Hubert folgte der Liste weiter. Eine der Nummern stammte von Jack Calhey, der Moore zweimal antelefoniert hatte. Zu guter Letzt war da noch, was den Festnetzanschluss betraf, eine unbekannte Nummer. Der Anruf war als unbeantwortet registriert und auch in etwa zu dem Zeitpunkt, den Rainard vorläufig als ungefähre Todeszeit Moores genannt hatte, eingegangen. Wer hatte so spät abends noch versucht, ihn zu erreichen?

      Müde trank Hubert den letzten Schluck Kaffee, der mittlerweile nicht mal mehr lauwarm war. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er heute wohl keine großen Durchbrüche mehr erzielen würde. Erst brauchte er die Gewissheit des Autopsieberichts. Ein Klopfen an seine Bürotür riss ihn aus seinen Gedanken.

      »Ja?«

      Die Tür schwang auf. Es war Steve Highsmith, sein junger Assistent.

      »Sie sind noch da?« fragte Macintosh verwundert.

      »Sir, ich habe hier ein paar Informationen über diesen Mister Calhey.« Er trat vor den Schreibtisch und reichte seinem Chef eine weitere Mappe.

      Dieser sah ihn verdutzt an. »Woher?«

      »Naja, er ist in ein paar sozialen Netzwerken im Internet angemeldet. Da findet man so einiges.«

      »Ja, ja. Die Generation Internet.« Hubert schüttelte den Kopf. »Furchtbar, wie die Leute heutzutage ihre intimsten Details preisgeben. Wann wer wo was macht und mit wem.«

      »Aber wenn sich sogar Personalleiter auf diesen Netzwerken über ihre Bewerber erkundigen, können wir das doch auch tun, oder?«

      Er hatte Recht, trotzdem fand Hubert die Vorstellung des freiwillig gläsernen Menschen beunruhigend und leichtsinnig. Auch wenn es ihrem Job durchaus entgegen kam.

      »Okay, Zusammenfassung« brummte er müde und lies die Akte unbeachtet auf den Stapel fallen.

      »Ja also, ähm…« begann Highsmith, der darauf eigentlich nicht vorbereitet war. Zwar hatte er die Daten recherchiert, aber sie sich nicht bis ins Detail gemerkt. Mit einer geschickten Bewegung zog er die Mappe vor Macintoshs Nase wieder an sich und klappte sie auf.

      »Jackson Alexis Calhey, 37 Jahre alt. Geboren in Harwich, Essex. Eltern Elena und George…«

      »Keine Schöpfungsgeschichte, Steve!«, unterbrach ihn Hubert ungeduldig. Highsmith war ihm manchmal doch etwas zu genau.

      »Sorry, Chef.« Der junge Beamte wurde von einer Sekunde auf die andere knallrot im Gesicht, was typisch für ihn war. »Also, er ist Reporter und Redaktionsmitglied bei einer kleinen Tageszeitung in Loughton, dem Loughton Courier. Keine Vorstrafen laut Register.«

      »Den letzten Punkt haben Sie doch wohl nicht auch aus dem Internet?« fragte Hubert skeptisch.

      Sein Assistent lachte. »Nein, natürlich nicht.«

      Der Inspektor nickte brummend. Es war nur geringfügig mehr, als das, was ihm Mrs Keller über Moores besten Freund hatte sagen können. In einem Gespräch mit Calhey sah Hubert aber zumindest einen kleinen Hoffnungsschimmer, seine Suche nach dem Freitodmotiv voran zu bringen. Immerhin war er, laut der Haushälterin, der letzte, der mit Moore von Angesicht zu Angesicht gesprochen hatte. Vielleicht war ja das Treffen von Moore und Calhey der Auslöser für Moores Suizid gewesen? Und wenn nicht, dann wusste dieser Jack Calhey vielleicht wenigstens, wo Moore seinen Urlaub verbracht hatte.

      »Danke, Steve. Gute Arbeit.«

      »Vielen Dank, Sir.«

      »Nächstes Mal aber ohne Hilfsmittel«, fügte Hubert ironisch-trocken hinzu und streckte die Hand aus.

      Highsmith zögerte kurz, verstand dann aber und gab seinem Chef die Akte Calhey zurück. Dann verließ er den Raum und Hubert war wieder mit seinen Gedanken allein. Er betrachtete eine Zeitlang nur den braunen Mappendeckel vor sich. Eine enge Männerfreundschaft war sicher eine gute Basis, um durch irgendwelche Zerwürfnisse einen emotionalen Kollaps heraufzubeschwören. Zu dieser Erkenntnis bedurfte Hubert nicht mal eines Psychologen, er hatte es selbst einmal erlebt, wenn auch nicht mit so fatalen Folgen. Noch während er seinen Gedanken nachhing, merke er, wie ihm die Augenlider schwer wurden. Schwerfällig rappelte er sich auf, um sich auf den Heimweg zu machen. Calhey würde er erst morgen einen Besuch abstatten.

       Derselbe Tag

      13.22 Uhr

      Kowalsky schnippte mit den Fingern.

      »Ach, fast hätt‘ ich’s vergessen Jack. Als du vorhin bei Butterworth warst, hat eine ältere Dame für dich angerufen. Hier ist die Nummer.« Er hielt Jack, der fast hypnotisch auf den Monitor seines Notebooks konzentriert war, einen kleinen Zettel hin. »Sorry, hab’s verschwitzt. Jack?«

      Er sah nicht auf.

      »Jack?«

      Jack las die Zeilen der E-Mail aus der Londoner Redaktion mit dem Betreff ›Eilmeldung für die morgige Ausgabe‹ ein weiteres Mal und die Kehle schnürte sich ihm zusammen. Er konnte nicht glauben, was da stand:

       Erfolgreicher Unternehmer Byron Moore

       begeht Selbstmord.

      Ein